LEBEN
Gestern. Heute. Morgen.
Mir reicht's
»Es ist genug für mich.« Wer das über sich selbst sagen kann, trifft eine bemerkenswerte Entscheidung. So, wie es gerade ist im Leben, gibt es keinen Grund zur Klage, keinen Grund zur Veränderung. Diese Bescheidenheit ist nicht selbstverständlich. Der Mensch ist nicht genügsam. »Mehr« und »Besser« sind zwei hartnäckige Gegenspieler des »Genug»«. Mehr Geld, mehr Karriere, mehr Macht, mehr Einfluss, mehr Ansehen, mehr Wohlstand, mehr Spaß, mehr Umsatz, mehr Gewinn. Ein besseres Leben, ein besseres Haus, eine bessere Beziehung, ein besseres Aussehen, ein besserer Job. Es gibt genug, wovon man ruhig noch mehr haben könnte.
Insbesondere die Wirtschaft hält nichts von »Genug« und nutzt einen weiteren Gegenspieler, der sich niemals abnutzt: »Neu«. Der Reiz des Neuen ist nahezu unwiderstehlich. Und die Werbebranche weiß genau, wie sie uns immer wieder locken kann. Der nüchterne Einwand lautet: Wofür braucht es neue Kleidung, den neuen Fernseher und das neue Auto, wenn das Vorhandene seinen Dienst noch treu erfüllt? Der Drang nach dem Neuen treibt den Menschen um. Witzigerweise hat sich die Wirtschaft sogar auf einen genügsameren Anspruch eingestellt und produziert viele Dinge unter dem Anspruch »Good Enough«. Hier vereinen sich »Mehr«, »Neu« und »Besser« mit einer gewissen Bescheidenheit. Der Drang von Mensch und Wirtschaft kommt auch auf niedrigerem Niveau zusammen.
Damit ist nicht gesagt, dass der Wunsch nach »Mehr«, »Neu« und »Besser« grundsätzlich schlecht ist. Unter anderem in prekären Lebenssituationen ist er angemessen und nachvollziehbar. Überdies trägt er dazu bei, Wirtschaft und Wohlstand aufrechtzuerhalten. Wir brauchen auch gar nicht erst versuchen, diese menschliche Eigenschaft zu leugnen oder auszumerzen. Es wird nicht gelingen. Vielleicht ist es aber hilfreich, sich bei Gelegenheit der Frage zu stellen: »Ist es nicht genug für mich?« Das könnte dazu helfen, den eigenen Geldbeutel, die eigene Psyche und die eigenen Beziehungen nicht zu überlasten. Und es könnte zu mehr Nachhaltigkeit im eigenen Leben führen.
Eindruck von Freiheit
Selbstbestimmtes Leben? Wir hatten keine Wahl beim Zeitalter. Wir haben uns unser Geburtsland einschließlich Gesellschaftsform nicht ausgesucht. Wir konnten die soziale Schicht nicht wählen. Wir hatten keinen Einfluss auf Eltern, Geschwister und Verwandte. Wir durften unseren Namen nicht bestimmen. Zugeteilt wurde uns auch ein Maß an Schönheit, Verstand und Gesundheit. Über gesellschaftliche und private Prägungen sind wir nicht erhaben. Vieles ist von Anfang an festgelegt und lässt sich nicht abschütteln. Unsere Einflussmöglichkeiten sind begrenzt.
In unserer Nische der Weltgeschichte und in unseren Breiten haben wir unglaublich großes Glück und tatsächlich viele Chancen auf Veränderung und Entwicklung. Man muss nicht allzu weit reisen, um in Regionen zu landen, in denen die persönlichen Freiheiten sehr viel geringer sind. Und doch ist auch hierzulande ein selbstbestimmtes Leben immer nur in Maßen möglich. Die allermeisten verharren Zeit ihres Lebens in der Abhängigkeit von gesellschaftlichen, monetären und auch privaten Strukturen. Nicht alles ist machbar, wir sind immer auch Teil eines Ganzen, das uns begrenzt.
Selbstbestimmtes Leben ist in dem Radius möglich, den uns die länger oder kürzer gespannten Fesseln lassen. Und wenn wir die Fesseln ausblenden oder akzeptieren, entsteht ein Eindruck von Freiheit.
Heute. Morgen. Für immer.
Uns Menschen geht es besser, wenn wir eine Perspektive haben, die unser Leben trägt und uns ein behagliches Gefühl der Gewissheit und der Zuversicht gibt. Die Freude auf die Arbeit oder ein Hobby, die Freude auf ein baldiges Wiedersehen, die Freude über den anhaltenden Rückhalt von Familie und Freunden und natürlich vieles mehr tragen dazu bei, dass wir das eigene Leben als gut empfinden.
Wie wichtig Perspektive für das Individuum ist, hat der sowjetische Pädagoge Anton Semjonovic Makarenko herausgearbeitet. Nach Ende des Ersten Weltkriegs arbeitete er mit verwahrlosten Kindern und Kriegswaisen, die er in Kommunen zusammenführte und zu Sowjetmenschen erzog.
Makarenko erkannte, dass seine Schützlinge Perspektiven suchten, und er fand heraus, dass der Mensch drei Perspektiven braucht. Um das Leben zu stabilisieren und die Einzelnen zu Stützen der Gesellschaft zu entwickeln, bedurfte es einer kurzfristigen Perspektive, einer mittelfristigen Perspektive und einer langfristigen Perspektive.
Die kurzfristige Perspektive bestand beispielsweise in der Freude auf den kommenden Tag, eine warme Mahlzeit, die Gemeinschaft mit anderen und eine als sinnvoll erachtete Tätigkeit. Die mittelfristige Perspektive bestand z. B. in der Vorfreude auf ein großes Fest oder die Fertigstellung eines Bauvorhabens. Die langfristige Perspektive sah Makarenko im jeweils eigenen Beitrag zur Errichtung der Sowjetunion, in der es jeder nachfolgenden Generation besser ginge als der jetzigen.
Makarenko erkannte auch, dass die kurzfristige Perspektive die zerbrechlichste war, weil sie immer wieder neu verfügbar gemacht werden musste. Je langfristiger jedoch eine Perspektive war, desto tragfähiger war sie, weil sie über die kurzen Zeitabschnitte hinauswies, weil sie widerstandsfähiger gegenüber Leid im Hier und Heute machte und weil sie sinnstiftender war. Voraussetzung dafür war allerdings, dass die langfristige Perspektive tief im Innern der Einzelnen verwurzelt werden konnte.
Auch wenn man Makarenkos politisch-ideologisch motivierte Perspektiven in der Sache nicht teilen mag, so kann das Modell der drei Perspektiven dennoch hilfreich sein. Religion funktioniert nach einem vergleichbaren Muster. Der christliche Glaube ist nach diesen Perspektiven geformt. Sogar die eigene Lebens- oder Karriereplanung kann diesem Vorbild folgen.
Damit stellt sich die Frage, welche Perspektiven der westliche Mensch in der postreligiösen Epoche hat. Die langfristige Perspektive des Erwachsenwerdens, der Gründung einer Familie, des Erwerbs einer Immobilie und des beruflichen Erfolgs mag sich als mittelfristige Perspektive entpuppen, auf die eine Midlife Crisis folgt sowie die Rückkehr zu kurzfristigeren Perspektiven. Und eine zunehmende Anzahl von Menschen muss sich bei fortschreitendem Alter mit den verbliebenen Perspektiven auseinandersetzen.
Vielleicht fehlt es uns an Perspektivgebern im privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld. Vielleicht haben deshalb Demagogen und Fanatiker wieder mehr Zulauf. Vielleicht sind andere aber auch zu misstrauisch den Perspektivgebern gegenüber, weil sie wissen, wie trügerisch Perspektiven sein können.
Wie auch immer die Gegenwart aussieht, Makarenkos drei Perspektiven sind eine wertvolle Orientierungshilfe, um zu verstehen, wo man selbst gerade steht. Worin bestehen sie, meine eigenen Perspektiven? Kurzfristig, mittelfristig, langfristig?
Sixpack am Sexpack
Woah, wir alle wussten, dass Älterwerden nicht die lustigste Zeit im Leben ist. Dabei sollte sie es sein. Wir haben unsere sozialen Pflichten brav erfüllt, haben tatenlos zugesehen, wie die Kinder groß werden, haben die Rentenkasse für jene gefüllt, die vor uns durch die biologische Abbauphase gegangen sind, und nun könnte die Evolution unser Engagement mit einem erhöhten Spaßfaktor danken. Stattdessen tragen wir ambitionierte Bierbäuche und resignierte Brüste vor uns her oder versuchen, dem Alter verbissen davon zu joggen. Wir wissen endlich, was gut ist, aber haben immer mehr Mühe, Körper und Geist auf ihrer Talfahrt ins Jenseits zu bremsen und zu einem lohnenden Sprint bergauf zu bewegen. Unsere mentalen Räder haben jetzt 24 Gänge und trotzdem schieben wir sie zum nächsten Glücksmoment. Selbst die psychologisch wertvollen E(rtüchtigung)-Bikes gleichen den inneren Rollator nur teilweise aus und führen nicht selten zum unbeholfenen Crash im Graben des Lebens.
Jedoch sollten wir das Ganze nicht unnötig negativ sehen. Es gibt auch gute Nachrichten. Beispielsweise wachsen unsere Ohren unaufhörlich weiter. Je weniger wir mit zunehmendem Alter hören, desto größer werden die Ohren. Eigentlich eine griffige Idee. Doof ist nur, dass der Empfang nachlässt. Selbst zu Zeiten rückläufiger Geisteskraft wuchern zwei Satellitenschüsseln links und rechts unserer Denkfabrik, verfeinern unser faltiges Äußeres und verfehlen ihren Dienst. Es ist eine kleine gehässige Fußnote im Schwarzbuch der Evolution, dass sie uns zwei Bauruinen am greisen Haupt verpasst. Ganz anders bei der Nase. Auch die hört einfach nicht auf zu wachsen, funktioniert aber, und als Bonus rundet sie das Gesamtbild mit einer üppigen Vokuhila ab, die je länger desto unverfrorener aus dem Tunnel drängt. Der Sinn des Ganzen erschließt sich mir zwar nicht, aber wahrscheinlich schiebe ich gerade nur wieder mein Rad den Hang hinauf, im vierundzwanzigsten Gang. Es scheint unausweichlich, dass unsere Mega-Zinken eines Tages mit dem Deckel der Schnabeltasse in Konflikt geraten und die Nasenhaare sich in den Bandnudeln unserer weichgekochten Mittagsmahlzeit verheddern.
Aber, und hier wird das Leben zum Schelm, wie die Nase des Mannes, so sein … Wenn es nur wahr wäre. Dann könnten wir Männer jubeln, weil die Nase sich weiter und weiter wie eine Sonnenuhr im Antlitz ausbreitet, und deutlich lichtempfindlichere Körperregionen es ihr gleich tun und ebenfalls bis ans Ende unserer Tage größer und größer werden. Doch leider, leider ist das Gegenteil der Fall. Mit zunehmendem Alter schrumpft der kleine Schattenmolch. In einer fatalen Abwärtsspirale verzichtet er auf überschüssige Schwellkörper, weil er ohnehin weniger durchblutet und seltener gebraucht wird, und weil er dann aus nachvollziehbaren Pietätsgründen noch seltener gebraucht wird, lässt die Durchblutung weiter nach und er kann auf noch mehr Schwellkörper verzichten. Stattdessen entwickelt er sinnlose Muskelmasse. Ein Sixpack am Sexpack. Liebling, schau mal, ich habe eine gefühlsechte Muckibude. Das macht Eindruck. Nein, so weh es auch tut, die Fakten müssen auf den Tisch, vielleicht reicht auch ein Tischchen. Aus dem Spaß-Organ wird ein Das-wars-Organ.
Bei nächster Gelegenheit werde ich mir den Evolutionator Charles Darwin schnappen und zur Rede stellen. Es ist nicht zu rechtfertigen, dass der Bauch zum Schwellkörper wird, während besser geeignete Stellen an der Schwelle zum Wurmfortsatz stehen, und sich an völlig verfehlten Stellen unnötige Muskeln aufbauen, die am Bizeps einen schlanken Fuß gemacht hätten. Aber ich ahne, was er sagen wird: Wir alle wussten, dass Älterwerden nicht die lustigste Zeit im Leben ist, weil wir unsere sozialen Pflichten erfüllt, den Kindern einen guten Start verpasst und die Rentenkasse für andere gefüllt haben. Ja doch! Mann, gib einfach zu, dass die Evolution nicht zu Ende gedacht ist und sich wie das verkorkste Minimum Viable Product eines Start-Ups anfühlt. Irgendwie bin ich enttäuscht, aber füge mich natürlich in das mir zugedachte Schicksal. Ich kann den Tag kaum erwarten, an dem ich endlich an meinen Ohrläppchen kaue, meine Polypen sich über die stattlich ausgebaute Villa freuen und Johannes die Hanteln schwingt.
frag·lich·t·e·mo·mente
k·am·leben·s·k·lang
et·was·ist·was·bleibt·nicht
kind·s·kopf·gesc·heit·er·keit
er·wach·sen·oder·traum
glück·lich·im·ver·unglück·en
lieb·te·es·dich·toll·wut
kom·muni·ka·tion
ex·ko·itu·meta·s·tase
pech·ha·haar·und·schwefel·strähne
alt·ers·grau·e·f·v·err·l·ecken
sterben·aus·v·arsen
unter·welt·brot·auf·m·strich·en
frag·lich·t·e·mo·mente
l·eben!
eis·kr·ist·alle
keine geschlossene fläche
geschweige denn
tragende decke
kein eis
nur hier und da noch
einzelne kristalle
treibende anker
für sorge
der klimawandel des lebens
schleichend und gründlich
wasser atmen
kein halt
selbstoptimierung
das ich und das leben sind im fluss
der begradigt werden muss
vakuum
das leben hat keinen wert
aber es ist unser einziger
bedeutung
nichts im leben, nichts in dieser welt, nichts im universum ist aus sich von bedeutung. alles unterliegt zeit und raum, materie und instinkt, den gesetzen der natur.
bedeutung wird gegeben, empfangen. bedeutung überwindet das selbst, gibt sich hin. bedeutung beseelt, wer und was ist.
bedeutung fordert, schmerzt. bedeutung wird geliehen, genommen, bleibt einseitig. unterscheiden hindert leid, wer und was, wem etwas bedeutet.
bedeutung ist groß, sie umfängt. vergewisserung ist gut, wem diese welt etwas bedeutet, wissen tut gut, für wen das universum von bedeutung ist.
episode
was bleibt. nichts bei vielen. wenig bei einigen. viel bei einzelnen. der mensch ist episode.
kündigung, trennung, umzug, tod. eher üble nachrede denn wohlwollen. ist man erst einmal weg, zersetzt sich die erinnerung.
und heute. vorzeitig gleichgültigkeit entwickeln. nach dem abgang darf ich egal sein.
selbst
lass dich frei
mach dich reich an dir
mach sie reich an dir
mach uns reich an dir
mach mich reich an dir
du gewinn
sieben
wenn es stimmt
dass wir über sieben brücken gehen
und sieben mal die asche sind
um einmal der helle schein zu sein
dann stimmt etwas nicht
mit dem preisleistungsverhältnis
präzise
wenn hoffnung stirbt
bleibt mensch
er geht zuletzt
heute?
gestern war heute noch
morgen ist heute schon
gestern war heute noch
morgen ist heute schon
...
aufbruch
konturen im nebel
kurskorrektur
segel setzen
sein
immer du selbst
immer teil deiner welt
immer innen und außen
immer wieder dich einlassen
Hyänen
Hamster
Das Telefon klingelte und Bergmann sah auf das Display. Der Vorstand. Mit dem zweiten Klingeln kam schlagartig das mulmige Gefühl. »Bergmann?« Seine Stimme blieb fest.
»Ins Konferenzzimmer.« Keine unnötigen Floskeln. In sieben Jahren kaum ein persönliches Wort, aber im Jahresgespräch die wiederkehrende Anerkennung, wie zufrieden der Vorstand mit Bergmanns Arbeit sei.
»Gleich«, sagte Bergmann.
»Nicht gleich. Sofort!« Reine Funktionalität, hochdosierter Druck.
»Das meine ich ja.« Bergmann legte auf, schnappte sich das Notizbuch und eilte aus dem Büro. Während er dem Vorstandszimmer näher kam, fragte er sich, was schief gegangen war. Er hatte die Sitzung akribisch vorbereitet und mit dem Vorstandsvorsitzenden abgestimmt. Mit ein bisschen Glück kam er glimpflich davon. Im Innersten wusste er aber, dass es nicht so laufen würde.
Er klopfte an die Tür und trat ein.
»Der Bremen-3-Vorgang fehlt in der Sitzungsvorlage.« Der Vorsitzende sah ihn mit starrem Gesichtsausdruck an. Auch die Blicke der anderen Vorstände und Bereichsleiter waren auf ihn geheftet.
Bergmann spürte, dass seine Augen flackerten und ihn dieses völlig hilflose Gefühl übermannte. Ein ertapptes Kind. »Bremen 3 stand nicht auf der Tagesordnung«, entschuldigte er sich.
»So was muss man immer in der Hinterhand haben«, entgegnete der Vorsitzende.
»Geben Sie mir eine Minute, ich organisiere ein Handout.«
»Ich habe die Unterlage zufällig auf dem Stick.« Eine Hand erhob sich über die Köpfe der Männerriege, ein kleines Stück Plastik zwischen Daumen und Zeigefinger.
Czerkowicz, natürlich. Bergmann fing einen blitzschnellen Seitenblick seines Kollegen auf. Sein kleiner Triumph. Wahrscheinlich hatte der verdammte Kerl das Gespräch absichtlich auf Bremen 3 gelenkt, um punkten zu können.
»Gut«, meinte der Vorsitzende. »Bergmann, Sie sind raus. Danke.«
Bergmann schloss die schwere Tür hinter sich und schlich zurück über den Flur. Am Automaten zog er sich einen Kaffee, holte seinen Mantel aus dem Büro und begab sich auf eine Zigarette nach draußen. Der Anspruch auf Perfektion und die Erfahrung, sie nie zu erreichen, waren erdrückend.
Unter dem Abdach stand bereits ein Kollege. Mist, ausgerechnet der Lücke. Bergmann spürte, wie sich seine Lust auf Koffein und Nikotin eintrübte. Lücke war keiner mehr, mit dem man sich unterhalten musste. Er war vor zwei Jahren hart ausgebremst worden, hatte sich in eine psychosomatische Klinik verdrückt und arbeitete seit seiner Rückkehr deutlich weniger, spielte im Aufstiegskampf aber auch keine Rolle mehr.
»Hallo Bergmann.« Lücke nippte am Kaffee und sog an seiner Zigarette.
»Hallo Lücke.« Bergmann zündete sich auch eine an und testete seinen Kaffee. Schon trinkbar, nicht zu heiß.
»Wer hat Ihnen diesmal das Bein gestellt?«
»Woher …« Wieso wusste der Kerl Bescheid? Nach nur fünf Minuten? Der Flurfunk funktionierte beängstigend gut. Immerhin: In Lückes Gesicht war keine Gehässigkeit auszumachen, eher Interesse.
»Czerkowicz oder Westerhoff?«, hakte Lücke nach.
»Czerkowicz.« Bergmann blies den Dampf über seinem Becher sachte weg und nahm den nächsten Schluck.
»Der ist scharf zurzeit«, bestätigte Lücke.
»Und wie läuft’s bei Ihnen?«, fragte Bergmann.
»Ich habe einen autoritären Chef und eine tyrannische Frau.« Lücke zuckte die Schultern. »Wie soll’s mir da gehen?«
Bergmann sah seinen Kollegen befremdet an. Auf keinen Fall wollte er sich mit Lücke auf persönlicher Ebene austauschen.
»Nun gucken Sie nicht so, als würde ich Ihnen etwas völlig Abwegiges kundtun.« Lücke lächelte milde. »Ihnen geht’s doch ähnlich.«
Bergmann spürte, wie das Nikotin ihn übermannte. Eine bleierne Schwere legte sich auf seine Schultern. Er war hart am Limit. Lücke konnte sich sein deprimierendes Resümee sparen.
»Wissen Sie, warum so viele Menschen einen Burnout erleiden?« Gelassen schlürfte Lücke seinen Kaffee.
Bergmann reagierte nicht.
»Weil es nicht aufwärts geht.« Lücke nahm einen tiefen Lungenzug. »Nur für wenige geht es aufwärts. Den meisten aber wird schnell klar, dass sie nicht zu den Auserwählten zählen. Sie wissen, dass es für den Rest ihres Lebens nur darum gehen wird, nicht abzusteigen.«
Bergmann nippte am Kaffee und schwieg.
Lücke hustete. »Bis zur Rente werden wir uns tagtäglich mörderisch abstrampeln, nur um den Status Quo zu erhalten. Wir zahlen die Raten für unser Haus, fahren zweimal im Jahr in Urlaub, bringen unsere Kinder auf dieselbe miese Spur und verrecken eines Tages in irgendeinem personell unterbesetzten Seniorenheim. Oder kippen tot vom Bürostuhl und jeder sagt, dass es am Rauchen lag. Das ist nicht gerade eine lebensfreundliche Perspektive. Wir sind wie die Hamster im Rad.«
Bergmann zog an der Zigarette.
»Gilt auch für gescheiterte Ehen«, ergänzte Lücke. »Burnout der Partnerschaft. Keine Liebe, kein Sex, keine emotionale Perspektive.«
Bergmann war jetzt genervt und sah ihm direkt in die Augen. »Warum tun Sie es sich dann an? Diesen ganzen beschissenen Dreck?«
Lücke drückte seine Zigarette aus und zündete sich noch eine an.
Es klingelte. Bergmann fingerte nach seinem Smartphone und sah auf das Display. Der Vorstand. Plötzlich sackte sein Kreislauf weg. Stehen bleiben, ganz ruhig, einfach nur stehen bleiben. Er nahm das Gespräch an. »Bergmann?« Seine Stimme zitterte.
»Wo stecken Sie denn, Bergmann? Ins Konferenzzimmer.«
Bergmann schob das Telefon ins Jackett, schnipste die Kippe weg und lief zurück ins Gebäude.
»Warum tun Sie sich das an?«, rief Lücke ihm nach.
Bergmann nahm den Aufzug, schmiss den Mantel in sein Büro und den halbleeren Kaffeebecher in einen Papierkorb am Kopierer. Warum tun Sie sich das an? Die Frage hallte in seinem Kopf, während er zum Vorstandszimmer hetzte. Warum tun Sie sich das an? Ja, warum? Vor der Tür blieb Bergmann stehen und atmete durch.
Bietet denn irgendwer eine Alternative? Eine wirkliche Alternative und nicht nur so ein ökogesülztes Aussteigerblabla mit veganen Werkverträgen aus freiberuflicher Magerkost? Gibt es irgendwo einen garantiert heilbringenden Masterplan für ein wohlstandsgetriebenes Leben?
Bergmann öffnete die Tür zum Vorstandszimmer und fand die hohen Herren in muntere Konversation vertieft.
»Kommen Sie rein, Bergmann, nehmen Sie Platz.« Der Vorsitzende war sichtlich guter Laune. »Kaffee?«
»Danke, gerne.« Bergmann setzte sich.
»Wir sind ein gutes Stück voran gekommen«, meinte der Vorsitzende. »Ihre Ausarbeitung zu Bremen 3 war eine geeignete Entscheidungshilfe. Zum Glück hatte Czerkowicz sie griffbereit.«
Bergmann fing ein säuerliches Lächeln seitens des Kollegen auf.
»Gute Arbeit, Bergmann.« Der Vorsitzende zeigte sein wohlwollendes Lächeln und schob ihm einen prall gefüllten Ordner zu. »Morgen früh um acht brauche ich dann eine Vertragsvorlage für unsere Juristen.«
Bergmann nickte. Er klemmte sich den Ordner unter den Arm, ließ den Kaffee stehen und machte sich auf den Weg ins Büro. Das drohende Gewitter war einem vereinzelten Sonnenstrahl gewichen. Motivation genug für einen langen, innigen Abend mit Bremen 3.
Warum tue ich mir das an?
Das Hamsterrad dreht sich weiter. Wer bei dem Tempo aussteigt, landet auf der Nase. Ich habe keine Wahl.
Lemminge
Der Schreck saß tief. Früher oder später hatte so etwas ja passieren müssen. Vielleicht war es eine Zäsur. Nicht nur für ihn. Für das ganze Unternehmen. Wenn es denn überhaupt etwas Sinnvolles gab, das daraus entstand.
Bergmann riss die Tür auf und trat nach draußen. Noch immer regnete es in Strömen. Zum Glück waren es nur wenige Schritte. Er marschierte los. Der Kaffee schwappte über den Rand des Bechers und der Regen füllte ihn wieder auf. Ein Schirm wäre hilfreich gewesen.
Gleichzeitig musste er sich der Situation stellen. Jetzt. Womöglich gab es kurzfristig eine Entscheidung zu treffen. Die freie Stelle. Seine Chance zum Aufstieg. Bergmann konnte es schon spüren. Noch mehr Stress, noch mehr Verantwortung, aber auch mehr Geld und Ansehen. Wie viel konnte er tragen und wann war besser Schluss für ihn?
Die Schultern hochgezogen erkannte Bergmann über den Brillenrand hinweg, dass Kollege Lücke unter dem Abdach stand und rauchte. War klar. Nicht mal zehn Minuten hatte man hier Ruhe.
Und noch jemand stand dort. Bergmann kniff die Augen zusammen und erkannte Czerkowicz, ebenfalls in Rauch gehüllt. Seit wann ...? Hatte die Nachricht sogar diesen geölten Karrieremasturbanden getroffen? Dann wurde ihm bewusst, dass auch Czerkowicz sich für die Stelle interessieren könnte. Für ihn wäre sie kein Aufstieg, aber eine willkommene Abwechslung und ein Ausgangspunkt für weitere Karrierestufen.
Bergmann rettete sich ins Trockene und fegte die Wasserperlen vom Jackett. Für Regenbeulen war der Anzug einfach zu teuer gewesen.
»Eigentlich stehe ich ja nicht so auf materialermüdete Brüste«, sagte Lücke und wandte den Kopf. »Ach. Hallo Bergmann.«
»Hallo Lücke. Czerkowicz ...« Bergmann deutete ein Nicken an.
Czerkowicz erwiderte das Nicken und schwieg.
»Wir sprechen gerade über ...« Lücke warf Bergmann einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Natürlich«, antwortete Bergmann. Frauen. Unmerklich schüttelte er den Kopf und nahm den ersten Schluck Kaffee.
»Aber sie hatte natürlich viel erotische Nutzfläche.« Lücke zwinkerte Czerkowicz zu.
Bergmann verzog die Lippen. Er zündete sich eine Zigarette an und zog tief durch. Lücke war ein kaputter Typ. Vor seinem Absturz hatte der Kerl selbst einen derart kalorienkathedralen Wanst gehabt, dass sein Schwanz in der Sonne ein einsames Schattendasein führte. Seither war er ausgemergelt und bestimmt kein Aufreißer.
»Und Frauen in ihrem Alter wollen es unbedingt, weil sie denken, es könnte das letzte Mal sein.« Lücke schnipste die Asche weg. »Da wäre ich ja gerne noch zum Zug gekommen. Aber leider ...«
Schlagartig wurde Bergmann bewusst, um wen es ging. »Sagt mal, spinnt Ihr?« Sein Puls ging durch die Decke. »Sie ist noch nicht mal vierundzwanzig Stunden tot und Ihr redet über sie, als wäre sie Freiwild gewesen?«
Czerkowicz nahm einen Zug und hielt den Atem an.
Lücke zuckte die Schultern. »Reg dich ab, Bergmann. Ihr tut’s nicht mehr weh. Aber uns entgeht was.«
Bergmann machte eine ungehaltene Bewegung und wieder schwappte der Kaffee aus dem Becher. »Ach Scheiße.«
Für einen Augenblick schwiegen sie und zogen an ihren Zigaretten.
Bergmann räusperte sich. »Was ist eigentlich passiert? Weiß das schon jemand?«
»Angeblich mit Vollgas gegen einen Baum«, sagte Lücke. »Mehr Alkohol als Blut im Körper. Dafür kein Sicherheitsgurt. ‘n Freund von mir ist Chirurg in der Ambulanz. Sagte, es hätte ausgesehen, als wäre ein Panzer drüber gefahren.«
Czerkowicz trat seinen Stummel aus und zündete sich die nächste Zigarette an. Lücke ließ die Kippe fallen und nahm auch noch eine. Der Regen pladderte vor sich hin. Autos zogen einen Nebel aus Gischt hinter sich her.
»Oh Mann.« Bergmann seufzte. »Sie war so ein netter Mensch. Freundlich. Gut gelaunt. Ich glaube, alle mochten sie irgendwie. Wisst Ihr noch, wie sie den Bremen-3-Auftrag an Land gezogen hat? Sie hatte es drauf und saß so fest im Sattel. Ich hätte das nie von ihr gedacht.«
»Ts«, machte Lücke. »Man muss sich ja nicht gleich umbringen. Sie hätte nur mal etwas sagen müssen.«
»Was denn?« Czerkowicz‘ Stimme war leise und rau.
Bergmann verkniff sich eine voreilige Antwort.
»Was soll man in ihrer Situation sagen?«, fragte Czerkowicz. »In einem Unternehmen wie diesem? In einer Gesellschaft wie dieser?« Er sah erst Lücke, dann Bergmann an. »Mir geht’s nicht gut? Mir wächst der Job über den Kopf und mein Privatleben ist auch am Ende?«
Bergmann spürte seine Eingeweide. »Klar, das geht nicht, nicht hier. Du kommst sofort auf die Streichliste, wenn du Schwäche zeigst.«
»Und hinterher sind alle entsetzt.« Czerkowicz sah hilflos aus. »Tun so, als gäbe es unter Kollegen Raum für persönliche Befindlichkeiten, als hätte jeder Verständnis für ihre Sorgen aufgebracht, wenn sie nur etwas gesagt hätte. Aber Ihr wisst selbst, wie das läuft. Ist die Seele angeschlagen, will niemand mit dir zu tun haben. Deshalb schweigen Menschen wie sie und deshalb wird es wieder passieren. Es gibt keinen Ausweg aus solch einer Falle.«
Bergmann sah ihn verwundert an. Czerkowicz hatte nur seine Karriere im Blick. Menschliche Regungen traute er ihm nicht zu.
»Trotzdem.« Lücke blieb stur. »Dann sucht man Hilfe bei Freunden, in der Familie, geht zum Arzt. Oder lässt sich vögeln.«
Czerkowicz atmete tief durch. Es klang gereizt. »Als wenn all das immer verfügbar, hilfreich und ausreichend wäre. Glaubt Ihr wirklich, dass wir die Hoheit über unser Leben haben? Dass es einem nie entgleiten kann?«
Bergmann fixierte Czerkowicz. »Wieso nimmst du das ...?«
»Ich hatte was mit ihr.«
Bergmann starrte ihn an.
»Was?« Lücke war perplex. »Du hast es mit meiner Chefin getrieben?«
»Ist schon länger her. Es ging ihr nicht gut und es war nicht leicht mit ihr. Ich weiß also, wovon ich rede.«
»Erzähl!«
»Mensch, Lücke, jetzt ist aber gut.« Bergmann wandte sich an Czerkowicz: »Wie kommst du damit klar?«
»Lücke ist mir völlig egal, soll er reden.«
»Autsch.« Doch Lücke war nicht verletzt.
»Heute sind alle geschockt«, meinte Czerkowicz. »Sie nehmen Anteil und wissen genau, dass es ihnen lästig gewesen wäre, solange sie noch da war. Wer hätte freiwillig Rücksicht auf eine verstörte Kollegin genommen? Der Vorstand etwa? Oder du, Lücke?«
Lücke setzte zu einer Antwort an, doch Czerkowicz ließ ihn nicht.
»Bereits morgen, spätestens übermorgen wird es heißen, dass sie ja schon ein bisschen merkwürdig war, irgendwie schräg und immer ein wenig abseits. Dann beginnt der Zersetzungsprozess. Mitgefühl hat eine kurze Halbwertzeit.« Czerkowicz zog an der Zigarette und atmete geräuschvoll aus. »Jetzt schaut mich nicht so an. Ich habe sie nicht geliebt. Es tut mir nur leid um sie.«
Bergmann stellte fest, dass seine Zigarette ausgegangen war, und zündete sich eine neue an. Der Kaffee war nurmehr lauwarm, er setzte den Becher am Boden ab.
»Was soll’s. Irgendwie stehen wir alle am Abgrund und werden gefickt.« Lücke blieb bissig. »Nur leider von hinten. Wir stehen mit dem Rücken zur Klippe. Sobald wir anfangen, uns zurückzuziehen, kann es ein Schritt zu viel sein.«
»Für die meisten geht es zum Glück gut«, konterte Bergmann.
Czerkowicz sah ihn spöttisch an.
Bergmann war verwirrt. Er spürte selbst, wie nah er an die Klippe gedrängt wurde. Sogar Czerkowicz hatte den Abgrund gesehen, auch wenn es nicht sein eigener war.
»So, Ihr Lemminge«, sagte Lücke. »Ich gehe wieder rein. Da wartet noch Arbeit auf mich.« Lücke schlug den Kragen hoch und zuckelte zurück ins Gebäude.
Czerkowicz nickte Bergmann zu. »Du kannst ihren Job haben. Kein Interesse.« Dann schloss er sich Lücke an.
Bergmann blieb zurück. Ein Mann zerrte einen Hund hinter sich her, ein Kind plärrte, irgendwo war ein Krankenwagen zu hören.
Hatte es nichts zu bedeuten? War nur wichtig, dass man die Sonnenseite erwischte? Am Ende kam niemand lebend hier raus. Aber vielleicht fröhlicher.
Das Handy summte. Bergmann sah auf das Display und sein Bauch schmerzte. Der Vorstand. »Bergmann?« Seine Stimme blieb fest.
»Wo sind Sie, Bergmann? Sie verpassen unser Meeting.« Der Vorsitzende klang verärgert. »Der Vertrag wartet. Wir sind nicht zum Spaß hier.«
Frösche
»Nein, danke. Ich weiß, wie man hier ‘rauskommt.«
Bergmann verstand den doppelten Sinn ihrer Aussage, blieb stehen und sah seiner Kollegin nach. Ihr hektischer Gang verriet, wie verletzt und aufgebracht sie war. Mit Recht. Für einen Augenblick bekam er Angst, sie könne etwas Unüberlegtes tun. Er hatte keine Lust darauf, am Abend einen langen Kratzer an seinem Wagen zu entdecken. Doch dann sah er ihren kugelrunden Bauch und beruhigte sich.
»Sie ist schwanger.« Zwei Tage zuvor hatte er in der Chefetage gesessen.
Die Aussage perlte am Vorstand ab. »Bergmann, unser Unternehmen hat nach wie vor eine kritische Größe. Es ist unabdingbar, dass wir eine schlanke, schlagkräftige Truppe bleiben. Da brauchen wir Vollzeitkräfte mit vollem Einsatz für unser Wachstum und keine halbtagstätigen Mütter, die mit einem Ohr bei den Kindern zuhause sind.«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, wandte Bergmann ein und spürte seinen inneren Widerstand. »Doch als Schwangere genießt sie einen besonders hohen Kündigungsschutz.«
»Regeln Sie das.«
Czerkowicz begleitete ihn zu dem Gespräch am späten Nachmittag.
»Ich mach das«, sagte Bergmann. »Sie können sich ja im weiteren Verlauf einschalten, falls es zu juristischen Fragen kommt.«
Czerkowicz nickte.
Dann saß sie da, seine Mitarbeiterin. Er hatte sie selbst eingestellt und ihre Arbeit geschätzt. Sie war sichtlich verwundert, dass Czerkowicz ebenfalls am Tisch saß, und rutschte unruhig im Sessel hin und her. Bergmann ertappte sich dabei, dass er mit höflichem Geschwafel über ihre Schwangerschaft, ihren Mann und den Kauf einer Eigentumswohnung begann. Doch dann ließ sich der Augenblick der Wahrheit nicht mehr herauszögern, ohne dass Czerkowicz ihn spöttisch angesehen hätte.
Das zurückliegende Wochenende war furchtbar gewesen. Bergmann hatte versucht, sich auf das Gespräch vorzubereiten. Einige Formulierungen hatte er sich zwar zurechtgelegt, doch seine Seele signalisierte, dass er in keiner Weise bereit war. Er hasste sich für das, was er tun musste. Ihm war, als verkaufte er seine Seele dem Vorstand, der ihn starr angesehen hatte wie die Schlange den Frosch.
»Also. Worüber wir eigentlich mit dir sprechen wollten …« Bergmann war überrascht, wie fest seine Stimme klang.
Seine Kollegin legte den Kopf leicht zur Seite und zeigte ein gewinnendes Lächeln. Nur ihre Finger spielten nervös weiter.
»Du weißt ja, dass wir zwei Jahre hinter uns haben, in denen wir unsere Ziele nur teilweise erreicht haben. Wenn uns der Durchbruch in China nicht gelingt, werden wir längerfristig auf der Stelle treten.«
Sie nickte.
»Um zu gewährleisten, dass unser Unternehmen auf jeden Fall profitabel bleibt, müssen wir in jeder Hinsicht unsere Strukturkosten im Griff behalten.«
Ihr Blick ging ins Leere, als versuchte sie, auf die Schnelle alle weiteren Schlüsse vorauszudenken.
Jetzt.
»Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschlossen, das Arbeitsverhältnis mit dir zu beenden.«
Das Lächeln blieb. Schwebezustand.
Bergmann hatte es getan, er hatte es tatsächlich gesagt. Ihn durchlief es eiskalt. Das war also der Moment, in dem auch er zur Schlange mutierte und seinen ersten Frosch verschlang.
Dann sank sie in sich zusammen. »Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.«
»Es tut mir leid.« Bergmann meinte es aufrichtig und dennoch war jede weitere Aussage von ihm nun blanke Heuchelei.
Ihr Mund verzog sich. »Einfach so?«
Bergmann sah ihr in die Augen und schwieg.
»Und es gibt keine andere Möglichkeit?« Für ein paar Sekunden kämpfte sie mit den Tränen, behielt sich aber unter Kontrolle.
»Das Unternehmen hat sich für diesen Weg entschieden.« Bergmann hielt den Blickkontakt.
»Ich meine, ich gehe sowieso bald in Mutterschutz und Elternzeit und komme danach nur in Teilzeit wieder.«
Bergmann nickte. »Wir haben diese Kriterien berücksichtigt.«
»Das wirft unsere ganze Finanzplanung über den Haufen.« Sie blinzelte.
Bergmann biss sich auf die Lippe, andernfalls hätte er nur wieder »Tut mir leid« gesagt.
»Warum ich? Warum nicht ein anderer aus dem Team?«
»Wir brauchen auch weiterhin Leute, die hier jeden Tag Vollgas geben.«
Sie versteifte sich. »Das ist ein bisschen frech, findest du nicht?«
Im Augenwinkel sah Bergmann, dass Czerkowicz sich im Sessel aufrichtete und mit einer unschönen Auseinandersetzung rechnete.
Sie beugte sich vor. »Du hast aber schon im Blick, dass ich schwanger bin und Ihr mir nicht einfach so kündigen dürft?«
»Wir finden eine Lösung.«
»Eine andere Lösung als Kündigung.«
»Es tut mir leid. Ich habe da keinen Verhandlungsspielraum.«
An diesem Punkt schaltete sich Czerkowicz ein und für Bergmann versank die kommende Viertelstunde im Nebel.
Und jetzt eilte sie mit übergroßen Schritten dem Ausgang zu. Bergmann mochte sie und sie hätte ihren Weg im Unternehmen gemacht. Dummerweise war sie zum falschen Zeitpunkt schwanger geworden. Manchmal fragte er sich, warum Frauen um jeden Preis berufstätig sein wollten und wie die Rolle als Hausfrau und Mutter derart in Verruf geraten konnte. War das hier wirklich besser?
Eine Bürotür öffnete sich. Kollege Lücke eilte mit der Zigarette im Mund auf den Ausgang zu, durch den die Kollegin gerade verschwand.
»Na, Bergmann, wirklich großer Wurf!«, rief Lücke quer durchs Foyer. »Du bist Gesprächsthema Nr. 1. Hast es dir mit allen jungen Frauen verdorben. Gratuliere!«
Bergmann atmete tief durch und beachtete ihn nicht. Czerkowicz würde jetzt dafür sorgen, dass seine Mitarbeiterin keinen unnötigen Lärm schlug und der Betriebsrat die Füße stillhielt. Wir sind eine große Familie und regeln auch solche Angelegenheiten unaufgeregt auf unsere Weise. Der Frosch wurde bereits verdaut und für den Augenblick war die Schlange satt.
Hasen
Fünfzehn Uhr. In einer Stunde wollte Bergmann den PC ausschalten und nach Hause fahren. Die Kernarbeitszeit von acht bis sechzehn Uhr gab den Rahmen vor, für wie lange er sich heute mit unterschwelliger Vorfreude in die Arbeit stürzte und ab wann er endlich den Abend einläuten konnte. Seine Frau und er hatten Karten für ein besonderes Konzert und da sollte alles möglichst perfekt sein und ohne Hektik laufen.
Bergmann wandte sich dem Bremen-3-Vorgang zu, der nur zäh vorankam und allmählich nervte. Immerhin würde die Feasibility Study bis morgen Mittag vorliegen, er selbst war mit seinem Part gut vorangekommen und konnte den Rest morgen Vormittag erledigen, bevor ab zwölf Uhr die letzte Abstimmung erfolgte und das Gesamtpaket an den Vorstand ging.
Eine E-Mail ploppte auf. Betreff »Bremen 3«. Absender Czerkowicz. Bergmann verdrehte die Augen und öffnete sie.
»Hallo zusammen, dringende Änderung im Ablauf: Die Unterlagen für Bremen 3 müssen heute schon fertig gestellt und dem Vorstand übergeben werden. Wir treffen uns um 18:00 Uhr im großen Sitzungssaal. Es wird also wieder mal später.«
Bergmann starrte auf die Nachricht, klickte auf »Antworten« und schrieb: »Hallo Czerkowicz, ist nicht dein Ernst. Muss um 4h weg.«
Drei Minuten später kam die nächste Mail, wieder an den großen Verteiler: »Sorry Leute, es geht nicht anders. Anscheinend droht Ärger mit dem Umweltschutz und der Vorstand trifft morgen früh den Bürgermeister. Da müssen wir zeigen, dass wir an alles gedacht haben.«
Bergmann verstand. Nicht nur er, sondern auch weitere Kolleginnen und Kollegen hatten sich beschwert. Wahrscheinlich brauchte der eine oder die andere noch dringend Zeit und hatte den Abend bereits eingeplant. Jetzt machte sich Panik in den Köpfen breit.
Bergmann schüttelte den Kopf. Seine Frau würde ihm den Kopf abreißen, wenn er das Konzert ausfallen ließ. Beide freuten sich seit Tagen auf diesen Abend.
Kurz darauf kam die nächste Nachricht an alle. »Es reicht, Leute. Der neue Terminplan für heute und morgen früh ist fix. Wir müssen jetzt zeigen, dass wir dieses Projekt wirklich wollen und können. Gebt Gas, dann sind wir um 20:00 Uhr durch.«
Bergmann sah auf die Uhr. Fünfzehn Uhr dreißig. Zweieinhalb Stunden bis zur Abgabe und zur Konferenz. Das war machbar, wenn er sich jetzt richtig ranhielt und sich nicht mit den Details der Nebenschauplätze aufhielt. Danach zwei Stunden Meeting mit dem Vorstand, bei dem allerdings nichts schief gehen durfte, sonst saß er im Anschluss noch stundenlang an Nacharbeiten.
Doch die Luft war raus, komplett. Gleich als erstes musste er seine Frau anrufen und absagen. Ihm graute vor dem Gespräch. Einmal mehr war es sein Job, der einen gemeinsamen Abend vermasselte und diesmal sogar das Konzert. Bei dem Gedanken begann sein Herz zu pochen. War er bereit, das hinzunehmen? Dass der Job sein Leben diktierte? Dass die Arbeit an seiner Ehe nagte? Dass er im Büro immer bis ans Limit ging?
Ja. Es ging nicht anders. Er hatte einen Vertrag unterschrieben. Sollte er sich jetzt über die Anweisung hinwegsetzen, gäbe es morgen früh ein feines Wiedersehen in der Eingangshalle – der Vorstand auf dem Weg zum Bürgermeister, er selbst mit dem Karton unter dem Arm auf dem Weg zum Jobcenter und Czerkowicz auf dem Weg zu Bergmanns Nachfolger.
Mit klammen Fingern drückte Bergmann die Telefontaste, die ihn direkt mit seiner Frau verband.
»Hallo Schatz, schön, dass du noch anrufst.« Sie klang entspannt. »Wie läuft es denn?«
»Hallo mein Liebling, nicht gut.« Bergmanns Stimme war unsicher.
Ihre Tonlage verdüsterte sich sofort. »Was ist los? Sag nicht, dass etwas dazwischen kommt.«
»Doch.« Bergmann rang nach Worten. »Der Vorstand hat den Terminplan für Bremen 3 abgekürzt. Die Konferenz findet gleich um sechs statt.«
Für Sekunden herrschte Schweigen am anderen Ende. »Das kannst du nicht machen. Das Konzert ist …«
»Ich weiß es doch«, unterbrach er sie. »Meinst du, mir passt das? Ich habe mich mindestens genauso wie du auf den Abend gefreut.«
»Du sagst tatsächlich ab …«, murmelte sie.
»Was soll ich denn machen?« Bergmann war verzweifelt, weil er wusste, dass sie jedes Recht hatte, um verärgert zu sein.
»Ts, lass es einen deiner Jungs machen. Oder die Neue, die könnte mal zeigen, was sie drauf hat.«
»Die haben alle ihren Teil erledigt. Jetzt muss ich noch mal ran.«
»Klar, der Chef ist gefragt. Sehr wichtig. Das alte Spiel: Arbeit vor Liebe.«
»Jetzt komm mir bitte nicht so!«
»Ich bin so froh, dass ich meinen Job nicht für ein Kind auf halbe Tage reduziert habe. Da wären zwei oder irgendwann sogar drei Familienmitglieder ziemlich oft enttäuscht von dir gewesen.«
»Das ist unfair. Du weißt doch gar nicht, wie das ist.«
»Stimmt. Ich arbeite nämlich nicht für solch einen patriarchalischen Haufen, wie Ihr einer seid.«
»Der zahlt aber gut, der Männerhaufen.«
»Das hatte ich tatsächlich vergessen. Arbeit und Geld vor Liebe.«
»Tu nicht so. Du warst doch auch irre stolz, als du Teamleiterin wurdest.«
»Arbeit, Geld und Karriere vor Liebe«, sinnierte sie. »Nein, bei mir nicht. Hier ist man ein bisschen fortschrittlicher und legt Wert darauf, dass Arbeit und Privates im Gleichgewicht bleiben. Kompromisse beim Gehalt nehmen wir in Kauf. Das nennt man Lebensqualität. Auch im Job.«
Bergmann zwang sich zur Ruhe. »Wie wäre es, wenn du schon mal allein vorgehst und ich komme nach?«
»Hat noch nie geklappt.«
»Herrgott! Ich muss mich jetzt wirklich ranhalten, sonst schaffe ich das nicht bis um sechs. Geh doch mit deiner Freundin, die war sowieso neidisch auf die Karten.«
»Okay, mach ich.« Sie legte auf.
Bergmann knallte den Hörer hin.
Die Tür öffnete sich und Lücke sah neugierig um die Ecke. »Ah! Auch hier gibt‘s dicke Luft. Seit Czerkowicz‘ Mail herrscht überall Bombenstimmung.«
»Zisch ab.«
»Wer musste dran glauben?« Lücke warf sich in Denkerpose. »Fußball? Pokern? Kinder? Frau?« Lücke grinste schäbig. »Die Frau mal wieder.«
Bergmann öffnete die Dokumentation am Bildschirm und rief sich zur Ordnung. »Ich hab‘ zu tun, wir seh’n uns.«
»Klare Prioritäten. Der Vorstand darf alles mit dir machen und du denkst, dass du mit deiner Frau auch alles machen kannst. Aber Respekt: Dass du dich heute Abend nach Hause traust, ist nichts für Angsthasen.«
Bergmann sah zu, wie Lücke leise die Tür schloss. Die Symbolik war unverkennbar. Seine Frau würde sich einen schönen Abend mit ihrer Freundin machen und ihn tagelang gleichgültig behandeln. Wie weit hatte sich ihre Tür schon geschlossen? Keine Ahnung, aber für Bremen 3 war es jetzt höchste Zeit.
Sauropoden
Fünf Uhr morgens.
Musik erfüllte den Raum. Mit verzaubernden Klängen löste das Smartphone Bergmann aus dem Tiefschlaf. Gnadenlos wischte seine Hand über das Display und schnippste das teure Teil quer durch den Raum. Er hörte, wie es über die Fliesen schlidderte. Immerhin. Einer war schon mal aufgestanden. Jetzt er. Mühsam schälte Bergmann sich aus der Decke, zerrte seine lahmen Gehhilfen über den Rand der Matratze und streckte sich, bis die Knochen knackten. Irgendwie schaffte er es bis zur Kaffeemaschine. Der Rest ging wie im Schlaf. Als das Gurgeln einsetzte und der betörende Duft durch den Raum zog, suchte er das Handy. Es lag unter dem Sofa. Die Versuchung war groß. Aber er beherrschte sich und warf stattdessen einen Blick auf den Messenger. War klar. Eine Nachricht des jungen Kollegen, einer dieser respektlosen Nachwuchskräfte, die keine Achtung vor dem Alter haben.
»Na? Schon wach?« Gähnend erinnerte Bergmann sich an das gestrige Gespräch. Um diese Tageszeit joggte der Jungspund bereits durch die Wälder. »Anschließend bist du fit für den Tag, egal was kommt«, behauptete er mit missionarischem Eifer. Bergmann nickte. Bergmann schüttelte den Kopf. »Du könntest auch mit dem Rad zur Arbeit kommen.« Bergmann nickte. Bergmann schüttelte den Kopf: »Das ist lieb gemeint, aber ...«
Die Botschaft kam trotzdem an. Bergmann musste mehr Sport treiben. Tat er aber nicht. Und damit passte er nicht mehr in diese Zeit.
Acht Uhr vormittags.
Bergmann saß in seinem Einzelbüro. Alle anderen auf diesem Flur standen an ihren Tischen. Die Rückkehr zu den Vorzügen des 19. Jahrhunderts. Wenn er mal länger als eine Stunde vor dem Bildschirm stand, bekam er Rückenschmerzen und begann mit absonderlichen Verrenkungen, bis er halbwegs auf dem Tisch lag. Ihm war bewusst, dass er hier mit Abstand der Älteste war. Sogar der Vorstand nuckelte noch am Fläschchen, als Bergmann längst zur Schule ging und sich auf eine Karriere in seinem Unternehmen vorbereitete. Bergmanns weiße Haarpracht veranlasste den Vorsitzenden einmal dazu, ihm freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen: »Beizeiten müssen wir auch an eine Nachfolgeregelung für Sie denken.« Bergmann klärte ihn darüber auf, dass die Firma noch weitere zwölf Jahre auf seine geschätzte Gegenwart zählen durfte. Der Vorstand kräuselte die Lippen.
Die Botschaft kam trotzdem an. Bergmann musste etwas an seinem Alter ändern – in die eine oder in die andere Richtung. Ganzkörperlifting, Egoimplantate und Seelenstraffung. Konnte er aber nicht. Und deshalb passte er nicht mehr in diese Zeit.
Acht Uhr fünf vormittags.
Bergmann schoss die Szene durch den Kopf, als er seinen Sohn von der Grundschule abholte. Gemeinsam mit einer Schulkameradin sprang der Lütte aus dem Gebäude und sie sagte: »Schau mal, dein Opa holt dich ab.« Noch verstörender war die Aussage eines Kleinkindes, das im Supermarkt auf ihn zeigte und laut rief: »Oma!« Die Mutter entschuldigte sich und sagte: »Sie hält jeden mit langen Haaren für eine Frau.«
Bergmann sah sich auf dem Flur um. Die Jungs hier waren sämtlich frisch durchrasiert – wahrscheinlich bis zum Schritt – und brauchten eigentlich kein öliges Gel, um ihre Restfrisur gegen die Sturmböen des Erfolgs zu wappnen. Außer Bergmann trug auch niemand einen Bart, dafür aber alle dunkle Anzüge. Bergmann verstand das. Als Pimpf musste man mangelndes Standing durch eine Uniform wettmachen.
Die Botschaft kam trotzdem an. Bergmann musste seinen Style ändern – im Büro geschniegelt, im Privaten lässig. Wollte er aber nicht. Und somit passte er nicht mehr in diese Zeit.
Elf Uhr vormittags.
Czerkowicz schickte eine Mail und bot ihm eine Fortbildung an: »Komplexe Themen einfach kommunizieren«. Bergmann starrte auf den Bildschirm. Was, bitte schön, sollte ihm das sagen? »Lieber Herr Bergmann, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie zu der herausgehobenen Klasse der Belegschaft zählen, denen wir schwer zu verstehende Sachverhalte anvertrauen.« Oder: »Verdammt noch mal, Bergmann, drücken Sie sich klar aus!«
Er hatte schon seit Jahren kein Seminar mehr besucht. Für das lebenslange Lernen sorgte ja die Schule des Lebens. Die jungen Kolleginnen und Kollegen aber waren ständig auf Fortbildung. Klar, die brauchten das noch. Er hingegen hatte in jahrzehntelangen Überdehnungsübungen seine schnelle Auffassungsgabe, eine nach allen Seiten poröse Offenheit für Neues und einen flotten Schritthalteschritt perfektioniert.
Die Botschaft kam trotzdem an. Das unerschöpfliche Potenzial von TikTok, LinkedIn und PowerPoint erforderte ein Upgrade seiner Arbeitsweise, um die nächste #ExpandYourServility-Challenge zu überstehen. Interessierte ihn aber nicht. Und damit passte er nicht mehr in diese Zeit.
Zwölf Uhr mittags.
Bergmann stand in der Schlange am Buffet der Kantine. Die Frauen entschieden sich für einen Salat, die Männer für das vegetarische Menü und die Jungs aus der IT für Currywurst und Pommes. Damit war klar, mit wem er heute die Mittagspause teilen würde. Ihm fiel auf, dass er der Einzige war, der nicht nur ein Tablett, sondern auch einen Bauch vor sich herschob. Nach Abklingen der Schrecksekunde hob er sein greises Haupt und schaute stolz in die Runde. Man musste die Blicke der Menschen vom Makel ablenken.
Die Botschaft kam trotzdem an. Er musste seine Ernährung umstellen. Mochte er aber nicht und sein quasi embryonaler Heißhunger auf Falafel hatte es nie bis zur Zellteilung geschafft. Und deshalb passte er nicht mehr in diese Zeit.
Sechzehn Uhr dreißig nachmittags.
Mit einem Bekannten aus dem Kulturdezernat traf sich Bergmann im Café, um eine Veranstaltung zu besprechen. »Zigarettchen im Auto geraucht?«, fragte sein Gegenüber und Bergmann hielt die Luft an. Nutzte aber nichts. Die Tür öffnete sich und ein junges Pärchen giggelte herein. »Uäh, Rauchercafé.« Und schon waren sie wieder draußen. Die Bedienung schenkte ihm einen vernichtenden Blick. Bergmann nippte an seinem Cappuccino ohne Hafermilch und lächelte. »Sehr lecker.«
Die Botschaft kam trotzdem an. Bergmann musste seine Süchte in den Griff bekommen. Nikotin, Koffein, Sex, Currywurst. Schaffte er aber nicht, wer wollte schon ernsthaft auf Currywurst verzichten. Und darum passte er nicht mehr in diese Zeit.
Zwanzig Uhr abends.
Bergmann und eine alte Freundin trafen sich zum Videochat. Er erzählte ihr von seinem mental herausfordernden Tag.
»Wo immer du kannst, stemmst du dich gegen die Welt«, meinte sie entnervt.
Bergmann murmelte etwas von Individualität.
»Nix da, du bist ein einziger Energiestau, da fließt überhaupt nichts mehr.«
Unwillkürlich blickte Bergmann auf seinen gut isolierten Bauch.
»Du müsstest dringend an dir arbeiten und deine Defizite angehen.«
Bergmann verwies auf seine fortgeschrittene biologische Uhr.
Ließ sie nicht gelten: »Du willst doch nicht den Rest deines Lebens auf der Stelle treten.«
Treten klang gut.
»Menschen, die sich nicht mehr weiterentwickeln, verkümmern und altern schnell.«
Dann war es für ihn ohnehin zu spät.
»Quatsch. Es steckt so viel Potenzial in dir, das freigesetzt werden will.«
Bergmann erinnerte sie an frühere Jahrhunderte, in denen Menschen seines Alters meist schon tot waren. Und er sollte sich weiterhin tagtäglich umkrempeln. Wofür?
»Vielleicht läuft es dann in deiner Ehe endlich besser.«
Na toll, er musste erst ein anderer Mensch werden, um liebenswert zu sein.
»Nein, du sollst du selbst werden.«
Dann fragte sich, wer er heute war.
»Auf halbem Weg stehengeblieben.«
Ah, immerhin. Das Glas war halbvoll.
»Erst wenn du dich selbst liebst, kannst du auch andere lieben.«
Mit Schaudern dachte Bergmann an all jene selbstverliebten DIY-Gurus, die sich und anderen das Leben schwer machten.
Aber die Botschaft kam trotzdem an. Er sollte sich perfektionieren. War ihm aber zu mühsam. Diese Zeit passte einfach nicht zu ihm.
Zwölf Uhr nachts.
Bergmann konnte nicht schlafen. Die Last des Unvollkommenen lag schwer auf seiner Seele. In vergangenen Zeiten ging es darum, irgendwie die eigene Existenz zu sichern, um nicht zu verhungern. Der widerborstige Gegenpart war die ungerechte Welt. In den letzten Jahrzehnten ging es darum, Wohlstand anzuhäufen. Der widerborstige Gegenpart waren die Grenzen der eigenen Möglichkeiten. Und heute ging es um Selbstoptimierung, gekleidet in das eng anliegende Korsett eines bewussten Lebensstils. Die Menschen um ihn herum brauchten offenbar irgendeine Aufgabe, um ihr Dasein mit Sinn zu erfüllen und das hartnäckige Gefühl von Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit zu bekämpfen. Der widerborstige Gegenpart war nun er selbst.
Die Botschaft kam an. Er war ein Dinosaurier, ein tonnenschwerer Sauropode, vom Aussterben bedroht und ohne Artenschutz. Es war ihm aber gleichgültig. Und deshalb passte er nicht mehr in diese Zeit.
Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.
Wasted Years
I was born on the wrong side
Life never unfolds too wide
'cause I was needlessly born
Life stays a fragment and torn
Chances in vain and to mourn
Well, tough luck
It doesn't matter what I do
Tasting tears, tasting tears
Lights just a few
The doom in view
Chased by fears, chased by fears
Tasting tears, tasting tears
Wasting years, wasting years
Life is a purgatory
Life is a dead-end story
I've learned to laugh on my own
Forgotten but yet not gone
Alone
The second row is made for me
The reckoned blow to fade out me
My guidance is a burnt-out star
Wasting years, wasting years
The shore too far
The cliffs bizarre
Chased by fears, chased by fears
Tasted tears, tasted tears
Wasted years, wasted years
Wasted years, wasted years
Alone, all alone, all alone, all alone, alone
Music: Remo Giazotto (Adagio in G minor)
Lyrics: Dirk Röse
Orchestra: Herbert von Karajan & Berliner Philharmoniker
Recorded: French Church St. Moritz, Switzerland, August 1969
Edit: 2024
© 1949, 1969, 2024
Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.
The Day A Pizza Caused My Death
I did not want to live a life / without any grace in my days
I got in the car and drove / to a secret remote place
Carefully I stuck a hose / in the rusty exhaust pipe
Gently pulled the other end / fixed it on the passenger side
I revved up the engine then / assured the windows have been closed
Hoped to fall asleep and die / instead I got a running nose
I got annoyed and to calm down / again I popped a sedative
But nothing took away my breath
The day a pizza caused my death
It dragged on and on and on / so I smoked a cigarette
Then I took another one / at least four or five I bet
Finally, close to suffocation / I rushed out of the smoky car
Heaving, coughing hell out of me / in front of my suicide jar
I realized that life's not joking / I finally gave up my smoking
And grumbling got back in the car / 'cause I had no other token
Still nothing seemed to get ahead / thanks to the exhaust filter
Nothing took away my breath
The day a pizza caused my death
Sadly, I decided to / give my life another chance
Intoxicated back to town / crashed into the parking fence
Went into the supermarket / grabbed butter, yogurt, bread and cheese
Frozen pizza, razor blades / milk, condoms and olives
Toilet paper, after shave / tomatoes, cleaning agent, beer
Queued up patiently and then / flirted with the cute cashier
I got a red head as we talked / and she had a laughing fit
It nearly took away my breath
The day a pizza caused my death
Frustrated I drove out of town / fought against an angry bee
In the middle on a curve / two cars came towards me
One of them was at full speed / and obviously was in my lane
So, I quickly dodged his car / slammed on the brake, insane
Then there was a terrible bang / the airbag opened, moon at noon
And all the stupid stuff I bought / flew across the car saloon
The frozen pizza friendly shaved / off the top of my dull skull
It finally took away my breath
That's how a pizza caused my death
Lyrics & Music: Dirk Röse
Recorded: 2021
© 1982, 2021
Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.
Loss
An angel stands
In front of me and in his hands
He holds a golden glowing shrine
Desirably divine
I find myself down in the dark cellar deep in the night
He says »Do not fear, I got news for you, let there be light«
His fingers quake a bit
Then open the lid
Excited I bend over to find out what it may hide
An angel stands
In front of me and in his hands
He holds a golden glowing shrine
Desirably divine
But all that I see are just letters and mails and some notes
With deep-hearted love, joy and tenderness somebody wrote
»These are good news – good grief!
You never received«
The angel had mercy and kept my loss, a bitter load
Good news is good news only when it succeeds and
Good news is bad news always when it’s off target
Good news is good news right when it becomes real and
Bad news is good news always when it stays off and ...
I've lost tomorrow
I've lost yesterday
I've lost my health
I've lost my shape
I've lost Bowie
I really miss Elvis
I have lost Jesus
I've lost my believe
No more family
And I've lost my children
I've lost confidence
I've lost hope
I forgot about laughing
I've lost myself
I have lost love
I've lost you
Lyrics & Music: Dirk Röse
Recorded: 2020
© 1984, 1996, 2020
Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.
Bootless Life
Men limping out of war
Behind them endless hell
Memory sticks to condensed life
Inaudible the inner yell
A crippled soul, the battle's fees
Splendid vacuity of peace
Oh yes, oh no
People clutch at the system
Overtaken by the doom
Longing clings to the vision
Heaven’s canvas in the room
Someone came and gave you a cosh
Great when meaning becomes bosh
Oh yes, oh no
Completely lost they live into the void
Their bodies cowering there by the roadside foiled
Their souls destroyed are crawling slowly by the dome
They’ll stay out there and they will never return home
Trembling all over hopelessly raising their palms
This is a bootless life they only beg for alms
Bootless life, into the void
Bootless life, into the void
We go into isolation
Invisible the threat
Back shall easiness of life
I’m straitjacketed in my flat
Be calm, stay quiet, make no fuss
Accept the mask between us
Oh yes, oh no
Completely lost we live into the void
Our bodies cowering there by the roadside foiled
Our souls destroyed are crawling slowly by the dome
We stay out there and we will never return home
Trembling all over hopelessly raising our palms
This is a bootless life we only beg for alms
Bootless life, into the void
Bootless life, into the void
One of us is sacrificed
There’s one who knows only herself
Inside a cleft of cohesion
Crystal ball on a cracked thin shelf
Love has been nothing but twee
Unbearable as gewgaw the we
Oh yes, oh no
Completely lost I live into the void
My body cowering there by the roadside foiled
My soul destroyed is crawling slowly by the dome
I’ll stay out there and I will never return home
Trembling all over hopelessly raising my palms
This is a bootless life I only beg for alms
Bootless life, into the void
Bootless life, into the void
Lyrics & Music: Dirk Röse
Recorded: 2020
© 2020
Gerüchte
Es liegt Jahrzehnte zurück. Als Teenager war ich eines Tages mit einem Kumpel unterwegs. Wir hatten uns ein Schlauchboot mit Außenmotor geliehen und fuhren stromaufwärts über einen kleinen Fluss. Das Wetter war herrlich und die Stimmung ausgelassen. Da stießen wir an eine Untiefe. Ich stieg ins Wasser, um das Boot über die Stelle hinweg zu schieben. Es gelang. Doch beim Wiedereinstieg geriet mein Fuß in die Schraube und begann sofort zu bluten. Der Schmerz hielt sich in Grenzen, doch das Ausmaß der Verletzung ließ sich nicht erkennen. Also steuerten wir bei nächster Gelegenheit ein flaches Ufer an, um den Fuß zu trocknen und die Wunde zu begutachten.
Wie es der Zufall wollte, stand dort ein Wohnhaus und darin lebte eine Freundin, die wir aus der Gemeindearbeit kannten. Sie entdeckte uns und kam hinzu. Zu dem Zeitpunkt war bereits klar, dass es sich lediglich um eine überschaubare Fleischwunde handelte. Wir baten sie um ein Pflaster, das sie umgehend besorgte. Als die Verletzung trocken und verarztet war, setzten mein Kumpel und ich die Fahrt wie geplant fort.
Am Abend kam ich zufrieden nach Hause und wurde an der Tür von meiner aufgebrachten Mutter empfangen. Sie wollte sofort meinen Fuß sehen. Beschwichtigende Worte meinerseits halfen nichts. Erst als sie sich selbst vergewissert hatte, dass nichts Ernstes passiert war, beruhigte sie sich.
Auf meine Frage, woher sie von dem Vorfall wusste, erzählte sie: Der Pastor habe angerufen und sich besorgt nach meinem Fuß erkundigt, schließlich läge ich doch nach einem Unfall mit der Schiffsschraube mit einer schweren Verletzung im Krankenhaus …
Bis heute frage ich mich, wie diese Geschichte in so kurzer Zeit ihre Runde machen und derart aufgebläht werden konnte. Nur zur Einordnung: Damals gab es noch keine Handys. Seither bin ich vorsichtig mit Geschichten, die allzu stark nach Gerücht klingen.
Bitte nichts erwarten
Der eine oder andere Mitmensch kommt nicht gut damit zurecht, wenn man Erwartungen an ihn richtet. Sie werden als Einengung empfunden und üben Druck aus. Da ist etwas Wahres dran. Eine Erwartungshaltung schränkt das Gegenüber auf eine bestimmte Handlungs-, Denk- oder Gefühlsoption ein. Solange das Gegenüber freiwillig dieser Option entspricht bzw. entsprechen möchte, ist das kein Problem. Dann sind Erwartung und Erfüllung deckungsgleich.
Schwierig kann es werden, wenn das Gegenüber lieber einer anderen Option folgen würde oder sich alle denkbaren Optionen offenhalten möchte. Dann kann es sein, dass Erwartung und Erfüllung am Ende auseinanderklaffen. Ob das zum Problem wird, hängt zum einen davon ab, wie massiv die eigene Erwartungshaltung ist und wie stark die Enttäuschung empfunden wird. Zum anderen hängt es davon ab, wie massiv das Gegenüber die Einengung durch die Erwartung empfindet und wie stark der gefühlte Druck ist.
Die saubere Lösung bestünde darin, jegliche Erwartung an andere Menschen aufzugeben. Das hieße dann beispielsweise: »Ich möchte heute etwas kochen, das wir zusammen essen können. Gestern haben wir gemeinsam gekocht. Heute erwarte ich das nicht von dir. Es kann sein, dass ich es allein mache, und es ist in Ordnung. Hauptsache, es schmeckt uns.« Oder: »Gestern haben wir gemeinsam gekocht. Heute ist es in Ordnung, dass du nur für dich allein kochst. Es ist genug Platz in der Küche und ich mache mir selbst etwas zu essen.« Oder: »Ich habe keine Lust, die Küche aufzuräumen, und von Euch erwarte ich es auch nicht. Das schmutzige Geschirr bleibt liegen.« Eine erwartungsfreie Haltung verlangt danach, dass man sich in jeder Situation neu arrangiert – auch damit, dass die Paprika, die ich mir für mein Chili aufschneiden möchte, gerade in deinem Salat verschwindet. Eine erwartungsfreie Haltung erhöht ganz sicher den Gesprächsbedarf, aber sie perfektioniert auch die eigene Toleranz und eliminiert erfolgreich jeglichen Beziehungsstress.
Es fragt sich nur, wer das in dieser Konsequenz durchhält. Gerne erinnere ich mich an die Türme aus schimmeligem Geschirr in einer Wohngemeinschaft während des Studiums. Da kam eine gewisse erwartungslose Haltung aller Beteiligten zur Vollendung. Auch ich hegte keinerlei Erwartung, denn mein Geschirr hielt ich unter Verschluss und wusch es zur Not im Badezimmer ab, das ich erwartungsfrei regelmäßig sauber machte. Ich gebe zu, das waren nicht die schönsten Lebensumstände, und ich war froh, schließlich woanders unter anderen Bedingungen weiterleben zu können. Meine unterschwelligen Erwartungen hatte ich lange genug ignoriert.
Ich kenne niemanden, der nicht irgendwie Erwartungen an sein Gegenüber hegt. Die regional geltende Sitte, Erziehung, Erfahrung und nicht zuletzt Gewohnheit schaffen bewusste oder unbewusste Erwartungshaltungen. Vielleicht hegt man nicht die Erwartung, von einem Freund bei der Begrüßung umarmt zu werden. Vielleicht geht es sogar ohne ein Lächeln. Aber wenn noch nicht einmal ein »Hallo« kommt, steigt der Gesprächsbedarf dynamisch.
Und genau genommen ist die Annahme, dass das Gegenüber in einer konkreten Situation keine Erwartungen hegt, selbst eine Erwartung: »Ich erwarte, dass du nichts erwartest.« Verpackt ist diese Haltung gerne in Gedankenlosigkeit oder Ich-Bezogenheit, und ihr Lieblingssatz lautet: »Oh, ich bin davon ausgegangen, dass das für dich kein Problem ist.«
Spannend ist dann auch die Frage, wer sich selbst die Hoheit einräumt, die Kriterien für erlaubte und nicht erlaubte Erwartungen festzulegen. Relativ klar geordnet ist das im Arbeitsleben. Aber auch da ist es oft nur relativ klar. Im privaten Bereich haben wir es jedenfalls mit einer sehr viel diffuseren Lage zu tun.
Es wird wohl nicht anders gehen, als dass wir uns Erwartungshaltungen bewusst machen und dass wir miteinander aushandeln, was geht und was nicht geht. Erwartungen sind nichts Schlechtes, solange sie aus einem gemeinsamen Arrangement rühren. Dann werden sie zum gesunden Zeichen des gemeinsamen Rahmens. Und auch das eliminiert viel Stress in Beziehung, Freundschaft, Clique, WG, Familie, Verein und Beruf, überfordert die eigene Toleranz nicht und schafft stattdessen freie Kapazitäten für viel schönere Gesprächsthemen.
Navi lehrt Leben
Das Navigationssystem ist eine esoterische Errungenschaft. Man gibt ein Ziel ein, bekommt den Weg gewiesen und weiß auch schon, wann man ankommt. Ziel, Weg, Ankunft. Herrlich. Klar, man muss das eigene Ziel kennen und sich auf den Weg machen. Das ist manchmal eine Herausforderung. Aber wenn man das für sich geklärt hat, kann man sich treiben lassen. Kommt es zum Stau, werden sogar Ausweichrouten vorgeschlagen. Nahezu zwecklos ist es allerdings, die Reise zu verkürzen. Auf Deutschlands belebten Straßen muss man schon richtig Gas geben, wenn man geringfügig eher ankommen möchte. Doch meistens landet man dann in einer Baustelle und verliert sekündlich Minuten, die jeden Vorsprung wieder aufheben. Das Leben ist eine Straße und das Navi zeigt, wie es geht.
Anstößig leben
Wie wichtig ist gesellschaftliche Akzeptanz? Wie wichtig ist es, ein Leben zu führen, das im privaten, sozialen, religiösen, politischen und beruflichen Umfeld nicht anstößt? Wie geht man damit um, wenn bestimmte Aspekte des eigenen Lebens von der Allgemeinheit nicht gutgeheißen werden?
Gesellschaftliche Akzeptanz ist überaus wichtig, weil sie einen in Frieden lässt. Wer auch nur in Teilen ein gesellschaftlich anstößiges Leben führt, muss damit rechnen, dass das eigene Dasein oder Sosein in Gesamtheit verurteilt wird. Wer anstößig lebt, darf felsenfest mit Anfeindungen, Spott, übler Nachrede, Unverständnis, Ausgrenzung und vielleicht auch beruflichen Konsequenzen rechnen. An diesem Punkt unterscheidet sich die sogenannte moderne, aufgeschlossene Allgemeinheit nicht von der Gesellschaft früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte.
Wer sich also sehenden Auges in eine sozial inakzeptable Situation begibt, sollte sich zuvor vergewissern, ob es das wert ist, ob die eigene Psyche den unausweichlichen Shitstorm erträgt, ob die beruflich-wirtschaftliche Situation tragfähig bleiben wird und ob es Menschen gibt, auf deren Treue man zählen kann.
Ohrenschmalz
Manchmal stolpert man über einen blinden Fleck auf der eigenen Persönlichkeit oder wird unsanft darauf hingewiesen. Dann schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen und schämt sich nachträglich. Sofern möglich, ändert man etwas. Oder auch nicht.
Manch eine:r täte gut daran, den einen oder anderen blinden Fleck zu erkennen. Manch andere:r täte gut daran, sich nicht allzu sehr mit den eigenen blinden Flecken zu befassen. Man bleibt Mensch und unvollkommen. Es sind stets genügend blinde Flecken übrig.
Triebesbrief
Meine Liebe,
entschuldige bitte, dass ich mich so unveroft bei dir melde. Mir ist bewusst, dass du viel verkehrst. Ich will auch nicht stören, falls du etwas Eindringliches vorhast. Es ist nur schon so lange her, dass wir es miteinander zu tun hatten. Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht. Ich aber kann dich nicht vergessen.
Dir geht es offenbar richtig gut und ich beneide dich.
Du bleibst ewig jung, neu und dein Leben schlüpft von Höhepunkt zu Höhepunkt. Bei mir hingegen rückt das Verfallsdatum näher und ich erhalte jetzt Werbung für Sterbeversicherungen.
Du bist auf immer schön. Schlank, straff und wohlgeformt ziehst du die Fffff, äh, Blicke auf dich. Bei mir jedoch runzelt sich nicht nur die Stirn und wenn ich schnell abnehmen möchte, rasple ich mir die Hornhaut.
Du prickelst und schäumst wie Prosecco. Bei mir steigt nur noch selten eine Perle durch den schlanken Hals des Kelches. Du sprühst vor Energie. Da ist es kein Wunder, dass du auf jemand jüngeres umsteigst.
Wahrscheinlich liegt das Problem darin, dass man dir nicht entkommen kann. Du bist überall. So sehr kann ich mich gar nicht isolieren, als dass du mir nicht trotzdem vor Augen geführt würdest. Oft aufdringlich, manchmal unterschwellig, immer unverkennbar. Zurückhaltung war leider nie deine Stärke.
Egal. Solltest du mal nichts Besseres vorhaben, komm gerne bei mir.
Mach’s gut.
Dein Dirk
Ich bastle mein Andenken
Im Laufe des Lebens sammelt sich ein kunterbunter Mix aus größeren Anschaffungen wie z. B. Möbel und Geschirr, kleineren Anschaffungen wie z. B. Bücher und Unterwäsche, zahllosem Krimskrams wie z. B. Deko für Weihnachten, Ostern und die Zeit dazwischen sowie jede Menge Erinnerungsstücke wie z. B. Fotoalben, Briefe und Geschenke an. Ein erheblicher Teil davon hat keinen Nutzen und ist nicht mehr als sentimentales Zeug, das die Räume füllt.
Eines Tages sterben wir und irgendwer steht dann vor dem Problem der Entrümpelung. Die schiere Masse an Hab und Gut führt meist dazu, dass großzügig entsorgt wird.
Geschickter wäre es, zu Lebzeiten immer wieder radikal auszumisten. Nicht nur, weil wir damit irgendeinem Nachkommen oder Nachlassverwalter von Amts wegen einen echten Dienst erweisen. Sondern, weil wir damit auch die Erinnerung an uns in eine bestimmte Richtung lenken können.
Weg mit allem, das post mortem unserem Image schaden könnte. Weg mit allem, das sowieso niemanden mehr interessiert. Aber alles aufheben, was sich noch mit Gewinn veräußern lässt, das freut die Verantwortlichen. Und alles aufheben, das uns niedrigschwellig verklärt und überhöht oder nachträglich neugierig auf uns macht.
Von meiner Großmutter mütterlicherseits habe ich ein Kruzifix, ein Gotteslob und ein Kochbuch. Damit fühle ich mich aufrichtig gut bedient. Von meinem Großvater väterlicherseits habe ich leider nicht die Fotoalben aus dem II. Weltkrieg in Kaliningrad retten können. Großreinemachen im Sinne der familiären Hygiene.
Kurz: Wer gezielt wenig hinterlässt, formt das eigene Gedenken und verhindert, dass allzu viel allzu schnell im Müll landet. Mein eigener Nachlass passt vollständig auf eine mobile Festplatte. Fragil, aber praktisch. Kein Ballast, nur ein winziger Platz im Bücherregal.
Geteiltes Leben
Kinder und Familie sind zunehmend der letzte verbleibende Faktor, um Mann und Frau längerfristig zusammen zu halten. Danach wird es deutlich schwieriger. Unsere Gesellschaft steuert auf eine Generation alleinstehender und oftmals durch Einsamkeit gefährdete Best Ager zu. Bereits heute lebt unter uns eine Generation von Senioren, in der viele größtenteils mit sich allein klarkommen müssen. Neben der Partnerschaftslosigkeit spielen hier auch der seltene Kontakt zu den eigenen Kindern und Enkeln, die schmale Rente und eine nachlassende Mobilität eine Rolle. Politik, Sozialverbände und NGOs haben das Problem erkannt und versuchen dem entgegenzuwirken. Die Erfolge sind mäßig. Ist ein Mensch erst einmal in der Einsamkeitsfalle gefangen, ist er schwer zu erreichen. In der nun allmählich anbrechenden Generation der früh Alleinstehenden sind diese Gesichtspunkte zunächst nur teilweise ausschlaggebend. Stattdessen sind die Menschen immer länger agil und können ihr Leben genießen. Das Problem besteht dennoch. Partnerschaft ist nicht mehr der Garant für geteiltes Leben. Bereits jetzt kommt es darauf an, die bevorstehende Entwicklung zu erkennen und vorbeugend zu handeln. Es gilt, neue, partnerschaftsunabhängige Gemeinschaftsformen zu finden und einzuüben, die Menschen in der zweiten Lebenshälfte davor bewahren, im eigenen Dasein zu versauern.
Gute Nachrichten
Was ist eine gute Nachricht?
Es war einmal ein sehr empfindliches Ökosystem in einer abgelegenen Gegend dieser Welt fernab jeglicher Zivilisation. Eines Tages geschah nichts. Wie schon am Tag zuvor florierte und faunierte es vor sich hin, blieb intakt und erfreute sich seiner Idylle. Wie sehr ist eine Nachricht davon abhängig, dass etwas geschieht? Wenn Dinge lediglich ihren gewohnten und guten Gang nehmen, haben sie dann trotzdem einen Nachrichtenwert, den man sich nur hin und wieder vergegenwärtigen sollte?
Es war einmal der King of Rock ‘n‘ Roll, der sich im Autohaus umsah und einen Cadillac kaufte. Ein Mann stand dabei und beobachtete die Szene. Der King fragte den Mann, ob ihm der Wagen gefiele, und der Mann bejahte. Da sagte der King zu dem Mann, dass er ihm den Cadillac schenke. Wie sehr muss der Inhalt einer Nachricht mit einem selbst verknüpft sein, um innerlich zu berühren? Muss eine Nachricht einen Bezug zum Selbst haben, um das Gute oder Schlechte zu empfinden, oder gibt es auch Nachrichten, die aus sich heraus gut oder schlecht sind, ohne dass sie etwas mit einem selbst zu tun haben?
Es war einmal ein geschätzter Kollege, der sich darüber freute, woanders eine neue Stelle antreten zu können. Ein anderer Kollege bedauerte diese Entwicklung sehr, weil eine erfreuliche Zusammenarbeit endete. Wie gut ist eine Nachricht, wenn sie an anderer Stelle als schlecht empfunden wird? Gibt es überhaupt gute Nachrichten ohne schlechte Kehrseite? Ist dies womöglich das Dilemma der Politik, mit dem sie sich abfinden muss?
Es war einmal Jesus von Nazareth, der als gute Nachricht verbreitete, dass das Himmelreich nahe herbei gekommen sei. Bis heute wird dieses Evangelium gepredigt, doch die Weltbevölkerung ist weit davon entfernt, sich darüber zu freuen. Welchen Charakter muss eine Nachricht haben, damit sie als gut empfunden wird? Wie glaubwürdig und überwältigend muss sie sein? Was geschieht mit guten Nachrichten, die nicht mehr funktionieren? Was bleibt von der Erhöhung des Mindestlohns, wenn die Inflation alles kaputt macht?
Es war einmal ein Mann, der eine Frau liebte. Er hatte rechte genaue Vorstellungen von einer guten Nachricht. Doch diese Nachricht kam nicht. Welchen Einfluss haben gute Nachrichten auf das eigene Leben? Wie sehr ist das Leben von guten Nachrichten abhängig? Wie geht man damit um, wenn gute Nachrichten ausbleiben? Besteht die Kunst des Lebens darin, sich gute Nachrichten zu basteln?
Was ist eine gute Nachricht?
Mach dich mal nützlich
In Schleswig-Holstein und Hamburg darf man sich nach dem Tod kompostieren lassen. Bei einer »Reerdigung« wird der Leichnam mit Grünschnitt, Heu und geheimen Zutaten in einen Kokon gesteckt und innerhalb weniger Wochen in wohlriechenden Kompost überführt. Das Verfahren ist ausgereift und im Vergleich zur Verbrennung deutlich klimafreundlicher. Die Fachleute streiten allerdings noch darüber, ob der Humankompost pathogenfrei und lebensmittelecht ist. Für ein paar Stiefmütterchen im Garten sind Reerdigte aber unbedenklich. Statt sich auf ewig die Radieschen von unten anzusehen, hilft man ihnen beim Wachsen. Da ist es nur folgerichtig, wenn sich ein anderes Projekt mit der Kompostierung menschlicher Exkremente zur anschließenden Nutzung auf dem Acker befasst. Wie das Nutzvieh so der Nutzmensch. Scheißen und Sterben haben endlich einen Sinn. Wir sind wieder Teil des großen Kreislaufs.
Lang lebe der Fortschritt
Worin genau besteht im fortgeschrittenen Alter der Fortschritt?
Klippenkippen
Eines Tages stelle ich fest, dass einiges deutlich schlechter geworden ist und es nicht mehr besser wird. Die Gründe dafür sind Alter, Krankheit, einschneidende Erlebnisse – womit auch immer das Leben überrascht. Irgendwann bin ich über die Klippe gekippt, habe den schmalen Grat der Glückseligkeit hinter mir gelassen und rutsche nun belanglos talwärts. Das ist nicht ungewöhnlich. Um uns herum leben unzählige klippenkippenerfahrene Menschen. Sie sind leise und stören den Eindruck nicht, dass das Leben grandios ist. Die wenigsten gehen mit einem Lachen.
Weißt du, wen ich vorhin traf?
Dass etwas »zufällig« geschieht, gehört zu den gängigen Redewendungen. Hin und wieder kommt dann die Antwort, dass es keine »Zufälle« gibt. Und das stimmt. Zufälle gibt es nicht.
Wenn ich jemandem auf dem Wochenmarkt begegne, den ich lange nicht gesehen habe, dann ist das kein Zufall. Das Wiedersehen ist vielmehr das Resultat aus meinen Schritten, die ich in eine bestimmte Richtung ging, und Schritten, die der andere in eine andere Richtung ging. Unsere Wege kreuzten sich. Das Treffen war für uns vielleicht nicht »vorhersehbar« und es war vielleicht ein »Glück«, aber es war kein Zufall. Es gab Gründe dafür. Ich marschierte auf einen bestimmten Marktstand zu und der andere war nach langer Zeit mal wieder zu Besuch in der Stadt und schlenderte durch die Fußgängerzone.
Wenn ich jemanden auf dem Wochenmarkt verpasse, den ich lange nicht gesehen habe, dann ist das ebenfalls kein Zufall. Vielmehr war mein Blick gerade durch die hübschen Blumen eines Marktstandes abgelenkt und der andere war in ein Gespräch verwickelt.
Selbst die Lottozahlen sind kein Zufall. Der technische Aufbau der Ziehung ist zwar immer der Gleiche, doch winzigste Unterschiede beim Ablauf sorgen dafür, dass sich die Kugeln anders bewegen als beim letzten Mal. Und schon wirbelt alles auf eine Weise durcheinander, dass es am Ende andere Gewinnzahlen gibt als zuvor. Die Lottozahlen sind »unberechenbar«, weil wir dieses minimalistische Chaos mathematisch und technisch nicht in den Griff bekommen. Aber es ist kein Zufall. Die Materie folgt einfach nur den unerschütterlichen Regeln dieser Welt. Dasselbe gilt für platte Reifen, das Mischen von Spielkarten und das Wetter. Manch ein µ hat in solch einer Situation seine große Stunde. Ein verfluchtes »Ausgerechnet jetzt!« hilft auch nicht weiter.
Damit ist nichts »vorherbestimmt«. Stattdessen wirken Kräfte von verschiedenen Seiten unabhängig voneinander auf Gegenstände, Welt und Mensch ein und führen zu Ereignissen, verhindern Ereignisse, schaffen Varianten eines Ereignisses. Wenn wir von »Zufall« reden, dann spüren wir eine Überraschung, die uns im besten Fall glücklich macht oder auch nicht.
Doch das ist natürlich nicht das, was jene meinen, die sagen, es gäbe keine Zufälle. Ihnen geht es darum, einem Ereignis eine »Bedeutung« zuzumessen. Es soll heißen, dass nichts »grundlos« geschieht, sondern sich ein Sinn dahinter verbirgt. Damit stößt die Frage nach dem Zufall in metaphysische oder religiöse Sphären vor, in denen sich nichts beweisen oder widerlegen lässt. Meine unmaßgebliche Lebenserfahrung lehrt, dass Vieles sehr wohl »an sich bedeutungslos« sein kann, es sei denn, man selbst misst einem Ereignis, einer Begegnung oder einem scheinbaren Zufall eine Bedeutung zu. Manchmal scheint mir, dass die Neigung, hinter allem eine Bedeutung zu mutmaßen, eine gewisse Furcht vor dem »Zufallsgenerator Chaos« in dieser Welt übertünchen soll. Sei’s drum.
Doch ganz gleich, ob man sich eine Begebenheit aus den nüchternen Kräften des Universums erklärt oder ob man ihr die Bedeutung eines sinnerfüllten Kosmos‘ zuweist, die Antwort bleibt dieselbe: Es gibt keine Zufälle. Es ist aber nett, dass wir unserer Überraschung über den unerwarteten Gang dieser Welt einen so hübschen Ausdruck wie »Zufall« verleihen.
Glückwunsch
Wieso heißt es »Herzlichen Glückwunsch!«, wenn jemand sein Ziel schon erreicht hat? Die Grußformel »Herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung« ergibt wenig Sinn. Man müsste den Wunsch nach Glück vielmehr vor der Herausforderung aussprechen: »Herzlichen Glückwunsch zur bevorstehenden Prüfung!«
Klar, bei Eheschließung, Geburt eines Kindes oder wenn man sich anschickt, das ELSTER-Formular auszufüllen, ist der »Herzliche Glückwunsch« sehr angemessen. Der Ernst des Lebens erreicht ein neues Level und man kann Glück wirklich gut gebrauchen.
Doch in vielen Fällen müsste die korrekte Grußformel lauten: »Ich gratuliere dir.«
Prognose
Wir können nicht in die Zukunft schauen, erliegen jedoch hin und wieder dem Drang und versuchen es dennoch. Der Blick geht zurück in die eigene Geschichte, sucht nach brauchbaren Erfahrungswerten und beurteilt, wie die Dinge so wurden, wie sie heute sind, und wie sie sich in der Konsequenz weiterentwickeln dürften. Der Blick durchforstet ebenso das Heute, wagt eine Einschätzung, ob alles so bleibt, wie es ist, oder ob eine Verbesserung bzw. Verschlechterung absehbar ist. Der Blick schweift auch nach links und rechts in das Leben anderer und erwägt demgegenüber die eigenen Optionen und Chancen. Aus dieser umfassenden Nabelschau können sich durchaus stichhaltige Prognosen ergeben. Und je älter wir werden, desto größer wird die Aussicht auf eine passable Hochrechnung, weil sich die für die Analyse benötigte Lebensdatenlage Jahr für Jahr verbessert und die Perspektive sich stetig verengt. Mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit lässt sich schon jetzt sagen, dass niemand überleben wird. Möge es bis dahin Grund zur Zuversicht geben.
Nenn mich Greis
Ich habe beschlossen, ab heute alt zu sein. Es macht keinen Sinn mehr, mir und anderen etwas Gegenteiliges vorzutäuschen oder gegen die ermüdete Zellreproduktion anzukämpfen. Die Zeiten sind vorbei, in denen ich schlank, straff und einigermaßen attraktiv war. Statt mich wie früher schnittig durch die Menschenmenge zu pflügen, schaffe ich mir heute mit dem Bauch Platz. Tief einatmen, kräftig ausatmen, wumms, frei ist der Weg. Softball-Bouncing.
Auch die weißen Haare waren nur cool, solange ich ein Mittvierziger war. Jetzt hingegen bin ich einer von vielen, deren Schopf weißer ist als die Zähne. Statt oben auf dem Kopf trage ich die Haarpracht fortan an den Wangen, wo sie als Bart die schlaffe Gesichtshaut versteckt. Damit erhält auch die fortschreitende Kontinentalverschiebung meiner Geheimratsecken freie Bahn. Derweil fallen mir die Zähne von allein aus. Das erspart Zahnarztbesuche, bei denen das parkinsonsche Beben meiner Hände irrtümlich als Angst interpretiert wird. Auch Verdauungsprobleme gehen mir nicht mehr am Arsch vorbei. Gleichzeitig kriecht die Gicht in meine Knochen und jede zweite Bewegung quietscht wie Pobacke auf Klodeckel.
Ans Meer fahre ich nur noch in der späten Nachsaison, weil ich dann vollständig bekleidet bleiben kann. Es war mir einfach zu blöd, wie ein verschrumpelter Apfel in Badehose am Strand zu flanieren und zu beobachten, wie Mütter ihren entsetzten Kindern die Augen zuhielten und toughe Teenager den Anblick ihrer eigenen Zukunft belächelten. Alter fällt offenbar unter den Jugendschutz. Bergurlaub ist ohnehin passé, weil die Wanderwege nicht rollatorgerecht ausgebaut sind und sich meine Krückstöcke immer wieder in den Speichen der Mountain-Biker verheddern.
Die Erotik meines Lebens besteht darin, jungfräuliches Gemüse zu entblättern und anschließend als Eintopf beim Vorabendprogramm im ZDF zu vernaschen. Da bekomme ich nämlich die wichtigen Hinweise für den gepflegten Umgang mit Sodbrennen, Inkontinenz und Gedächtnislücken. Geistig bin ich ja an dem Punkt, an dem ich nicht mehr jede Neuerung mitmachen möchte, sondern sie einer jüngeren Generation überlasse. Solange ich nicht dement bin, brauche ich keine künstliche Intelligenz.
Mir ist bewusst, dass mein Jahrgang bis ins hohe Alter dynamisch bleiben möchte. Bis achtzig agil, ab neunzig fragil und mit hundert folgt die Mülltrennung nach wiederverwertbaren Hüftprothesen, tattoofreien Gewebespenden, pharmazeutischen Schadstoffen und ökologisch wertvoller Restsubstanz. Per Beschluss habe ich mich diesem Zeitpunkt deutlich genähert.
Jedem Anfang ein Ende
Ich bin kein Freund von Hermann Hesse. Der eine oder andere Gedanke bleibt dennoch hängen. Dass jeder Anfang seinen eigenen Zauber hat, ist immer noch eine nette Beobachtung, auch wenn sie allzu inflationär zitiert wird. Tatsächlich sind die »Stufen« in ihrer Gesamtheit ein großer Wurf. Wichtiger fand ich jedoch den Gedanken in »Siddhartha«, dass im Kind auch schon der Greis angelegt sei. Dürfte man dann nicht formulieren: »Jedem Anfang wohnt ein Ende inne«?
Im Auto unterwegs
Unmittelbar vor mir biegt ein Bulli auf meine Spur ein. Für eine Vollbremsung ist es zu spät. Ich reiße das Lenkrad herum, gerate auf die Gegenfahrbahn, steuere wieder zurück, dann rauscht auch schon der Gegenverkehr an mir vorbei. Dass es nicht gekracht hat, erscheint mir wie ein Wunder. Es war so knapp. Glück und Unglück liegen eng beieinander. Diesmal waren es nur Zentimeter.
Alles im Griff
Manchmal wäre es besser zu sagen: Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Ich kann es nicht beurteilen. Die Welt ist mir zu komplex. Ich kriege keine eigene Meinung zustande. Ich muss auf das vertrauen, was andere mir sagen. Ich muss mich da heraushalten und schweigen. Ich missbrauche meine eigene Meinung dazu, um mich stärker zu machen, als ich bin.
Offenbar ist aber der Drang zu stark, unbedingt als mündige:r Bürger:in zu gelten, die Welt gedanklich im Griff zu haben, sich nichts vormachen zu lassen, bestens informiert zu sein, sich auszukennen, fest im Leben zu stehen, alles zu durchschauen, unangreifbar zu bleiben, auf der sicheren Seite zu stehen, nur nicht unsicher zu wirken, auf keinen Fall unterzugehen.
In einer Zeit, in der die Welt immer schwerer zu verstehen ist, nimmt das Bedürfnis zu, sie dennoch zu begreifen und immer einen festen Standpunkt zu haben. Das ist verständlich und gut. Dennoch wäre es manchmal besser, sich selbst nicht zu verleugnen.
Aktion Reaktion Interaktion
Sieh dir die Zwei an. Beide verhalten sich zueinander. Es scheint eine eindeutige Bewegung zu sein. Der Eine tut etwas und der Andere reagiert. Schau noch einmal hin. Es könnte auch genau das Gegenteil der Fall sein. Der Andere tut etwas und der Eine reagiert. Möglich ist sogar, dass Beide miteinander handeln und in ein wiederkehrendes Spiel verwickelt sind. Aufgelöst werden kann die Situation, wenn zumindest einer der Zwei die eigene Bewegung unterbricht und sich stellt.
Sieh zu, wie du das wieder hinkriegst!
Schuld
Es ist leidiger Teil des Lebens, dass man Entscheidungen trifft, dass man etwas tut, und es geht schief. Schnell wird dann die Frage nach der Schuld gestellt. Da die Sachverhalte allzu oft eindeutig sind, ist der/die Schuldige schnell identifiziert.
Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob die schnelle Verurteilung den Tatsachen immer gerecht wird. Oft ist es eine Frage der Perspektive. Zumeist sind zwei Seiten daran beteiligt, wenn etwas schiefläuft. Damit verteilt sich auch die Schuld auf mehrere Personen.
Es lohnt sich, noch einmal genauer hinzusehen, ob man einer Person nicht Unrecht tut, wenn man ihr allein die Schuld aufbürdet. Womöglich gibt es noch eine zweite Person oder gar mehrere, die zum Unglück beitrug/en.
Hinzu kommt der unbequeme Sachverhalt, dass es immer angenehmer ist, wenn man selbst nicht die schuldige Person ist, sondern jemand anderes. Man braucht schon ein bisschen Charakterstärke, um die Frage zuzulassen, ob man womöglich selbst die Schuld an einer Entwicklung oder an einem Ereignis trägt. Oder zumindest dazu beigetragen hat.
Es hilft bei der Klärung der Sachverhalte, noch einmal neu hinzuschauen. Ist es wirklich nur eine Person, die schuldig ist, oder sind es zwei oder mehrere, und bin ich womöglich selbst eine der Personen, die einen Teil der Schuld trägt?
Verantwortung
Ich habe ein kleines Problem mit dem Begriff der Schuld. Schuld ist ein passiver Begriff. Schuld wird einem zugesprochen. Und dann? Schuld fesselt an ein Ereignis und bringt keine Bewegung in die Dinge. Schuld ist eine Sackgasse.
Sinnvoller ist es, den Begriff der Schuld durch den Begriff der Verantwortung zu ergänzen oder gar zu ersetzen. Verantwortung ist ein aktiver Begriff. Man trägt die Verantwortung für etwas, das man getan hat, oder zumindest für einen Teil dessen, was sich ereignet hat.
Wer Verantwortung trägt, kann Dinge verändern oder es zumindest versuchen oder kann die Konsequenzen aus einem Ereignis abmildern oder rückgängig machen. Man kann dazu beitragen, dass etwas Neues entsteht. Verantwortung ist ein sehr viel lebensfreundlicherer Begriff. Vielleicht lohnt es sich, nicht bei der Frage der Schuld zu verharren, sondern Verantwortung zu übernehmen.
Verletzung
Wenn im Leben etwas richtig schiefläuft, wenn man sich mit der Frage nach der Schuld auseinandersetzen muss, wenn man Verantwortung übernimmt, dann geht es im Kern zumeist um Verletzungen, Verletzungen bei mir selbst, Verletzungen bei anderen. Nicht jede Verletzung ist ein Drama, doch es gibt genügend Verletzungen, die einen lange begleiten und einem das Leben schwer machen.
Es lohnt sich, da noch einmal genauer hinzuschauen, nach den selbst erlittenen Verletzungen, auch nach den Verletzungen, die jemand anderes durch mich erlitten hat. Habe ich überhaupt Worte dafür? Es erfordert Mut, sich darauf einzulassen, was man jemand anderem angetan hat. Ebenso erfordert es Mut, jemand anderem zu gestehen, welche Verletzungen man selbst davongetragen hat.
Die Frage lautet, welches Ziel man verfolgt. Und ein zentrales Ziel ist, dass man weiterleben möchte. Man will in den Spiegel schauen und sich mögen dürfen. Man möchte dem/der anderen wieder auf Augenhöhe begegnen können. Man möchte erhobenen Hauptes durch das Leben gehen. Und vielleicht wünscht man das auch dem/der anderen, dass er/sie die gleiche gute Erfahrung macht und dem Leben wieder etwas abgewinnt.
Im Grunde möchte man einen Frieden schließen, Perspektiven entwickeln, nach vorne schauen können. Und dafür ist es wichtig und heilsam, sich mit Verletzungen auseinander zu setzen, den eigenen und denen des/der anderen. Auch das ist Teil der Verantwortung.
Sommer!
Arschbombe vom Scheunendach direkt in die Pferdetränke.
So geht Sommer auf dem Land.
Die Tiefe der Tränke spielt dabei keine Rolle.
Meistens trifft man sie ja nicht.
Tugedug tugedug
Achtsamer Ausritt mit Richard.
Erstaunlich, wie viel Karotte da rein passt.
Verblüffend, wie viel Muskelkater ich kann.
Im Biener Busch
Frühmorgens schiebt sich die Sonne langsam über den Horizont und schickt ihre ersten Strahlen ins Unterholz. Knapp über dem Boden erglüht die Natur, während der Wald noch in Dämmerung verharrt. Zwischen den Ästen hängen Spinnweben und kitzeln im Gesicht. Steiniger Boden wechselt mit weichem Humus. Quer über dem Weg liegt ein Ast, der gestern noch nicht da war. Vögel zwitschern und machen sich auf die Suche nach Nahrung. Zwei Rehe flüchten ins Dickicht. Enger und enger wird es, nurmehr ein schmaler Pfad führt zwischen Bäumen und Büschen hindurch. Dann wieder weiten sich Umgebung und Blick. Stattliche Stämme ragen in den Himmel, tragen das dichte Dach der Wipfel. Sumpfige Mulden, totes Holz, dichte Gräser. Es war zu trocken in diesem Sommer, schon seit Wochen raschelt es beim Gehen. Jetzt werfen die Buchen ihr kräftiges Grün ab, hier und da zeigt sich welker Ahorn. Es beginnt zu regnen. Im Laub über mir prasselt es, um mich herum bleibt es trocken. Als ich zum Ausgangspunkt zurückkehre, ist es hell. Der ältere Herr mit Hund kommt mir entgegen. Man kennt sich. Guten Morgen.
Hoher Besuch
Spatzen, Meisen, Amseln, Buchfinke, Rotkehlchen, Tauben, Krähen, Elstern, Mäuse, Kaninchen, Eichhörnchen, Schafe, Kühe, Hornissen, Hummeln und jetzt ein Turmfalke.
Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.
Squirrel's Snackbar
It is a constant coming and going
As long as I keep granola flowing
My balcony is a crowded snackbar
A well-known place for animals from near and far
Especially in the morning hours
They all get here to renew their powers
Vegan nutrition and friends to talk to
A happy meal for free it's too good to be true
But when the squirrel arrives for breakfast
They all step back let it be my sole guest
Even the tomtit has to be patient
But I don't worry they are all full in the end
Lyrics & Music: Dirk Röse
Recorded: 2021
© 2021
Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.
Executive Summary
Yet when I looked on the works that my own hands had done
The right, the wrong
The weak, the strong
And when I looked at all that I had toiled to achieve
To gulp, to heave
The smile, the grief
Turns bones to soil
Turns blood to oil
Turns heat to coal
To air turns soul
Behold, all was vanity and a chasing the wind
No catch, no win
The void a grind
No benefit in the world, just a naught to be gained
The world explained
It’s all in vain
Turns bones to soil
Turns blood to oil
Turns heat to coal
To air turns soul
Lyrics & Music: Dirk Röse
Borrowed from Ecclesiastes 2,11
Recorded: 2023
© 2023
Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.
Up Down
And then again upwards
And then again downwards
And then again upwards
And then again downwards
Hey, ain’t life a bit more than these stupid ups and downs
Hey, I’m fed up with this frightening noise of silence driven sounds
Hey, I’m trapped in a rat race and the wheel goes round and round
Hey, shouldn’t life be joyful instead of showing us a frown
And then again upwards
And then again downwards
And then again upwards
And then again downwards
Gimme more ups
Gimme more ups
Gimme more ups
Gimme less downs
Hey, why is upwards always hard and downwards comes for free
Hey, why is upwards far away and downwards after me
Hey, will I stay in a basement flat, ain’t it a palace where I should be
Hey, always two steps upwards and two steps downwards, can’t you see
And then again upwards
And then again downwards
And then again upwards
And then again downwards
And then again upwards
And then again downwards
And then again upwards
And then again downwards
Gimme more ups
Gimme more ups
Gimme more ups
Gimme less downs
Lyrics & Music: Dirk Röse
Recorded: 2017
© 2017
Inhalte von Youtube werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Youtube weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.
Preacher
Preacher
Walk another mile with me
Talk to me ‘bout God and eternity
Talk to me ‘bout what makes my life great
Initiate a change, tell me how to tempt my fate
Preacher
Now you know what’s going on
Now you know that I’m not strong
Understand I got to hide my weakness
So nobody sees my sickness
Preacher
Now you tell me to give up
You take my hand and make me stop
But it’s hard to give up my real vision
I’m at the crossroads, time for a decision
Preacher
I always wanted to be the real me
But I don’t even know myself, you see
Now I realize the risk I might lose face
I’m petrified with horror and I might give up the race
Preacher, be my teacher
And tell me what I got to do
To get rid of this disastrous blues (give me a clue)
Preacher, be my teacher
‘cause you’re the last hope that I got
I beg you to show me what
You can do for me
Take these chains away and I break free
Hope has been replaced by fear
Grace does not even reach my ears
The love people share does not exist for me
‘cause I was born without a home, without a family
Preacher
Please help me now to overcome my past
I need some outlook and I need it fast
You said there is a heaven, won’t you show me the start
There’s a massive vacuum deep down in my heart
(And I want to blow it away)
Preacher
Take me to the joy of life
Give me strength, ‘cause only the strong survive
I need the guidance I know you can give
Please pray for me. I ain’t got no will to live (any more)
Preacher, be my teacher
And tell me what I got to do
To get rid of this disastrous blues (give me a clue)
Preacher, be my teacher
‘cause you’re the last hope that I got
I beg you to show me what
You can do for me
Take these chains away and I break free
Lyrics & Music: Dirk Röse
Recorded: 2017
© 1986, 1987 & 1988