GEDANKE
Gott. Welt. Gesellschaft. Mensch.
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Frohe Festtage!
Die Tage sind kurz, die Nacht währt lang, die Ferne verliert sich in der Dunkelheit. Weite Teile der Welt feiern Advent und Weihnachten in der kalten Jahreszeit. Darum leuchten Kerzen, wird wohlig geheizt und mehr als zu anderen Zeiten zusammengerückt. Dunkelheit und Kälte weichen Licht, Wärme, Nähe.
Bescherung
Eine Weihnachtserzählung
Diese Geschichte greift wahre Ereignisse aus dem Leben von vier Menschen auf, deren Schicksal ich vor Jahren miterlebte. Der Engel stammt aus David Bowies »Look Back In Anger«.
Es war tiefe Nacht, als Piet Ternijssen beunruhigende Träume bekam und erwachte. Er schwitzte und brauchte einen Augenblick, bis er wieder wusste, wo er war. Der Raum war in dämmeriges Licht getaucht. Erst blinzelte er, dann erschrak er. Vor seinem Bett stand ein Engel. Unwillkürlich zog Ternijssen die Bettdecke bis zum Kinn, aber kein Laut kam über seine Lippen.
Einen Augenblick lang sahen sie sich schweigend an.
Dann sagte der Engel: »Du weißt, wer ich bin.«
Ängstlich musterte Ternijssen die Gestalt. Sie strahlte ein leichtes, flimmerndes Leuchten aus. Er meinte auch ein energetisches Knistern zu hören, als stünde er nahe einer Hochspannungsleitung. Doch schien von dem Engel keine Gefahr auszugehen und Ternijssen atmete erleichtert aus. »Ja, ich weiß, wer du bist«, bestätigte er. »Aus welchem Grund …?«
»Es ist an der Zeit, dass wir gehen.«
»Du kommst, um mich zu holen?«
Der Engel nickte. Ternijssen blickte ihn wortlos an.
Dann fragte er: »Warum jetzt? Warum jetzt schon?«
»Deine Zeit ist um.«
Ternijssen hörte die Worte, konnte sie aber nicht fassen.
Der Engel ergänzte: »Es kommt nichts mehr.«
»Es kommt nichts mehr? Aber es kommt schon lange nichts mehr. Wenn es danach ginge, hättest du mich eher holen können.«
»Das liegt nicht in meinen Händen.«
Piet Ternijssen senkte den Blick. Nach einem weiteren Augenblick des Schweigens stellte er fest: »Das war es also. Ich bin erst siebenundsechzig Jahre alt und lebe seit fünf Jahren in einem Altersheim.« Er hob die rechte Hand. Sie zitterte. Er hob die linke Hand. Auch sie zitterte. »Parkinson«, sagte er.
Der Engel nickte. »Ich weiß.«
Ternijssen plinkerte. Er hatte mit einem Mal Tränen in den Augen. »Weißt du auch, was es heißt, so früh in einem Altersheim zu landen? Diese Krankheit verfolgt mich seit über zehn Jahren. Sie hat mich aus dem Berufsleben gerissen. Sie hat mein Leben kaputt gemacht.«
Der Engel zeigte keinerlei Anzeichen von Ungeduld.
Also sprach Ternijssen weiter: »Ich habe zwei erfolgreiche und glückliche Kinder. Meine Tochter leitet eine Beratungsagentur. Mein Sohn ist Prokurist in einem großen Konzern. Ich bin stolz auf sie. Aber ich habe keinen Platz in ihrem Leben.«
»Ist das so?«, fragte der Engel.
»Nein, es ist nicht so.« Ternijssen seufzte. »Sie kümmern sich um mich, so gut es geht. Sie sind stark eingebunden, sie haben Familie, sie sind weit weg. Wahrscheinlich wäre es nicht gut gegangen, hätten sie mich aufgenommen. So, wie es jetzt ist, tun sie alles Erdenkliche für mich. Und sie tun es gerne.«
Der Engel nickte.
»Aber es tut trotzdem weh.«
»Was tut weh?«
»Dass mein Leben so endet. Mein Leben, mein einziges. Dass es so endet.«
»Wie endet es denn?«
»Einsam. Krank. Vor der Zeit.«
Der Engel schwieg.
»Manchmal vermisse ich meine Frau.«
»Deine Frau?«
»Wenn ich mir vorstelle, ich könnte noch mit ihr zusammen leben. Das Haus, das ich gebaut habe … Jetzt hat sie es für sich. Und für ihren Freund, diesen unangenehmen Kerl. Und für … für ihre Tochter, wenn sie zu Besuch kommt. Die Scheidung war der erste große Rückschlag in meinem Leben.«
»Ich glaube, du irrst dich.«Der Engel nestelte an seinem Gewand und hielt alsbald eine Schatulle in den Händen.
Sie war aus dunklem Holz, schmucklos und nicht sehr groß, aber Ternijssen war sofort fasziniert. Es ging etwas von ihr aus, das seine Neugier weckte. Als beinhalte sie etwas, das er unbedingt haben wollte.
Würdevoll öffnete der Engel den Deckel und streckte ihm die Schatulle entgegen. Gebannt sah Ternijssen hinein.
Außer ein paar Umschlägen schien sie nichts zu enthalten. Kein Gold, keine Edelsteine, nichts Nennenswertes auf den ersten Blick. Doch es drängte ihn, die Umschläge zu öffnen.
»Was ist das?«, fragte er.
»Sieh selbst.«
Ternijssen richtete sich im Bett auf und schob seinen gebrechlichen Leib nach vorne, bis er einen Umschlag aus der Schatulle ziehen konnte. Im Umschlag steckte ein Bogen Papier. Ternijssen entfaltete ihn und las:
»Ja.«
Da stiegen längst verblasste Erinnerungen auf und jäh liefen ihm Tränen über das Gesicht. Seine erste große Liebe. Seine einzige wahre Liebe. Als Student. Nie hatte er sich erklären können, warum er gerade in sie verliebt gewesen war. Er hatte sich grundlos verliebt. Einfach so. Besinnungslos. Sie hatten eine gute Zeit miteinander verbracht. Doch auf die Frage, ob sie ihn heiraten wollte, hatte sie mit »Nein« geantwortet und ihn kurz darauf verlassen. Die Trauer um sie hatte ihn ein ganzes Semester gekostet.
»Es war ein Fehler«, sagte der Engel. »Es war ihr Fehler, ‚Nein’ zu sagen. Es war dein Fehler, sie zu früh zu fragen.«
Ja. Nein. Ternijssen dachte an das »Ja« seiner Ex-Frau, als er zum zweiten Mal einen Heiratsantrag gemacht hatte. Auch sie hatten eine unbeschwerte Zeit erlebt. Vielleicht war alles so gut gelaufen, weil er sie nicht über die Maße geliebt hatte. Vielleicht war am Ende aber doch alles auseinander gelaufen, weil er sie nicht über die Maße geliebt hatte.
Der Engel hielt ihm die Schatulle immer noch entgegen. Zögernd zog Ternijssen einen zweiten Umschlag heraus und öffnete ihn. Auf dem Zettel stand:
»Partner.«
Ternijssen spürte, wie Bitterkeit in ihm hochstieg. Er dachte an seine Jahre als Anwalt in einer großen Hamburger Kanzlei, dachte an das gute Geld, das er verdient hatte, erinnerte sich an die vielen erfolgreichen Prozesse, dachte, dass er ein guter Anwalt gewesen war, bis ihm die Krankheit einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Doch die eigentliche Bitterkeit rührte aus der Enttäuschung, dass er es niemals bis zum Partner geschafft hatte. Ein deutlich jüngerer Kollege war schließlich an ihm vorbei gezogen und hatte den Platz eingenommen, von dem er immer geträumt hatte. Dr. Heribert Rust. Die Wut und der Neid nagten bis heute an ihm. Damals hatte auch seine Frau schon nichts mehr als Spott für ihn übrig gehabt.
Ternijssen sagte nichts, wischte sich nur die Tränen aus den Augen. Auch der Engel sprach nicht.
Für einige Minuten herrschte Stille.
»Was ist nur aus meinen Träumen geworden?«, fragte Ternijssen dann und riss den dritten Umschlag aus der Schatulle.
»Vernissage.«
Er prustete verächtlich, Speichel löste sich von seinen Lippen und flog durch das matte Licht. Ja, er wäre gerne Künstler geworden. Er hatte Klavier gespielt, so lange er denken konnte, bis das Zittern seiner Finger ihn zur Aufgabe gezwungen hatte. Doch für einen Berufsmusiker war er nie gut genug gewesen. Immerhin hatte er es ernsthaft mit der Malerei versucht und stets von einer eigenen Vernissage in München geträumt. Geworden war auch daraus nichts.
Mit leiser Stimme sagte er: »Bei allem, was ich tat, fehlte mir der letzte Biss. Der Fluch meines Lebens: Stets war ich ein wenig zu durchschnittlich.«
»Auch als Liebhaber«, konstatierte der Engel.
Ternijssen sah ihn überrascht an. Der Engel erwiderte seinen Blick. In Ternijssen regte sich Zorn und eine wütende Bemerkung lag ihm auf der Zunge. Doch die erhabene Gelassenheit, die der Engel verbreitete, ließ sie nicht zu.
Ternijssen hatte irgendwann eine heftige Liebschaft mit einer jungen Kollegin angefangen. Es fand es bis heute verrückt, aber sie war wirklich in ihn verliebt gewesen. Auch er hatte sich mit ihr verbunden gefühlt, nur seine Geilheit war noch stärker gewesen. Es war gut gelaufen. Bis er eines Tages nicht mehr hatte leugnen können, dass er krank war. Da hatte sie sich besonnen, ihr junges Leben und viele Dekaden am Horizont gesehen und war gegangen. Mit Bedauern zwar, aber ohne weiter zu zögern.
Dass ihm auch als Liebhaber etwas mangelte, hatte Ternijssen nie ernsthaft erwogen. Zumindest hatte er sich immer bemüht. Jetzt war er verletzt. Die wenigen Worte verdarben ihm nachträglich viele prickelnde Stunden der Lust, zerschlugen glückliche Erinnerungen und verstärkten seine Traurigkeit.
Was hatte der Engel im Sinn? Wollte er ihn fertig machen?
Mit Unbehagen öffnete Ternijssen den nächsten Umschlag.
»Glück.«
Er sah sein Leben Stück für Stück zerbrechen. Erst die Ehe, die Affäre seiner Frau, ihre unerwartete Schwangerschaft, die Unsicherheit, ob die kleine Barbara nicht doch seine Tochter war. Anschließend die Scheidung, das Haus. Danach die Kanzlei. Seine Liebschaft. Krankheit und Altersheim. Seine letzten Bilder, die nichts anderes als ein Zeugnis seiner zittrigen Hände waren.
»Was ist das?«, fragte er mit brüchiger Stimme. »Was ist in dieser Kiste?«
»Es ist deine. Sie ist der Schrein deiner Sehnsüchte. Sie bewahrt all die guten Nachrichten, die du nie erhalten hast«, sagte der Engel und schloss den Deckel.
Ternijssen zuckte vor Trauer. »Ich habe so sehr darauf gehofft, dass noch etwas Gutes passiert.«
»War es nicht genug Gutes?«
»Ich dachte, das Leben wäre mehr. Ich hatte keinen einzigen großen Wurf. Mir ist nichts Bleibendes gelungen.«
Nur undeutlich sah Ternijssen durch die Tränen, dass der Engel ihn mit Anteilnahme und Liebe ansah.
Ternijssen sagte: »Die Welt vor mir kam ohne mich zurecht. Die Welt nach mir wird ohne mich zurechtkommen. Aber auch die Welt mit mir kommt ohne mich zurecht. Ist das nicht traurig?«
Wieder nickte der Engel bedächtig und ließ sich Zeit, bis er fragte: »Hattest du womöglich die falschen Ziele? Hast du zu lange darauf gehofft, dass du jemand Besonderes bist?«
Ternijssen sah den Engel ärgerlich an. »Aber was wäre das Leben dann gewesen – wenn man nur so normal ist?«
»Was ist es denn gewesen?«
»Lau.«
Der Engel hustete und schlug in einer unwillkürlichen Bewegung mit den Flügeln. »Piet Ternijssen. Es wäre dein Leben gewesen, hier, jetzt. Weniger unzufrieden, bescheidener, nicht vorlaut und überheblich. Netter. Du hättest vielleicht wenigstens eines deiner Bilder mit Freude gemalt. Und nicht verbissen mit stechendem Ehrgeiz.«
»Lau«, wiederholte Ternijssen, in dem sich Trotz regte.
Für einen Augenblick wich die Freundlichkeit aus dem Antlitz des Engels und in einer fahrigen Geste schlug er eine Zeitschrift auf, die auf einem kleinen Tisch am Bett lag. Dann sagte er einladend: »Mehr Leben findest du bei dem, zu dem wir jetzt gehen. Das hättest du übrigens eher haben können.«
»Du kommst zu früh. Auch als kranker Mann kann ich gut und gerne noch zehn oder zwanzig Jahre leben.«
»Ich komme spät. Oder willst du dein laues Leben fortführen?«
Ternijssen sank in sich zusammen. Der Engel ergriff seine Hand, hielt sie für einen Augenblick, so dass Ternijssen die Behaglichkeit der Berührung nicht entgehen konnte, und zog ihn dann mit sich.Ternijssen sah, wie sein Körper das Bett verließ und doch darauf liegen blieb, wie er sich in die Luft erhob, wie sie die Zimmerdecke durchbrachen und einen dunklen Tunnel erreichten. Nur kurz schaute Ternijssen zum Ende des Tunnels, wo ein warmes Licht auf ihn wartete. Doch dann starrte er wie verzaubert auf eine Welt, die sich düster unter ihm ausbreitete.
»Was ist das?«, fragte er aufgeregt.
»Das ist dein Leben«, antwortete der Engel.
Und tatsächlich erkannte Ternijssen die Stationen seines Daseins. »Ich will zurück«, rief er und zappelte mit den Beinen.
Doch der Engel zog ihn weiter. Der strahlende Glanz vom oberen Ende fiel durch den Tunnel und tauchte Ternijssens Leben darunter in fahles Licht und düstere Schatten.
»Lass mich«, forderte er noch einmal.
»Das, mein Freund, ist die Hölle. Ein Leben, das du nicht als Leben erlebt hast. Geh nicht zurück.«
Doch mit einem kräftigen Ruck machte sich Ternijssen los und fiel. Er fiel tief und landete hart auf dem Boden neben seinem Bett. Ein stechender Schmerz durchfuhr sein Bein. Er wollte aufstehen, aber das Bein ließ es nicht zu. Mit aller noch verbliebenen Kraft zog er sich aufs Bett und tastete nach dem hellen Knopf an der Wand. Dreimal drückte er und sank dann erschöpft in die Kissen. Er wusste, dass das Pflegepersonal sein Klingeln hören würde.
~
Um sechs Uhr klingelte zaghaft der Wecker. Niclas Weber war sofort munter und stellte ihn aus. Er horchte, doch seine Frau war offenbar nicht wach geworden. Über Nacht war es im Schlafzimmer kalt geworden und Weber grauste es davor, die Bettwärme zu verlassen. Leise stand er auf.
Aus unerfindlichen Gründen musste er an Engel denken. Ob einer von ihnen den Schlaf seiner Familie bewacht hatte?
Weber huschte aus dem Zimmer. Behutsam zog er die Tür zu und schlüpfte schnell in einen dicken Morgenmantel.
In der Küche machte er Kaffee und setzte sich an den Tisch. Ein anstrengender Tag lag vor ihm, und er wollte unbedingt ein letztes Mal seine Unterlagen durchsehen, solange es noch ruhig war im Haus. Er ließ sich eine knappe Stunde Zeit und war danach deutlich zuversichtlicher, was sein heutiges Arbeitspensum anbelangte.
Als er nach einer Dusche aus dem Bad kam, hörte er gedämpfte Stimmen im Wohnzimmer. Er spähte durch den Türspalt und lächelte. Seine Kinder saßen vor dem Fernseher und berieten über die Wahl einer Sendung. Beide gingen zur Grundschule und verfügten, seit sie die Programmzeitschrift lesen konnten, über erstaunliche Fachkenntnis.
»Guten Morgen, Ihr Lieben«, sagte Weber.
»Guten Morgen, Papa«, antwortete Vanessa.
»Guten Morgen, Norman«, hakte Weber nach.
»Hallo, Papa«, brummte sein Sohn. »Vanessa will schon wieder ihr Mädchenprogramm gucken.«
»Wie wär’s, wenn Ihr Euch schnell anzieht? Und dann wecken wir Mama. Wir haben noch einiges zu erledigen heute Vormittag.«
»Och nö«, nörgelten beide, machten sich aber auf den Weg ins Badezimmer.
Weber nutzte die Zeit und deckte den Frühstückstisch. Im Anschluss ging auch er ins Bad, um den Kleinen beim Zähneputzen zu helfen. Er kämmte Norman das Haar und zwängte Vanessas blonde Mähne behelfsmäßig in einen Dutt.
»So, und jetzt gehen wir zu Mama«, meinte Weber. »Seid nicht gleich so laut und gebt Ihr einen Kuss.«
Zu dritt schlichen sie sich zum Schlafzimmer und traten auf Zehenspitzen ein. Hier war es immer noch dunkel. Die winterliche Dämmerung warf nur wenig Licht durch die engen Ritzen der Jalousie. Nichts rührte sich.
Norman krabbelte über Niclas’ Betthälfte zu seiner Mutter und gab ihr einen Kuss. Vanessa ging um das Bett herum und setzte sich auf die Kante.
»Guten Morgen, Mama«, sagte sie.
Als keine Reaktion kam, ruckelte Norman an der Schulter seiner Mutter und sagte laut: »Aufstehen, du Faulpelz, wir müssen noch einiges erledigen heute Morgen!«
Ein kurzes, merkwürdiges Zischen kam zwischen ihren Lippen hervor.
»Schatz, ist alles in Ordnung?«, fragte Niclas.
Auch darauf kam keine Antwort.
Niclas spürte ein plötzliches Unwohlsein im Bauch und knipste das Licht an. Ein glühend heißer Stich durchfuhr ihn. Sein Kopf war mit einem Mal wie in Watte gepackt.
Ellen Weber lag mit offenen Augen im Bett. Ihr Gesicht war blau angelaufen.
Vanessa schrie auf. Norman prallte zurück und rief: »Mama!« Weber sackten die Knie weg und er lehnte sich Halt suchend an die Wand. Für einen Augenblick war es still im Raum.
Dann kam die Gewissheit.
Niclas Weber telefonierte mit seinen Eltern, während der Arzt den Totenschein ausstellte und unterschrieb. Im Nebenraum hörte er undeutlich die Stimme einer Nachbarin, die sich kurzfristig um die Kinder kümmerte.
»Bitte macht Euch bald auf den Weg«, sagte Weber in den Hörer. Die Stimme am anderen Ende antwortete und Weber meinte: »Nein, sie wissen es noch nicht«, antwortete er. Wieder entstand eine Pause. »Ich werde ihre Eltern anrufen, sobald der Arzt fertig ist.« Seine Stimme war belegt und nur mit Mühe konnte er das Gespräch fortsetzen. »Ich mach jetzt Schluss. Die Kinder sollen nicht noch länger auf mich warten. Bis später. Tschüss.«
Weber legte das Telefon zur Seite und wandte sich dem Arzt zu, der bereits seinen Wintermantel anzog. »Und?«, fragte er.
»Herzattacke. Sie war sofort tot«, sagte der Arzt.
Weber sah das verfärbte Gesicht seiner Frau und hatte Zweifel daran, dass sie gestorben war, ohne es zu merken. Ohne zu leiden. Vermutlich wollte der Arzt ihn trösten. Erst recht an einem Tag wie diesem.
»Wann ist sie gestorben?«, wollte Weber wissen.
»Ich kann es nicht genau sagen. Vermutlich gegen 6:00 Uhr.«
Weber kniff die Lippen zusammen. Hatte sie noch gelebt, als er aufstand? Oder war sie da bereits tot? »Sie war völlig gesund«, sagte er schleppend.
Der Arzt erwiderte: »Tut mir leid für Sie und die Kinder. Es ist tragisch.«
Weber nickte.
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie das frage«, sagte der Arzt. »Haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie eine Obduktion wünschen?«
Weber sah den Arzt verständnislos an.
»Ich weiß, das ist ein schrecklicher Gedanke. Zu allem Überfluss. Aber nicht wenige Angehörige lassen ihre Verstorbenen obduzieren. Wenn der Tod in frühen Jahren eintritt. Sie wollen Gewissheit haben. Manche wollen auch sicher gehen, dass nicht irgendein Arzt gepfuscht hat.« Er räusperte sich. »Und manchmal will man sich schlichtweg vor übler Nachrede schützen.«
Weber starrte auf das unnatürlich dunkle Gesicht seiner toten Frau und rieb sich die Augen. »Nein, danke. Keine Obduktion.«
Der Arzt zuckte mit den Schultern und sagte: »Gut. Volles Verständnis.« Er nahm einige Bögen Papier und reichte sie Weber. »Diese Dokumente sind für Sie, für das Bestattungsinstitut und für die Behörden. Brauchen Sie persönlich noch etwas? Ein leichtes Beruhigungsmittel oder Schlaftabletten?«
»Geht nicht, ich muss heute voll da sein. Auch für die Kinder.«
»Ich erlebe ja viel in meinem Beruf«, meinte der Arzt, »und mittlerweile habe ich ein dickes Fell. Aber glauben Sie mir: Das hier geht sogar mir nahe.«
Sie gingen zur Wohnungstür, wo der Arzt Weber die Hand reichte und sich verabschiedete. Weber sah ihm nach und winkte lahm, als der Wagen das Grundstück verließ.
Draußen schneite es. Sie würden weiße Weihnachten bekommen, zum ersten Mal seit vielen Jahren. Für die Kinder wären dies die ersten weißen Weihnachten, die sie bewusst erlebten. Weihnachten im Schnee. Weihnachten das Familienfest. Weihnachten die schönste Zeit des Jahres.
Doch zuvor mussten sie gemeinsam diesen Tag überstehen. Dieser Tag war der Todestag seiner Frau. Und dieser Tag war Heiligabend.
Weber kam ins Wohnzimmer, wo seine Kinder den Baum schmückten. Die Lichterketten hingen bereits. Vanessa und Norman verteilten rote Christbaumkugeln an den Ästen. Es war still. Niemand sagte ein Wort. Keine Weihnachtsmusik war zu hören. Und die Frau, die den Kindern half, war nicht Ellen. Es war nur die Nachbarin. Er wollte etwas sagen, aber er wusste nicht, was. Schweigend gesellte er sich zu den Dreien und hing auch eine Kugel an den Baum. Gerne hätte er seine Kinder in den Arm genommen. Doch dann wäre es endgültig um seine Fassung geschehen. Und das konnte er sich heute nicht erlauben. In diesem Augenblick hasste er seinen Beruf, der ihn auch an solchen Tagen nicht frei ließ, der wie ein Krake über der Situation lauerte.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich muss noch einige Telefonate führen. Es geht nicht anders.«
Unbeachtet von seinen Kindern, die mit verquollenen Augen ein glanzloses Fest vorbereiteten, verließ er den Raum. Wenigstens lag der Anruf bei Ellens Eltern hinter ihm. Das Schluchzen ihrer Mutter hatte ihm schwer zugesetzt. Mehr als die hilflosen Blicke seiner Kinder. Vanessa, Norman und er standen unter Schock. Es war wie ein stillschweigendes Übereinkommen, dass dieser Tag trotz allem unter rein technischen Gesichtspunkten abzuwickeln war, dass Privatsphäre und Trauer der Restfamilie bis morgen warten mussten. Er bewunderte seine Kinder, die das verstanden, ohne dass sie darüber reden mussten, und die es akzeptierten. Innerlich beweinte er die Kleinen, die nicht nur ihre Mutter verloren hatten, sondern nun eine Stärke bewiesen, die viele Erwachsene nicht aufgebracht hätten.
Weber wusste, dass in diesem Augenblick die vier engsten Angehörigen auf dem Weg hierher waren und im Laufe des Nachmittags eintreffen würden. Der Gedanke gab ihm ein wenig Kraft, denn er wollte nicht mit den Kindern alleine sein. Er war überfordert. Die Fragen und Gefühle, die nun auf ihn einstürzten, hatte er unzählige Male bei anderen Trauernden erlebt. Stets war er der Antwortende und Tröstende. Mit einem Mal war er beides, Trauernder und Tröstender, und ertappte sich dabei, sich selbst Antworten zu geben. Doch liefen sie ins Leere.
Weber rief den Bestatter an. Es kostete ihn alle Überwindung, die er aufbringen konnte, doch Ellens Leichnam musste so schnell wie möglich abgeholt werden. Andernfalls würde sie bis morgen hier liegen und – er hasste sich für diesen Gedanken – das Schlafzimmer blockieren. Bei vier Gästen, die überstürzt anreisten und in diesem Haus nächtigen sollten, brauchten sie jedes Bett. Angesichts der Arbeit, die er heute noch zu erledigen hatte, würde er noch nicht einmal Zeit finden, sich in Ruhe und angemessen von ihr zu verabschieden. Und wenn seine und Ellens Eltern eintrafen, würde der Leichnam bereits nicht mehr hier sein.
In einem verzweifelten Versuch benachrichtigte er seine Kollegen, doch wie erwartet, konnte ihm niemand an diesem Tag helfen. Es blieb dabei, diesen Heiligabend musste er einfach durchstehen.
Er war Pastor, und an diesem einen Tag im Jahr warteten die Menschen zu Hunderten auf seine Gottesdienste. Bis spät in den Abend hinein würde er mit ihnen die fröhliche, gnadenbringende Weihnachtszeit besingen. Der Tod seiner Frau rechtfertigte nicht, sie alle vor verschlossenen Türen stehen zu lassen.
Das Telefon klingelte. Unwillkürlich dachte Weber an seine heimliche Liebe, die ihn manchmal nachts anrief. Seit zwei Jahren hatte er eine Freundin. Zurzeit kriselte es zwar, aber er war immer noch froh, dass sie da war. Weber verkörperte alle Klischees. Er hielt seine Ehe für gescheitert und liebte eine andere. Doch um der Kinder willen und aus beruflichen Gründen blieb er bei seiner Frau. Seine Freundin hatte allmählich die Nase voll davon. Weber sehnte sich in diesem Moment sehr nach ihr und fand sich abscheulich. In gewisser Weise beruhigte es sein Gewissen, dass ihn Ellens Tod trotzdem so tief traf.
Er sah auf das Display des Telefons und erkannte die Nummer. Es war das Krankenhaus. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass an den Feiertagen kein Trauergespräch auf ihn zukam. »Weber«, meldete er sich.
»Guten Tag, Herr Pastor Weber«, sagte eine Stimme. »Hier ist das Kreiskrankenhaus. Schwester Johannis am Apparat.«
»Guten Tag, Schwester Johannis.«
»Es tut mir leid, dass ich Sie an Heiligabend mit schlechten Nachrichten behelligen muss.«
»Ist schon gut.«
»Ihr Kirchenvorstand Piet Ternijssen wurde heute Vormittag eingeliefert. Oberschenkelhalsbruch. Er fragt, ob Sie ihn in den kommenden Tagen besuchen können?«
»Ja … Ja, sicher.«
»Er lässt ausrichten, er müsse Ihnen dringend etwas erzählen. Vielleicht können Sie sich ja über Weihnachten eine Stunde für ihn Zeit nehmen.«
»Ich schau, was sich einrichten lässt.«
»Er betont, Sie können zu jeder Tageszeit kommen.«
»Aha, gut.«
»Frohe Festtage!«
»Ihnen auch.«
Weber überstand den schweren Augenblick, als der Bestatter den Leichnam seiner Frau abholte. Weber überstand auch den Familiengottesdienst für die Kleinsten am Nachmittag. Er fand sogar ein wenig Halt in dem, was er tat. Anschließend kehrte er auf eine Tasse Kaffee ins Pfarrhaus zurück.
Ellens und seine Eltern waren in der Zwischenzeit eingetroffen und wuselten geschäftig herum. Er sah, wie seine Mutter einige Geschenke vor den Kindern versteckte, und fragte sich, ob Vanessa und Norman die Gaben des Christkindes überhaupt noch haben wollten.
Er saß in der Küche, goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein und sah Vanessa an. Sie kam die wenigen Schritte zu ihm herüber und legte ihren Kopf an seine Schulter. Er nahm sie in den Arm und winkte auch Norman zu sich.
Dies war der erste Augenblick seit jenen schrecklichen Minuten am Morgen, dass sie als Familie allein waren. Niemals zuvor hatte er sich mit seinen Kindern so verbunden gefühlt wie jetzt. Und es lag Reue in diesem Gefühl, die Reue, dass solche Momente der Innigkeit nicht früher stattgefunden hatten. Als sie noch zu viert gewesen waren.
Doch jäh wurden diese Regungen unterbrochen, als Ellens Eltern in die Küche kamen. Die Kinder machten sich von ihm los und sofort begann er wieder, die innere Spannung für den nächsten Gottesdienst aufzubauen.
Wenn es die Engel gab, von denen er zu Weihnachten predigte, wo waren sie dann? Stand in diesem Augenblick einer neben ihm und verhinderte, dass er zusammenbrach? Er sah über die Schulter.
»Es wird Zeit. Ich gehe rüber in die Kirche. Gegen 18:00 Uhr bin ich wieder hier.«
Er verließ das Haus. Es war bereits dunkel und das Schneetreiben hatte seit dem Vormittag nicht nachgelassen. Die kurze Strecke bis zur Kirche versteckte er sich unter einem Schirm. Als er sich dem Portal näherte, kam er an zwei Frauen vorbei und hörte, wie eine zur anderen sagte:
»Und ihr Gesicht soll ganz blau gewesen sein!«
»Nein, das ist aber merkwürdig!«
Weber blieb die Luft weg, doch er zwang sich weiter zu gehen. Woher wussten sie das? Er fluchte leise auf die Gerüchteküche seiner Gemeinde. Schnell öffnete er die schwere Tür und huschte ins Gebäude.
~
Barbara Landgraf fragte sich, wer an Heiligabend bei ihr klingelte. Sie flitzte die Treppe hinunter und machte die Haustür auf. Draußen stand ein Engel, der bei ihrem Anblick den Kopf zur Seite legte und sie musterte.
Sie sah jedoch nur den Postboten, der ein Kuvert in der Hand hielt und fragte: »Frau Landgraf?«
»Ja, das bin ich.«
»Hier ist ein Einschreiben für Sie«, sagte der Postbote und überreichte ihr den Briefumschlag. »Würden Sie bitte da unterschreiben?«
Sie nahm den Stift und setzte ihren Namen auf ein unhandliches Display.
Ein eisiger Windstoß drückte die Tür weit auf und der Engel trat ein.
»Frohes Fest!«, wünschte der Postbote und war schon wieder auf dem Weg zu seinem Wagen.
»Frohes Fest Ihnen auch!«, sagte sie und trat zurück ins Haus.
Neugierig sah sie den Umschlag an. Absender war eine Kanzlei aus Hamburg. Was hatte das zu bedeuten? Der Brief war eindeutig an sie adressiert. Sie begab sich ins Wohnzimmer, wo bereits ein hübsch dekorierter Weihnachtsbaum stand und auf die Dunkelheit wartete. Sie nahm auf dem Sofa Platz und nippte an ihrem Mineralwasser. Auf dem Tisch lag ein Kugelschreiber, den sie nutzte, um den Umschlag zu öffnen. Dann entfaltete sie das Schreiben und las:
Sehr geehrte Frau Barbara Landgraf,
im Namen der Notare Benson, Diggory & Marsh, London, setzen wir Sie in Kenntnis, dass die am 12. Dezember verstorbene Sophia Smith, zuletzt wohnhaft in London, Sie testamentarisch als Alleinerbin eingesetzt hat. Die Testamentseröffnung ist am 30. Dezember um 10:00 Uhr Ortszeit in den Büros der Notare Benson, Diggory & Marsh in London. Sie sind gebeten, sich dort zum genannten Termin einzufinden. Im Falle Ihrer Verhinderung bitten wir Sie, sich umgehend mit uns in Verbindung zu setzen. Das Schreiben der Notare Benson, Diggory & Marsh fügen wir in Kopie bei.
Freundliche Grüße, Dr. Heribert Rust
Notare Winkel, Rust & Deylman
Mit offenem Mund saß Barbara Landgraf da und las den Brief noch einmal.
Es war erst wenige Tage her, dass sie extra zur Beerdigung nach London gereist war. Der Tod ihrer ehemaligen Nachbarin hatte sie getroffen. In Hamburg hatten sie für zwei Jahre auf demselben Stockwerk eines noblen, alten Mietshauses gewohnt und schnell ein herzliches Verhältnis entwickelt.
Barbara Landgraf hatte gewusst, dass Sophia Smith wohlhabend war. Ihr war auch bewusst gewesen, dass Sophia Smith einen Narren an ihr gefressen hatte. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie sie beerben würde. Zwar hatte sie sich stets gewundert, wie einsam ihre Nachbarin lebte, es jedoch darauf geschoben, dass Smith Britin war und ihre Angehörigen vermutlich auf der Insel lebten.
Vor zwei Jahren dann hatte sich Barbara Landgraf beruflich verändert und war aus Hamburg weggezogen. Kurz darauf war auch die alte Dame nach London zurückgekehrt und hatte ihr mitgeteilt, dass sie unheilbar erkrankt war. Landgraf hatte sie noch dreimal dort besucht und ihre Aufenthalte in London genossen. Ihr vierter Besuch fand dann leider schon anlässlich der Beerdigung statt.
Und jetzt war sie Erbin.
Siedend heiß fiel ihr plötzlich der andere Brief wieder ein und sie sprang auf. Bei ihrem letzten Besuch zu Lebzeiten hatte Sophia ihr einen Brief in die Hand gedrückt und gesagt: »Aber erst öffnen, wenn ich gestorben bin.«
»Sophia …«, hatte Barbara vorwurfsvoll geantwortet.
»Versprich es mir. Erst wenn ich tot bin.«
»Ich verspreche es.«
Und dann hatte sie den Brief verloren. Sie war sich zwar sicher, dass sie ihn mit nach Deutschland gebracht hatte, doch sie konnte ihn einfach nicht mehr finden.
Barbara Landgraf eilte in den Flur, vorbei an dem Engel, der ihr mit einem Lächeln nachsah. Im Büro sah sie sich zum wiederholten Male um. Wo konnte der Brief nur geblieben sein? Der Engel trat hinter sie, legte seine Hand auf ihre Wange und drückte ihren Kopf nur um Millimeter nach links. Da fiel Barbara Landgrafs Blick auf die Wand. Sie schlug sich auf die Schenkel. Na klar, sie hatte die alte Handtasche dabei gehabt! Weil sie größer war als die anderen. Sie nahm das leicht verschlissene Modell vom Haken an der Wand und öffnete den Verschluss. Dort steckte der Brief ihrer Freundin, mit zittriger Hand adressiert an »meine liebe Barbara«.
Sie strich liebevoll über die Buchstaben und ging gerührt zurück ins Wohnzimmer. Mit dem Kugelschreiber öffnete sie das Kuvert und setzte sich. Es bereitete ihr Mühe, die unsichere alte Handschrift zu lesen, doch sie kämpfte sich tapfer durch die ersten Zeilen.
Meine liebe Freundin Barbara,
dies soll mein letzter Gruß an dich sein. Ich denke voller Liebe und Freundschaft an dich, immer wieder, jeden Tag. Unsere gemeinsame Zeit in Hamburg hat mir die letzten Jahre versüßt. Ich bin zu alt geworden. Alle sind sie vor mir gegangen. Ich hatte nie Kinder und war bitter und einsam. Von Herzen danke ich dir, dass du das Leben in mein tristes Dasein zurück gebracht hast.
Ich weiß, dass du das nie gewollt hättest, aber ich möchte meiner Dankbarkeit Ausdruck verleihen, indem ich dich zu meiner Alleinerbin mache. Vielleicht war ich im Innersten immer eine misstrauische alte Ziege und habe dir deshalb nie von meinen Besitztümern erzählt. Tatsächlich war ich reich genug, um die letzten Jahrzehnte mehr als sorgenfrei leben zu können.
Was davon nach meinem Tod übrig geblieben ist, vermache ich dir.
Ich besitze Ländereien in Texas, auf denen vor zwanzig Jahren Erdöl gefunden wurde, und davon nicht wenig. Da ich von diesen Dingen nichts verstehe, habe ich mich mit guten Leuten arrangiert, die alles treuhänderisch für mich verwalten. Du musst dich um nichts kümmern, außer dass die Treuhänder stets deine aktuelle Bankverbindung kennen. Und wenn du dich damit abfindest, dass du womöglich trotzdem nicht alles bekommst, was dir zusteht, dann wirst du gut leben können. Denn bei der letzten Schätzung, die ich vor zwei Jahren vornehmen ließ, waren die verbliebenen Rohölvorräte etwa 150 Millionen Dollar wert – entsprechend den damaligen Notierungen. Du wirst monatlich mehr Geld erhalten, als du ausgeben kannst.
An dieser Stelle konnte Barbara Landgraf nicht mehr weiterlesen. Langsam erhob sie sich vom Sofa. Dann stieß sie den Jubelruf ihres Lebens aus und sprang wie verrückt durchs Zimmer.
Eine halbe Stunde später saß sie mit einem Glas Sekt auf dem Teppich, den Brief immer noch in den Händen, und überlegte, ob sie ihren 3er BMW gegen einen Porsche tauschen sollte.
Sie hatte inzwischen auch den Rest des Briefes aufmerksam gelesen. »Genieße dein Leben, das Geld dazu hast du nun.« – »Sei wohltätig.« – »Leg höhere Beträge gut und sicher an. Du weißt nie, was kommt.« – »Überlege dir gut, wem du erzählst, dass du reich bist.« – »Genieße dein Leben. – »Genieße dein Leben.«
Der Nachmittag verstrich mit herrlichen Gedanken und verrückten Ideen, die herrlich und verrückt blieben, obwohl sie nun tatsächlich realisierbar waren.
Sie hatte es noch niemandem erzählt. »Überlege dir gut, wem du erzählst, dass du reich bist …« Da war jemand, dem sie sonst alles erzählt hatte. Doch der war in diesem Augenblick bei seiner Familie und bereitete sich auf Weihnachten vor. Sie als heimliche Geliebte blieb außen vor und feierte Heiligabend allein.
Einmal mehr verachtete sie sich dafür, dass sie sich auf ein solches Spiel eingelassen hatte. Und plötzlich wusste sie, dass sie es ihm nicht erzählen würde. Vielleicht war dies der richtige Zeitpunkt, ihn zu verlassen.
Aber sie musste es trotzdem irgendwem sagen. Am Abend würde sie mit ihren Eltern telefonieren. Ihnen würde sie es mitteilen. Oder sollte sie besser damit warten, bis das Geld wirklich floss?
Nachdenklich hielt sie inne. Ihr Leben war völlig umgekrempelt. Plötzlich und unerwartet. Alles hatte einen schöneren, freundlicheren, hoffnungsvolleren Anschein. Und sie dachte, dass diese Augenblicke etwas Besonderes waren – selbst wenn sich am Ende alles als Irrtum herausstellte. Zugleich wusste sie, dass es keinen Irrtum geben würde. Sie konnte ein neues Leben beginnen. Im Nachhinein erwies sich der unglaubliche Stress, den sie für den beruflichen und finanziellen Erfolg auf sich genommen hatte, als wertlos. Es hatte genügt, dass sie eine nette Frau war, um reich zu werden. Gut, das hatte niemand vorhersehen können. Es war vernünftig gewesen, sich zu bemühen. Dennoch blieb eine unausgesprochene Frage haften. Wie nur stellte man sie richtig? Welchen Wert hatte ihr bisheriges Leben nachträglich? Angesichts der neuen Umstände?
Der Engel, der die ganze Zeit über bei ihr gewesen war, nickte anerkennend und verließ sie.
Der Abend war weit voran geschritten. Sie hatte eine Heiligabendparty mit Freunden abgesagt, weil sie dieses Ereignis ungestört und ungetrübt auskosten wollte. Und sie fühlte sich unglaublich gut, bereute das Alleinsein nicht. Immer wieder lachte sie über das erstaunte Schweigen ihrer Eltern am Telefon. Was für eine Bescherung! Solch glückliche Weihnachten hatte sie noch nie gehabt.
Sie war schon halbwegs entschlossen, sich schlafen zu legen, als das Telefon klingelte. Sie kannte die Nummer.
»Hallo, Niclas, Liebster, frohe Weihnachten!«
»Hallo, Barbara, dir auch frohe Weihnachten.«
Etwas in seiner Stimme bremste Barbara Landgraf. »Du rufst einfach so an? Schläft deine Frau schon?«
»Piet ist im Krankenhaus.«
»Oje«, sagte sie, obwohl es sie nur bedingt betraf. Piet Ternijssen war der Ex-Mann ihrer Mutter. Sie kannte ihn nicht besonders gut, wusste aber, dass er seit Jahren unter der Parkinsonschen Krankheit litt.
Niclas Weber fuhr fort: »Er hat sich ein Bein gebrochen. Ich wollte jetzt zu ihm. Die Kinder schlafen. Ihre Großeltern sind da und passen auf. Hast du nicht Lust, mitzukommen?«
»Du kommst auf Ideen! Wieso gerade jetzt?«
»Es könnte die einzige Gelegenheit sein in den kommenden Tagen. Piet ließ mich gerade noch einmal anrufen. Irgendetwas möchte er dringend loswerden. Er will mich sehen. Und ich möchte dich sehen.«
~
Gemeinsam sahen sie durch das große Fenster in die Nacht hinaus. Auf der Rasenfläche vor dem Krankenhaus glitzerte ein Christbaum. Auch von den angrenzenden Straßen strahlte die weihnachtliche Beleuchtung herüber.
Piet Ternijssen hatte die Operation seines Beines bei lokaler Anästhesie gut überstanden. Die Medikation noch im Leib, machte er einen angeschlagenen Eindruck. Er saß im Rollstuhl und lehnte seinen Arm auf die Fensterbank. Es war kein Traum gewesen, keine Illusion. Er hatte mit einem Engel gesprochen und war dem Tod nur knapp entronnen. Doch für wie lange? Sollte er Barbara Landgraf noch damit konfrontieren, dass sie womöglich seine Tochter war? Sie und Niclas Weber hatten seine Geschichte gehört. Barbara Landgraf hatte ihn anschließend mit Fragen gelöchert, bis es plötzlich aus Weber herausgeplatzt war, dass seine Frau heute Morgen tot im Bett gelegen hatte. Damit war jedes weitere Gespräch im Keim erstickt. Sie hatten zu dritt geweint. Und seitdem waren sie hier und sahen schweigend aus dem Fenster.
Niclas Weber stand neben Ternijssen und rang hin und wieder die Hände. Sein Blick war auf den geschmückten Baum geheftet. Er kämpfte mit seiner Trauer und kämpfte zugleich mit dem wahnwitzigen Gedanken, dass sein Weg zu Barbara Landgraf nun frei war. Er dachte an die Frauen vor dem Kirchenportal und fürchtete das Gerede, das dann einsetzen würde.
Barbara Landgraf war in Bewegung. Immer wieder wechselte sie ihr Standbein. Ihr Blick wanderte unstet zwischen Niclas und der Winternacht hin und her. Dieser Tag forderte einen gedanklichen und emotionalen Spagat, der ihr nicht gelingen wollte. Konnte sie ihn unter diesen Umständen verlassen? Und wenn sie blieb, sollte sie ihm dann von der Erbschaft erzählen? Oder sollte sie ihn anlügen und erst gehen, wenn das Schlimmste für ihn überstanden war?
Der Engel stand abseits, vernahm die Gedanken und wartete auf Piet Ternijssen.
Schließlich sagte Barbara Landgraf: »Was ist, wenn das Leben keinen Sinn hat? Wenn all diese Dinge einfach nur so passieren? Wenn unser Leben die Marionette unzähliger Fäden ist, an denen die unterschiedlichsten Menschen und Ereignisse ziehen?«
»Nicht zuletzt wir selbst«, ergänzte Piet Ternijssen.
»Was ist«, fragte Niclas Weber, »wenn es doch einen Sinn gibt? Und wenn er jenseits unseres Lebens liegt? Wenn er immer da ist? Unabhängig von unserem Dasein?«
»Dann könnte am Ende immer noch alles gut werden«, sagte Ternijssen.
»Ändert das unsere Gegenwart?«, fragte Barbara Landgraf.
»Möglich«, sagte Niclas Weber.
»Wenn wir den Sinn rechtzeitig erkennen«, meinte Ternijssen mehr zu sich selbst als zu den anderen.
»Sinn würde die Gegenwart verändern«, sagte Niclas Weber.
»Und nicht die Vergangenheit«, sagte Barbara Landgraf und beantwortete ihre Frage vom Nachmittag.
»Warum auch? Da nützt er nichts mehr«, sagte Piet Ternijssen.
Langsam erhob der Engel die Arme wie zu einem Segen. Dann ließ er sie mit halbkreisförmigen Bewegungen zügig nach unten sinken. Vom tiefsten Punkt aus gab er seinen Händen einen sanften Ruck aufwärts, die Handflächen nach oben.
Piet Ternijssen drehte sich um und sah dem Engel ins Gesicht. Kein Entsetzen, kein Widerstand war mehr in seinem Blick, sondern Einverständnis.
Barbara Landgraf atmete tief durch. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Vielleicht würde es Niclas vorübergehend den Boden unter den Füßen entziehen. Aber wenn sie jetzt nicht ging, würde sie vermutlich zu schnell zu tief in eine Rolle verstrickt, die sie nicht wollte.
Niclas Weber dachte an seine Kinder. Er würde die Prioritäten in seinem Leben neu setzen. Es war nichts wichtiger, als dass er jetzt für seine Kleinen da war. Der innige Augenblick mit Vanessa und Norman am Nachmittag war der Wendepunkt gewesen. Barbara würde bis auf weiteres zurückstecken müssen.
Piet Ternijssen versuchte, sich dem Engel zu nähern. Doch es ging nicht. Sein Körper hinderte ihn. Und es gelang ihm nicht, diese lästige Hülle hinter sich zu lassen. Er begann heftig zu keuchen. Erschrocken beugte sich Barbara Landgraf zu ihm hinunter.
»Einen Arzt«, rief Niclas Weber, »wir brauchen einen Arzt.«
Liebe findet ihren Weg
Gott wird Mensch. Das bedeutet Weihnachten. Das Christentum ist mit dieser Botschaft nicht allein. Auch andere Religionen verkünden die Menschwerdung ihrer Götter. Der Unterschied aber besteht im Glauben daran, weshalb Gott Mensch wird. Er kommt, um die Menschen zu retten, er kommt um ihretwillen, er kommt aus Liebe zu seinem Geschöpf.
Karfreitag ist der Tag, an dem Menschen diese Liebe in gründlicher Konsequenz ablehnen. Die menschgewordene Liebe Gottes endet am Kreuz. An Ostern hält Gott dagegen, dass seine Liebe dennoch dem Menschen gilt. In der Auferstehung trotzt die menschgewordene Liebe der Ablehnung.
Liebe findet ihren Weg. Das ist Advent. Ins Dunkle kommt das Helle. Zum Abgewandten kommt der Zugewandte. Ins Zeitige kommt das Ewige. Zum Menschlichen kommt das Göttliche. In der Adventszeit harrt die Kreatur auf die Liebe, die einen Weg sucht, bis sie ihn findet.
Silvester 2024
Sie werden fehlen, die Menschen, die in ihren Nischen der Weltgeschichte die Jahrzehnte zusammenhielten und nun für immer gingen. Es tat gut, dass sie da waren.
Sie werden nicht fehlen. Das Regime in Moskau, das Regime in Teheran, das Regime in Peking, das Regime in Pjöngjang, das Regime in Kabul, die Kriegstreiber im Nahen Osten. In ihren Nischen der Weltgeschichte werden sie weiterhin für unermessliches Leid sorgen. Es liegt ein Schatten über der Welt, weil sie da sind.
Sie werden wiederkommen. Warme Winter, heiße Sommer, Kälteperioden, Dürre, Überschwemmungen, Stürme, Waldbrände, ausgelaugte Böden, Wassermangel, magere Ernten. In ihrer Nische der Weltgeschichte zeigen sie, dass wir es zu weit getrieben haben. Es erhöht den Druck auf uns, dass sie da sind.
Sie werden nicht wiederkommen. Das Artensterben geht weiter. In ihren Nischen der Weltgeschichte verarmt die Vielfalt der Natur. Es erhöht den Druck auf uns, dass sie weg sind.
Sie werden bleiben. Erinnerungen an Augenblicke des Erfolgs, des Glücks, der Liebe, der Zuversicht. Sie prägen die Nische der eigenen Weltgeschichte. Es treibt uns an, dass es sie gibt.
Sie werden gehen. Die Jahre kommen und verstreichen. Vielleicht war 2024 für viele ein gutes Jahr. Womöglich wird 2025 ein gutes Jahr. Der globale Blick auf unsere Nische der Weltgeschichte fällt auf eine recht düstere Zeit. Rückblick und Ausblick auf das eigene Leben bleiben hoffentlich heller. Es braucht diese Standortbestimmung, bei der Licht und Schatten ins Verhältnis gesetzt werden.
An Silvester wird ein weiteres Jahr für unsere Erinnerungen konserviert. An Neujahr zeigt sich, wie offen die Zukunft ist. Dazwischen erklingt der zarte Ton der Sektgläser. Abschluss und Aufschluss. Kommt gut ins neue Jahr.