Dirk Röse Keyvisual

WELT

Gesellschaft. Mensch. Geschehen.

Dirk Röse Nachhaltig

Komfortzone Klimawandel

Unermüdlich weisen die Wissenschaftler:innen darauf hin, dass sich die Erde schneller erwärmt als bislang angenommen, dass die Zeit drängt und dass es noch nicht zu spät ist, die Pariser Klimaziele zu erreichen. Doch das ist nur Augenwischerei. Der fortschreitende Klimawandel ist unumkehrbar. Das liegt nicht daran, dass wir die Erderwärmung und die Umweltzerstörung nicht aufhalten könnten. Es liegt daran, dass wir es nicht wollen. Niemand kann ernsthaft davon ausgehen, dass China seinen Energieverbrauch drosselt. Niemand kann davon ausgehen, dass Europa seinen Überfluss einschränkt. Niemand kann erwarten, dass die FDP eine Verkehrswende einleitet. Die Rechnung ist einfach: Acht Milliarden Menschen können nicht nachhaltig sein. Acht Milliarden Menschen trachten danach, ihr Leben zu verbessern und die Komfortzone zu verbreitern oder zumindest den erreichten Standard zu bewahren. Diesem Muster folgen sogar alle Entwicklungen, die Nachhaltigkeit und steigende Lebensqualität vereinen wollen. Das materielle Leben darf unter den Maßnahmen gegen Klimawandel und Umweltzerstörung nicht leiden. So wird es aber nicht gehen. Die Lösung liegt im Verzicht. Das werden acht Milliarden Menschen niemals akzeptieren. Weil der Mensch unumkehrbar ist, bleibt auch der Klimawandel unumkehrbar.

Dirk Röse Achse der Egomanen KI

Achse der Egomanen

Ja, es ist eine verstörende Zeit. Donald Trump wird zum zweiten Mal US-Präsident und die Zweifel am gesunden Menschheitsverstand nehmen zu. Die Ampel-Koalition ist Geschichte und die Sorge um eine tragfähige politische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland wächst.

Strahlender Sieger dieser Tage ist die Unberechenbarkeit. Niemand weiß, welche Entscheidungen aus dem Weißen Haus kommen, was aus der NATO wird, wie sich die EU nun aufstellen muss, auf welchen Rückhalt die Ukraine zählen kann, mit welchen Eingriffen sich die Weltwirtschaft auseinandersetzen muss. Niemand weiß, wie stabil die Mehrheit einer CDU-geführten Regierung im nächsten Jahr ausfallen wird, ob Friedrich Merz überhaupt kanzlertauglich ist, wie sehr AfD und BSW bei der Bundestagswahl von den Kapriolen profitieren werden, ob Nachhaltigkeit noch eine Rolle spielen wird.

Die drei mächtigsten Länder der Welt werden fortan von Xi Jinping, Wladimir Putin und Donald Trump regiert. Viel schlimmer geht es nicht. Doch erschütternd viele Menschen, Parteien und Länder begeistern sich für diese Achse der Egomanen, die dabei ist, die Welt unter sich aufzuteilen.

Kluft zwischen Politik und Bevölkerung

Nennenswerte Teile der deutschen Bevölkerung entwickeln eine große Distanz zu unserem Staat in seiner heutigen Form und wenden sich Parteien am rechten Rand zu. Sieben Thesen, woran das liegen könnte:

1. Unsere Gesellschaft verlangt nach Eigenverantwortung. Das Selbst und die eigene Rolle im Leben und in der Gesellschaft müssen weitgehend selbst definiert werden. Noch bekannte Leitplanken weichen immer weiter auf. Und obwohl wir vorgeblich in der besten aller denkbaren Gesellschaftsformen leben, fühlt sich das Leben oft danach an, als würde man es nicht selbst leben, sondern als würde man von Politik, Wirtschaft und nebulösen globalen Verstrickungen fremdbestimmt. Der gefühlte Kontrollverlust über das eigene Leben nimmt zu.


2. Das Leben vieler Menschen ist durch Stillstand geprägt. In privater, sozialer, beruflicher und monetärer Hinsicht entwickelt sich nichts zum Besseren. Die Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg sind begrenzt und die Verteidigung des als ungenügend empfundenen Status Quo wird zum Lebensinhalt. Die Politik wird als selbstverständliche, unnahbare und ungenügende Instanz wahrgenommen, denn trotz permanenter Präsenz in den Medien mit viel Blabla bleiben deutlich spürbare positive Effekte der politischen Entscheidungen aus.


3. Die Corona-Pandemie brachte für viele Menschen zum ersten Mal unmittelbar erlebbare Konsequenzen aus dem politischen Handeln. Doch die Maßnahmen bestanden in langanhaltenden Einschränkungen der persönlichen Freiheit, in negativen wirtschaftlichen Folgen und im massiven Druck, sich mit hals-über-kopf entwickelten Impfstoffen behandeln zu lassen. Dies hat die Kluft zwischen Politik und Teilen der Bevölkerung deutlich vergrößert.


4. Klimawandel, globalisierte Wirtschaft und Politik in Krisen- und Kriegszeiten schaffen eine schwer zu durchschauende Drohkulisse, die auf der Seele lastet und die Sicherheit des eigenen Lebensumfelds infrage stellt. Wohlstand und Demokratie wurden bislang als Selbstverständlichkeit wahrgenommen, die von der Politik stets zu gewährleisten sind. Doch es verstärkt sich der Eindruck einer hilflosen und desorientierten Politik, die das Land und seine Menschen nicht mehr bewahren kann.


5. Social Media machen es leichter, Gleichgesinnte zu finden und sich mit ihnen zu vernetzen. Sie erleichtern den Zugang zu Inhalten, die die eigene Meinung bestätigen und verstärken. Ihre Funktionsweise unterstützt den Konsum immer mehr vergleichbarer Inhalte sowie eine gedankliche Sogwirkung, die sich zügig auch auf andere Themen erstreckt. Verschwörungstheorien und alternative Wahrheiten finden schnell fruchtbaren Boden. Die vermeintliche Anonymität des Internets erleichtert die Überschreitung gedanklicher und verbaler Grenzen. Die Sicherheit virtueller und realer Gruppen verstärkt latente Neigungen zu Hass, Hetze und Gewalt.


6. Im reichen Deutschland mit zahlreichen Wohlhabenden leben viele Menschen unter bescheidenen oder sogar prekären Umständen. Statt mit den Steuergeldern dafür zu sorgen, dass sich der Lebensstandard und die Lebensumstände der eigenen Bürger:innen verbessern, wird das Geld für Asylsuchende, Entwicklungshilfe und Waffen für die Ukraine ausgegeben. Viele Menschen fühlen sich durch die Regierenden betrogen und geben ihre Wahlstimme lieber jenen, die mit einer solchen Politik Schluss machen wollen.

7. In allen Bildungsschichten gibt es zahlreiche Menschen, denen durch eine liberale, queere, woke oder sonst wie ausgerichtete freiheitliche Entwicklung identitätsstiftende Konturen unserer Gesellschaft verloren gehen. Und in wohlhabenden Kreisen macht sich offenbar eine menschenverachtende Gleichgültigkeit breit, die ungeachtet möglicher gesellschaftlicher Konsequenzen selbstverliebt und gedankenlos rechtes Gedankengut übernimmt. Beide Strömungen resultieren aus einer Überheblichkeit, bei der nichts mehr eine Berechtigung hat, das sich jenseits des eigenen Horizontes bewegt.


Trotz der bedenklichen Entwicklungen in der Bevölkerung und in der Parteienlandschaft gibt sich die Politik bislang keine Mühe, die Hintergründe zu durchleuchten, zu verstehen und gegenzusteuern. Ob aus dieser Ignoranz eine ernsthafte Bedrohung resultiert, werden die ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst des Jahres zeigen. Bis zu einem bestimmten Grad haben die demokratischen Parteien aber bereits schmerzlich an Rückhalt in der Gesellschaft eingebüßt.

Polarisierung

Das Problem unserer Zeit ist die Polarisierung. Die bislang stabile und stabilisierende Mehrheitsmacht der ausgeglichenen Mitte dünnt aus. Man könnte das als individuellen und gesellschaftlichen Reifeprozess einer zunehmenden Mündigkeit deuten, bei dem die Meinung der breiten Masse durch Meinungsvielfalt ersetzt wird. Doch in Wahrheit werden Burgen gebaut, dicke Mauern hochgezogen, Gräben angelegt und Feindbilder geschaffen. Es wird immer schwerer, einen sachlichen Diskurs zu führen und einen Konsens zu finden. Eine zu starke Polarisierung spaltet die Gesellschaft. Kommen Polemisierung und Radikalisierung hinzu, gibt es keine direkten Wege mehr aufeinander zu.

Was in Deutschland mit Pegida und Querdenkenden begann, hatte seinen polarisierenden Durchbruch im Streit gegen die Corona-Impfungen und schlägt sich nun im hohen Zuspruch für die AfD nieder. Inzwischen ist halb Europa polarisiert durch rechtsorientierte Parteien, durch die propagandavernebelte Haltung zu Russlands Krieg gegen die Ukraine und das Feindbild Migration. Auch die US-Wahl wird unter stark polarisierten Blöcken entschieden.

Wir brauchen wieder ein Bewusstsein dafür, dass Demokratie nur im begrenzten Maße eine Polarisierung verträgt. Demokratie braucht Mäßigung. Demokratie braucht Diskussionen, Meinungen und Entscheidungen, die für eine überwiegende Mehrheit tragbar sind. Demokratie braucht Bürger:innen, die mittragen, die zur Not erdulden, was gegen ihre Überzeugung ist. Demokratie braucht keine Ja-Sager, aber sie braucht erst recht keine notorischen Nein-Sager. Demokratie braucht ein Bewusstsein dafür, dass wir vom Kompromiss leben.

fern·weh

knie fall auf knall

es brand wunde

ruck zuckt bein

zerr das fetzt

bruder bluts du

schwester heer zersetzt

kind ende zweit

vater vereins dammt

mutter weinet sehr

stille toten

friede in ruh

da nach richten

 

*switch*

 

hier auf richten

bleibe weh fern

lebe mein kind 


anklage

es gibt kein feuer ohne rauch
doch rauch ohne feuer
tut's für dich auch

leben ins leere

männer humpeln aus dem krieg 

hinter sich die hölle 

erinnerung klebt an verdichtetem leben 

unerträglich die belanglosigkeit des friedens 

 

menschen klammern sich an das system 

hinter sich der untergang 

sehnsucht hängt an der vision 

unerträglich, wenn sinn zu unsinn wird 

 

menschen werden geopfert 

hinter sich, der nur sich selber kennt 

im innern klafft zusammenhalt 

unerträglich wie nichtig das wir 

 

leben ins leere 

sie kehren nicht heim 

ihre seelen kauern am straßenrand 

und betteln um almosen


bekenntnis

neulich beim aufmarsch der reichsbürger: 
»ich mag ja keine afrikaner, 
weil die noch brauner sind als ich.«

weltuntergang

saget mir nicht, dass die welt untergeht

lasst mich dumm sterben, wenn der feuersturm weht

 

ich reih‘ mich gern ein in ausschweifende feste

taub, stumm, blind ich mich an gesang, wein, weib mäste

 

beklag‘ gern mit euch die tragik der welt

doch lasst mich perplex sein, wenn zusammen sie fällt

 

‘s ist schrecklich und schön hier, keine meinung dazu

verfallt ihr in panik, lasst mir meine ruh

 

das große, komplexe, das wider und für

das gute, das böse ist mir viel zu schwer

 

lasst mich in dem glauben, dass fort sie besteht

will nichts davon wissen, dass die welt untergeht

Fremde

Wellenschlag

Created with Sketch.

Die Welle rollt an. Sie reckt sich, prahlt mit ihrer Wucht. Bedrohlich hoch schlägt sie lässig gegen die Bordwand. Das marode Boot erzittert, knirscht. Gischt sprüht über das Deck, auf dem wir zu Dutzenden kauern. Die vor Angst geweiteten Augen, die aufgerissenen Münder, sie alle schreien dieselbe Botschaft in die brüllende Nacht hinaus: »Helft!«

Der Sturm ist laut, man hört sie nicht. Das völlig überladene Boot, rostig und alt und nicht auf die hohe See ausgelegt, schlingert. Ich versuche Halt zu finden und kann nur versuchen, mich an meinem Nachbarn festzukrallen. Einen festen Griff hat allein die Angst. Es geht um mein Leben.


Und es ging immer um mein Leben. Ihr wisst nichts von meinem Dasein, das trostloser nicht sein konnte. Nein, wir sitzen nicht alle im selben Boot.


Ich musste einfach dort weg. Dabei hatte man mich gewarnt. Die Überfahrt sei gefährlich, ein gutes Geschäft für die, die nicht einsteigen mussten, viele Schiffe seien gesunken, unzählige Menschen hätten den Tod gefunden. Ich schob die Warnungen beiseite. Es war genug Unglück über mich gekommen, nun wollte ich auf einer Welle des Glücks reiten.


»Helft!«


Eine Woge peitscht über uns hinweg, mächtig, tyrannisch, vernichtend. Wassermassen erfassen Flüchtlinge, die nicht entfliehen können, manch einer wird gleich ins tosende Meer gerissen und für immer verschlungen. 


Die nächste Welle, gigantisch, zerstörerisch, tödlich, spült meinen Nachbar über Bord. Er reißt mich mit. Ich stürze ins Meer und versinke. Panisch trete ich nach ihm, damit er loslässt, kämpfe mich frei, dränge an die Oberfläche zurück, ringe um Luft, sehe Wellen, Wellen, Wellen, aber kein Boot, kein Land, keine Erlösung. Es ertränkt mich. In den wenigen Augenblicken über Wasser schnappe ich nach Luft, suche Rettung, und jede Faser meines Körpers, jeder Gedanke schreit euch zu: »Helft!«


Dann schlägt das Wasser über mir zusammen und gibt mich nicht wieder frei. Ich atme ein, meine Lunge füllt sich mit eisigem, brennendem Nass. Das ist das Ende. Und ich überlasse dem Sturm meine Not, mein Schicksal, kapere seine Stimme: »Helft!« Ihr Wellen, unnachgiebig und grausam, tragt meinen Hilferuf an die Küste.


Meine Sinne schwinden, ich werde Teil des Meeres, bin eine Welle, sehe den Strand schon vor mir.


Die Sonne scheint, eine wohltuende Brise weht vom Meer ins Landesinnere. Männer und Frauen lieben ihr Leben. Kinder spielen am Strand. Sie bauen Burgen, Burgen aus Sand mit Mauern gegen die Wellen, die über das Meer kommen. Eltern zeigen ihren Kindern, wie die Mauern stark werden, wie sie möglichst lange der aufkommenden Flut standhalten.


Der Wellenschlag meiner Not zieht auf die Küste zu.


Er grollt im Sturm.


Er rollt im aufklarenden Wetter.


Er tollt malerisch in der Flut der Gezeiten.


Und wenn der Wellenschlag auf die Küste trifft, ist seine Kraft längst gebro­chen, platscht er harmlos auf die kindlichen Mauern am Strand, versandet.


Und irgendwo weit draußen auf dem Meer zieht die Marine eine Leiche an Bord.

Herbst

Created with Sketch.

Das Wetter war herrlich. Der Sommer legte sich noch einmal ins Zeug, prahlte mit Sonnenschein, angenehm warmen Temperaturen und einer milden Brise. Dass die ersten Blätter verblassten und die Tage schon deutlich kürzer geworden waren, störte nicht. 

Schröder schlenderte durch den Stadtpark und atmete die Luft ein, die nach Freiheit schmeckte. Für ihn zumindest. Er fragte sich, wonach sie für all die anderen Menschen schmeckte, die ebenfalls hier unterwegs waren. 

Stets zum späten Vormittag füllte sich der Park. Er selbst war auf dem Weg ins Café. Dort traf er sich mit Dorothee, einer sehr geschätzten Freundin aus Studienzeiten. Es war schön, dass es auch in seinem Alter eine Art von Liebe gab, die das Leben bereicherte. Da verlor der Gehstock den Beigeschmack von Krücke, wurde wieder zum Accessoire. 

Wohin die anderen wollten, konnte er nur erahnen. Bald würden die jungen Geschäftsleute in ihren dunklen Anzügen auftauchen und zu den Imbisswagen am gegenüberliegenden Ende des Parks eilen. Mütter mit Kinderwagen waren bereits jetzt auf dem Heimweg, um das Mittagessen vorzubereiten. Da vorne ging – wie erwartet und wohltuend verlässlich – der alte Westenberg, mit dem war Schröder zur Grundschule gegangen. Sie grüßten sich immer noch, tauschten hin und wieder ein paar Höflichkeiten aus, mehr nicht. Ihre Biografien waren in unterschiedlichen Bahnen verlaufen. Westenbergs Schulabschluss hatte zu einem bescheidenen Leben geführt, er war der kleine Mann geblieben, ein Stammwähler der SPD. Schröder selbst war bis zur Pension Studienrat gewesen, Konrektor eines Gymnasiums, das einst in einem der besseren Stadtteile gelegen hatte und nun genauso verfiel wie das Bildungsniveau der Schüler. 

Ihm kam ein Obdachloser entgegen, der sein vollbepacktes Fahrrad tunlichst auf Nebenwege lenkte, um nicht allzu vielen Menschen zu begegnen. Eine Gruppe Männer mit eindeutig afrikanischer Herkunft unterhielt sich lautstark auf Französisch, sicher Asylanten. Dazwischen ein Gewusel aus Kindern, Studenten, Erwachsenen, Säufern, Touristen, Müllmännern, schrägen Typen, Müßiggängern. Und Senioren wie er. 

Der Park war ein Abbild der Stadt, ein Abbild der Gesellschaft. Und der Park steuerte auf den Herbst zu. 

Schröder seufzte. Für ihn hatte der Herbst des Lebens längst begonnen. Geboren in den letzten Monaten des Krieges, hatte er nur wenige undeutliche Erinnerungen an die schweren Jahre danach. Er war im Wirtschaftswunder groß geworden, geprägt durch das Gefühl, dass es immer weiter aufwärtsging. Als Heranwachsender hatte sich seine Identitätsfindung zwischen Miles Davis und Elvis Presley aufgerieben. Und er war noch jung genug gewesen, um die 68er Jahre als weiteren wichtigen Wendepunkt in der innerdeutschen Geschichte zu begreifen und die Vorteile der Antibabypille auszukosten. 


Jetzt war er ein rüstiger Rentner, innerlich und äußerlich beweglich, und genoss einen Lebensabend, der vermutlich die absolute Spitze dessen war, was die deutsche Rentenkasse jemals würden aufbieten können. 


Auch seine Tochter und ihr Mann konnten es noch einigermaßen gut treffen, wenn sie eines Tages in den Ruhestand traten. Aber sein Enkel? Hineingeboren in den anbrechenden Herbst einer Gesellschaft. Welche Zukunft erwartete ihn? Schröder blieb stehen. Gestern noch hatte er mit David telefoniert. 


Er spürte einen Stich im Herzen, denn er wusste, die Enkelgeneration würde es schwer haben. Die Probleme waren schon heute präsent und vielen bewusst, wurden jedoch nicht mit Ernst angegangen. Der Leidensdruck war noch nicht groß genug, das Land genoss den gesellschaftlichen Sommer. Nur wenige Blätter zeigten Spuren von Welke und konnten leichthin übersehen werden. Sein Enkel würde es ausbaden müssen. 


Spätestens wenn David mitten im Berufsleben und in der Blüte seines Lebens stand, wenn die Welt mit ihren Möglichkeiten lockte, würden die Sozialsysteme kollabieren. In Deutschland und woanders auch. Zu viele Alte für zu wenige Junge. Zu viele Kranke für zu wenige Gesunde. Zu viele Opfer der Industrie 4.0 für zu wenige Geldverdiener. Den damit verbundenen Sprengstoff mochte sich Schröder nicht ausmalen. Mit Blick auf sein eigenes politisches Engagement fragte er sich, ob die Parteien im Bundestag den Frieden wirklich mehr liebten als gute Wahlergebnisse. 


Die Europäische Union bröckelte bereits. Großbritannien stieg aus, der Unmut anderer Mitgliedsstaaten wuchs, die zwar den europäischen Goldesel schätzten, nicht aber ein System aus Frieden und Freiheit, Solidarität und Toleranz aufbauen, tragen und verteidigen wollten. Schröder fragte sich, ob er seinen Schülern mit genügend Nachdruck vermittelt hatte, was für ein großartiges, unverzichtbares Projekt diese Staatengemeinschaft war. 


Und dann der religiöse Terrorismus. Der Islam zerfleischte sich selbst und exportierte seinen Unfrieden hierher. Linke, rechte und organisierte Kriminalität bekam man schon nicht in den Griff. Und dies hier war weitaus furchtbarer. Europa wurde schleichend, Bombe um Bombe, zermürbt. Schröder war gewiss, dass der Westen erst am Anfang einer Entwicklung stand, die den Grundfesten des in Jahrhunderten gewachsenen Selbstverständnisses massiv zusetzen würde. Und die Religionsgemeinschaften taten nicht genug, um einen Gegenpol zu schaffen. Jetzt war die Zeit, um allen deutlich zu machen, dass auch der Friede, der aus dem Glauben kam, einen Wert bildete, von dem die Gesellschaft profitierte und auf den sie nicht verzichten konnte. 


Nicht zuletzt angesichts der vielen Flüchtlinge. Und das war erst der Anfang. Der Anfang einer Völkerwanderung. Eine Völkerwanderung der Hungrigen, der Durstigen, der Hoffnungslosen, der Verstümmelten, der Aidskranken, der Kriegsmüden, der Terrorismusgeschädigten, der Klimawandelentwurzelten. Es kam ein Stein ins Rollen, der als Lawine über Europa enden würde. 


In nur wenigen Jahrzehnten, wenn David ein gestandener Mann war, würde ein Winter über ihn und alle anderen hereinbrechen und Europa im Chaos versinken. 


Liebte diese Gesellschaft den Frieden und tat sie alles dafür, um ihn zu erhalten? Langfristig, für die eigenen Kinder und Enkel, für sich selbst. Oder schätzte sie den Frieden nicht, weil sie den Krieg nicht kannte? Vielleicht wiegte sie sich in einer falschen Sicherheit, weil sie die Zerbrechlichkeit dieser Welt nicht durchschaute. Konnte Frieden als solcher überhaupt erkannt und geliebt werden, wenn man sein Gegenteil nicht ermaß? 


Gedankenverloren ging Schröder weiter, stützte sich schwer auf seinen Stock, grüßte Westenberg mit einem halbherzig-freundlichen Nicken. 


Womöglich war das Ganze noch komplizierter. Mit einem Mal war er sich nicht mehr sicher, ob Europa wirklich ein Problem hatte, das erschreckende Ausmaße annehmen würde. Es mochte ebenso gut sein, dass einfach nur der Herbst dieser Gesellschaft bevorstand. Schröder hoffte inständig, dass es ein Problem war, denn gegen Probleme konnte etwas unternommen werden. Gegen den Herbst aber konnte niemand etwas tun. 


Der Blick in die Geschichtsbücher seiner Schulklassen hatte ihn gelehrt, dass es ein ständiges Auf und Ab, ein Werden und Vergehen gab. Nichts war von Ewigkeit. Es war vielleicht von Dauer, mal mehr, mal weniger, aber eines Tages verging alles. Auch Europa würde vergehen und etwas Neues würde entstehen. Die ganze Weltordnung würde eines Tages eine andere sein. Daran war nichts zu ändern. Schröder fröstelte es mit einem Mal, denn der Weg zum Neuen, zu einer neuen stabilen Ordnung, zum neuen Guten, dieser Weg war stets mit dunklen, schrecklichen Zeiten verbunden. 


Deshalb würde er darauf pochen, dass es noch nicht so weit war. Dass Europas Herbst noch nicht bevorstand, sondern nur eine regnerisch-kühle Phase im Sommer. Europa hatte ein Problem, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Er würde mit Dorothee darüber sprechen. Und er freute sich darauf, mit ihr gemeinsam ein Thesenpapier zu verfassen, ganz im Stil der 68er, und sie würden es als Leserbrief an die Tageszeitung schicken, sie würden es in den Gesprächskreis ihrer Kirchengemeinde einbringen, und er persönlich würde es bei der nächsten Kreistagssitzung auf die Tagesordnung schmuggeln. 


Es gab immer Möglichkeiten, die richtigen Fragen zu stellen. Lieben wir den Frieden in dieser Stadt, in diesem Land, in Europa? Was wollen wir heute dafür tun, dass er auch morgen und übermorgen noch hält? Denn so unterschiedlich die Menschen im Park auch waren, so fremd sie sich vermutlich für immer blieben, sie konnten immerhin nebeneinander her leben. Das war nicht das Paradies, aber für einen Frieden war es schon sehr liebenswert. 

Der Koran im Supermarkt 

Created with Sketch.

»Hast du schon gehört, was im Supermarkt los war?«


Nein, das hatte ich natürlich nicht. Ich kam gerade aus Köln zurück. Der Geschäftstermin war zeitiger zu Ende gegangen als erwartet und ich hatte mir die Zeit genommen, ein Straßencafé in der City zu besuchen und in Ruhe Kaffee zu trinken. Die Vielfalt der Menschen dort war faszinierend. Seither hing ich der Frage nach, wie viele verschiedene Sprachen ich in der kurzen Zeit gehört hatte.


Daheim in der Provinz aber war etwas im Supermarkt passiert. Ich spürte, wie aufgebracht meine Frau war.


»Was gab es denn?«, fragte ich.


»Regina erzählte es mir«, begann meine Frau. »Eine Bekannte war einkaufen und stand in der Schlange an der Kasse. Vor ihr hatte eine andere Frau bereits ihre Einkäufe auf das Band gelegt. Da kam ein Ausländer, schob sich an den Wartenden vorbei und drängelte sich vor die Frau, die eigentlich als nächstes dran war. So ein Dunkelhäutiger in diesen komischen Klamotten und mit schwarzem Vollbart. Der legte seine Sachen einfach dahin, als wäre er schon an der Reihe.«


Ich wurde unruhig. Solche Geschichten gingen nicht gut aus.


»Was fällt Ihnen ein!«, beschwerte sich die Frau hinter dem fremden Mann.


Auch unter den wartenden Kunden setzte ein unwilliges Getuschel ein.


»Schweig, Frau!«, fuhr er sie an und wandte sich der Kassiererin zu.


Und tatsächlich hörte das Gemurmel auf.


Die Kassiererin rutschte sichtlich nervös auf ihrem Stuhl hin und her. »Na ja«, sagte sie zögernd. »Sie müssten sich schon hinten anstellen.«


»Bin ich Muslim«, sagte der Mann mit einem drohenden Unterton.


Sichtlich irritiert sah die Kassiererin ihn an. »Aber das gibt Ihnen hier nicht das Recht …«


Da schob der Mann langsam seine Hand in die Jacke, und für einen Augenblick herrschte tödliche Stille. Er zog ein Buch aus der Innentasche und knallte es auf das Band. »Der Koran« prangte in goldenen Lettern auf dem Einband. »Bin ich Muslim, bin ich also zuerst dran.«


Der Widerstand versiegte und die Kassiererin rechnete seine Waren ab.


»Das ist doch unglaublich, oder?«, fragte meine Frau.


Ich war fassungslos und spürte Wut in mir aufsteigen. Das Vorgehen des Mannes im Supermarkt war eine unverschämte Dreistigkeit. Ich fragte: »Und Regina war dabei?«


Meine Frau verdrehte die Augen. »Du hörst auch nicht zu. Regina hat es von einer Bekannten und die kennt die Frau, die da in der Schlange stand.«


Ich horchte auf und erwiderte etwas vorschnell: »Das Ganze klingt aber schon wie ein Gerücht.«


Dafür fing ich mir einen bösen Blick ein. »Wenn das hier die Zukunft ist … Dann können sie die allesamt wieder nach Hause schicken.« Grollend ließ mich meine Frau stehen.


In den Stunden danach ging mir die Geschichte nicht aus dem Kopf. Und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wuchs der Verdacht, dass dies tatsächlich kein Gerücht war, das sich über mehrere Instanzen aufgebauscht hatte. Der dunkelhäutige Muslim mit Vollbart – wie die TV-Ikone des typisch radikalen Muslims. Die in der Jacke verschwindende Hand – als Inbegriff des islamistischen Terroristen, der seine Waffe zückt. Der Koran in der Westentasche – als Symbol der aggressiven Macht, die das Abendland verschlingt. Und demgegenüber die arme deutsche Hausfrau – bei einer alltäglichen Handlung gedemütigt und unterworfen.


Nein, das war zu perfekt für ein Gerücht, es klang nach einer Inszenierung, einer gut durchdachten Lügengeschichte, gezielt gestreut, um Ängste und Hass zu schüren. In den Tagen darauf wartete ich, welche Kreise die Geschichte zog. Ob die Lokalpresse sie aufgriff. Ob meiner Frau irgendwelche weiteren Entwicklungen zu Ohren kamen. Ob der Mann erneut im Supermarkt auftrat, womöglich einen Nachschlag gab. Oder ob die Geschichte auch an ganz anderen Stellen auftauchte. Nichts davon passierte. 


Und deshalb kenne ich die Wahrheit nicht. Aber dass ich die Geschichte auch nach zwei Jahren nicht vergessen habe, zeigt, dass sie ihr Ziel erreicht hat.

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America First

There’s something wrong with »America first« 

Please stop for a while before everything bursts

There’s something wrong with nationalism

Oh yes, lesson learned from the age of fascism

There’s something wrong with Putin and Russia

Remember Crimea, Ukraine – he crusher

Estonia, Latvia and Lithuania?

Are they still safe or are they in danger?

 

There’s something wrong with Erdogan’s Turkey

A political jail and he is the turnkey

Beware of Wilders, Hofer, Petry, Le Pen

They turn back time, start that eyewash again

There’s something wrong with all these messiahs

Them who promise heaven and fail down to the wire

Their time is long gone, thank God they were fired

So why do you come back, why don’t you retire?

 

I don’t believe in »America first«

As I would not push stuff like »Deutschland zuerst«

Whenever proclaimed there’s an absolute first

There’s always a second, a third and a last

What good is it to overtrump other nations?

Won’t this interfere with too many relations?

We depend on each other in good and in bad times

We’re a network of interests, no counting-out rhyme

 

And all you big men came to rule the land

With an iron hand, don’t you understand?

That you big mouths live off the fat of the land

Your palace owner’s glory is built on sand

And all you big names who reign the world

You’re angst-inducing make my hair curl

I’m afraid of the next subject you hurl

I resign, Star-spangled banner’s been furled

 

I heard a warning from a man that I trust

That those who are first one day will be last

But if you insist on appointing one first

Review your first before the worst comes to the worst

I’d rather trust in solidarity first

I’d rather believe in humanity first

I’d rather believe peace and freedom come first

I’d rather trust life and people come first

 

And all you big men came to rule the land

With an iron hand, don’t you understand?

That you big mouths live off the fat of the land

Your palace owner’s glory is built on sand

And all you big names who reign the world

You’re angst-inducing, make my hair curl

I’m afraid of the next subject you hurl

I resign, Star-spangled banner’s been furled


Lyrics & Music: Dirk Röse 
Recorded: 2017
© 2016

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Aleppo

Once the city gave home to so 
Many people who shared their lives 
Here in peace / Or at least 
Shared the rope of sand that a 
Dictatorship provides, watch out for 
What they’ve done / Many’ve gone 
As people tried to free themselves 
The demons crawled out of the dark and 
Wreaked havoc / Fatal suck 
Syria’s essential crisis 
Turned to civil war and Isis 
Clannish pride / Genocide 
All the armies in this war have 
Raised a benchmark for brute force, proved 
Violence wins / Peace in bins 
European Union and 
United States, United Nations 
Ain’t they hale? / Without fail 

People lack in food, they lack in tap water 
People lack in clothes, they lack in medicine 
And they share / Pure despair 
People lack in home, they lack in certainty 
People lack in hope, they lack in quietude 
And they share / A nightmare 

Now the city lies in ruins and 
Dust is covering the blood of 
Men that died / Children cried 
Over mother who was hit 
By walls that tumbled down after the 
Bomb was dropped / Heartbeat stopped 
The last thing father felt, a blade deep 
In his throat and as his head dropped 
Into sand / Understand 
His children turned away, they knew which 
Game to play from now on in this 
Giant grave / No one’s safe 

People lack in food, they lack in tap water 
People lack in clothes, they lack in medicine 
And they share / Pure despair 
People lack in home, they lack in certainty 
People lack in hope, they lack in quietude 
And they share / A nightmare 

Rise the curtain blushed in blood, roll 
Out the red odd carpet, meet a 
Twist of fate / Don’t be late 
Will the people who dwell in a 
Land of darkness ever see the 
Light again? / Fading pain 

People lack in food, they lack in tap water 
People lack in clothes, they lack in medicine 
And they share / Pure despair 
People lack in home, they lack in certainty 
People lack in hope, they lack in quietude 
And they share / A nightmare 

Sane humanity has been 
Replaced by overall human 
Insanity / Vanity 
Will the people who dwell in a 
Land of darkness ever see the 
Light again? / Fading pain 
People share / Pure despair 
Men that died / Children cried 
People share / A nightmare 

Lyrics & Music: Dirk Röse 
Recorded: 2017 & 2020 
© 2016 

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Kyiv

Russian brothers 
Pride of Russian mothers 
Like a snake you crawl to Kiev 
Mile after mile you carry war to our town 
Your muzzles wide open, the poison fang ready to down 

Russian brothers 
Pride of Russian mothers 
You bring destruction to Kiev 
Your baggage despair, mutilation and death 
Our old, women and children await your cold breath 

Russian brothers 
Pride of Russian mothers 
You’re ready to give us a boot 
You are bold enough to shoot 
You are bold enough to kill 
You’re bold enough to do his will 
But you’re not brave enough to say no 
You’d never say to him I don’t go 
We won’t ever go into slavery 
That’s why we won’t ask for your bravery 
When we slow you down 
When we mow you down 
When we throw you out 
When we blow you out of the country 

Russian brothers 
Pride of Russian mothers 
You set out to liberate Kiev 
If you fight us, who you’re supposed to save 
Blinded you, look out, we’re free, we’re strong, we’re brave 

Russian brothers 
Pride of Russian mothers 

Lyrics & Music: Dirk Röse 
Recorded: 2022 
© 2022 

Brötchen nur am Monatsende

Früh am Morgen mache ich mich auf den Weg zu einer Veranstaltung. Es ist noch dunkel und ich habe eine längere Autofahrt vor mir. Eine Bäckerei hat bereits geöffnet und ich steige aus, um mir Kaffee und etwas zu essen zu holen. Außer der Verkäuferin ist noch niemand zu sehen.

»Guten Morgen, hier ist ja noch nicht viel los.«

»Es ist ja auch noch früh.«

»Aber es wird sicher noch trubelig heute. Schließlich ist Wochenende und viele wollen schön frühstücken.«

»Nein, das glaube ich nicht. Am Monatsende haben die Leute wenig Geld. Da ist hier nie viel los. Und jetzt ist auch noch Januar und zum Jahreswechsel mussten viele Rechnungen bezahlt werden.«

»Und das spüren Sie hier in der Bäckerei?«

»Deutlich sogar. Heute wird nur das Notwendigste besorgt. Aber kommen Sie gerne nächstes Wochenende vorbei. Dann sind die Portemonnaies wieder voll und alle kaufen groß ein.«

Ich schnappe mir Kaffee und Gebäck, wünsche ihr ein ruhiges Wochenende, steige wieder in den Wagen und frage mich, wie wohlhabend Deutschland wirklich ist.

Dirk Röse Ewige Menschheit KI

Ewige Menschheit

Es bleiben nur noch wenige Milliarden Jahre, bevor unsere Sonne kollabiert und jegliches Leben auf der Erde unmöglich wird. Daran ist nichts zu rütteln. Materie, Naturgesetz und Zeit führen unseren Untergang herbei.

Mich berührt der Gedanke, dass die uns gewohnte Welt endlich ist. Eines Tages werden Atmosphäre, Wasser, Natur und Mensch unwiederbringlich dahin sein. Dafür braucht es keine Alien-Invasion, kein göttliches Gericht, keinen Klima-Kollaps, keinen Atom-Krieg. Wer die Apokalypse will, kann sich einfach zurücklehnen und in Geduld üben.

Uns bleibt eine Frist von unfassbar vielen Jahren. Merkwürdigerweise stellt sich sogleich der Zweifel ein, ob es in Milliarden von Jahren überhaupt noch Menschen gibt, ob unsere Spezies den unausweichlichen Untergang in ferner Zukunft tatsächlich erleiden muss. Viel wahrscheinlicher ist doch: Wenn die Welt untergeht, sind wir längst weg.

Aber wenn der Mensch ein vom Aussterben bedrohtes Wesen ist, dann gibt es dazu auch ein Szenario. Die Frage lautet dann, was uns auslöschen wird und wie viel Zeit uns bis dahin bleibt. Kennen wir die Antwort vielleicht schon?

Dirk Röse Gleichzeitigkeit

Mittendrin

Es ist eigentümlich, dass ein Großteil der Geschichten und Romane in der Vergangenheitsform geschrieben wurde und dennoch eine fesselnde Gegenwart erweckt.

Dirk Röse Zellteilung

Armutsfalle Scheidung

Neben Kindergeld und Kinderfreibeträgen profitiert die Familie auch von steuerlichen Erleichterungen. Das gilt, solange beide Elternteile eine staatlich anerkannte Lebensgemeinschaft bilden und nicht dauerhaft getrennt leben. Zerbricht diese Gemeinschaft, werden diese steuerlichen Vorteile zurückgenommen. Eine ohnehin leidvolle Entwicklung wird damit in zahllosen Fällen durch finanzielle Einbußen deutlich verschärft. Und oftmals sind es vor allem Frauen und Kinder, die in prekäre Lebensumstände geraten. 

Ich verstehe, dass der Staat die Familie als Keimzelle der Gesellschaft wertschätzt und in besonderer Weise finanziell stützt. Ich verstehe nicht, warum der Staat diese Keimzelle an einer bedrohlichen Schnittstelle des Lebens steuerlich wieder schlechter stellt. Auch unter erschwerten Bedingungen müssen alle und insbesondere die Kinder weiter versorgt werden. Die Keimzelle existiert nach der Zellteilung weiter. 

Neben der zerrütteten Ehe trägt der Staat an seinem innersten Kern willentlich zu einer Verschlechterung der Lebensumstände bei. 

Dirk Röse Lebensarbeitszeit KI

Weniger Ruhestand

Auch wenn sich die Politik noch nicht so recht an das Thema heranwagt, bleibt eine längere Lebensarbeitszeit Dauerthema der Rentendiskussion. Doch später in den Ruhestand gehen zu dürfen, ist eine rein zahlenbasierte Forderung. Sie vernachlässigt die individuellen Parameter einer nachlassenden Leistungsfähigkeit von Körper, Geist und Ausdauer. Wenn es jedoch ohne eine längere Lebensarbeitszeit nicht gehen sollte, dann braucht es auch betriebliche Arbeitsmodelle, die der sinkenden Leistungskurve gerecht werden. Inwieweit geringere Anforderungen auch mit niedrigeren Löhnen und Gehältern verbunden sind, müsste verhandelt werden.

Umweltbundesamt Pro-Kopf-Emissionen

Sektorziel Individuum

Bis zum Jahr 2050 will die Europäische Union klimaneutral werden. Das ist ein unglaublich ambitioniertes Ziel, bei dem kaum jemand weiß, wie es erreicht werden kann, und für das kaum jemand Einschränkungen im eigenen Leben in Kauf nehmen mag. Dennoch beschließt Deutschland, bereits im Jahr 2045 klimaneutral zu sein. Und Bundesländer wie Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bayern und Baden-Württemberg setzen noch eins oben drauf und proklamieren Klimaneutralität bis 2040.

Ich verstehe den Ehrgeiz, dass es zügig vorangehen muss. Auf der anderen Seite sind diese Ziele immer noch so weit entfernt, dass es dann doch nicht so zügig vorangehen muss. Ein Blick in das aktuelle politische Geschehen weckt Zweifel daran, ob dem Europäischen Parlament und den Parteien in Deutschland – allen voran die FDP – wirklich an weiteren Fortschritten gelegen ist.

Es ist klar, warum die Politik immer wieder kalte Füße bekommt. Den Unternehmen ist längst bewusst, welch massive Transformation ihnen bevorsteht, und sie beginnen lautstark zu nörgeln. Wirtschaftsnahe Parteien bekommen da ein ernsthaftes Problem mit der eigenen Wählerschaft. Und niemand hat sich bislang getraut, den Bürger:inne:n klarzumachen, welche Einschnitte ihnen drohen.

Die Grafik des BMUV ist erhellend. Gut zehn Tonnen CO2-Äquivalente verursacht hierzulande jeder Mensch jedes Jahr. Als Zielvorgabe werden pro Person weniger als eine Tonne CO2 genannt. Na dann, bitte schön: Wo fängst du persönlich an zu sparen? Beim Wohnen? Also z. B. eine kleinere Wohnung und weniger heizen oder alles sanieren und in eine Wärmepumpe investieren? Beim Strom? Also z. B. weniger Handynutzung, weniger fernsehen, weniger Gefrierschrank, weniger Wäschetrockner? In der Mobilität? Also z. B. weniger Autofahren, keine Flugreisen in den Urlaub auf Mallorca, mehr Bahn? In der Ernährung? Also weniger Fleisch, Wurst, Käse und Milch? Beim sonstigen Konsum? Also z. B. keine aktuellen Smartphones, keine Mode, sondern Neues nur noch dann, wenn das Alte kaputt ist?

Wer glaubt oder politisch verkündet, dass allein die Industrie alles regeln wird und klimaneutrales Leben und Konsumieren ermöglicht, der macht sich und anderen etwas vor. Die Wirtschaft weiß bereits, dass sie zwar einen zentralen Beitrag zur Emissionsminderung beitragen muss und kann, doch sie ist kein Garant für Klimaneutralität. Wenn Europa, Deutschland und die Bundesländer ihre Emissionen gegen Null reduzieren wollen, dann muss jeder Mensch dazu beitragen und den eigenen CO2-Fußabdruck mindern. Statt die Sektorziele der Klimapolitik aufzuweichen, hätte die/der Einzelne als zusätzlicher Sektor ergänzt werden müssen. Pro Person nachweislich jedes Jahr 0,5 t CO2 weniger, dann kämen wir - einschließlich des Beitrags der Industrie - zügig voran und würden es bis 2040 schaffen. Doch diese Einsicht mögen die Parteien ihrer Wählerschaft nicht zumuten. Stattdessen heißt das Ziel unisono: Klimaneutralität plus Erhalt des Wohlstandes. Träumt weiter.

Datenquelle: Umweltbundesamt, CO2-Rechner 2024, Bildquelle: Kompetenzzentrum Nachhaltiger Konsum, 2. Mai 2024

Kultur statt Sport

In den meisten Nachrichtensendungen im Fernsehen und im Radio gibt es konsequent Berichte aus der Sportwelt. Gerade jene Disziplinen und Events, bei denen ohne jedes Maß Geld verdient wird, erhalten die größte Aufmerksamkeit und damit zusätzlich kostenlose Werbung. Es wäre eine wünschenswerte Alternative, wenn stattdessen Beiträge zu Kultur, Religion, Forschung, Technik, Mitmenschlichkeit oder über erfreuliche Nachrichten berücksichtigt würden.

Dirk Röse Täglich Mord

Geschnitten oder am Stück

Das deutsche Fernsehen wird seit Jahren von Kriminalfilmen und -serien geflutet. Immer muss es ein Mord sein, der die polizeiliche Arbeit in Gang setzt. Als ob es keine anderen Verbrechen gibt, zu denen man ermitteln könnte. Dabei spielt der Mord im Film zumeist nur eine Statistenrolle. Es sind die zu lösenden Rätsel, die Suche nach den Schuldigen, die Charaktere und vielleicht sogar Spannung oder Humor, die den Großteil der Handlung tragen. Es würde keinen Unterschied machen, wenn es sich um Kunstraub, Steuerhinterziehung, Diebstahl, Sachbeschädigung oder Bestechung handelte. Entführung, Bandenkriminalität, Drogendelikte und vieles mehr werden bereits ausgiebig thematisiert – und sie bräuchten nicht zusätzlich einen Mord, um die Ermittlungen zu rechtfertigen. Doch anders scheint es nicht zu gehen. Deutschland will den Mord.

Kinder unserer Zeit

Liebe Michelle,

was soll ich dir dazu sagen? Aus dem Gemeinschaftstanz früherer Jahrhunderte, bei dem im Reigen alle mit allen tanzten, wurde der Gemeinschaftstanz, bei dem ein Mann und eine Frau einander zugeordnet waren, und wurde der Paartanz, der von der Gemeinschaft abgekoppelt war. Ihm folgte die Zeit, in der man sich in großen Hallen bei dröhnender Musik oft berührungslos im Gegenüber bewegte. Es kam der Einzeltanz, bei dem ein/e Partner/in nicht mehr notwendig war und die Gemeinschaft um sich herum zur Masse wurde, in der das Ich abtauchen konnte.

 

Alles hat seine Zeit. Auch die Weltbilder, die Menschenbilder sowie Soziologie und Psychologie sind Teil ihrer Zeit und unterliegen den Veränderungen im Zeitenlauf. In fünfzig Jahren wird man auf diese Zeit zurückblicken und ambitionierte Wissenschaftler:innen werden versuchen, sie zu verstehen, und werden Bücher über sie schreiben.

 

Man wird sagen, dass sich in dieser Zeit die Vereinzelung der Menschen im westlichen Kulturkreis verstärkte. Man wird erkennen, dass der Mensch in allen seinen Belangen immer stärker auf sich selbst geworfen wurde. Der/die Einzelne war für alles alleine verantwortlich, musste alles alleine schaffen, und geriet er/sie in eine Krise, dann musste sie aus sich selbst heraus alleine bewältigt werden. Mannschaftssport, Vereine, Parteien und Gewerkschaften verloren an Mitgliedern. Man wird feststellen, dass auch der Drang zum Home-Office zu den Symptomen zählte. Prägende Umfelder wie Partnerschaft, Familie, generationenübergreifender Zusammenhalt und Nachbarschaft verloren an Bedeutung gegenüber dem Selbst. Wichtige Stützen im Leben durften nicht mehr allzu viel bedeuten, man musste in jeder Hinsicht sich selbst genügen. Man wird herausfinden, dass der Mensch in dieser Zeit überfordert war und zu viel von sich verlangte. 

 

Und vielleicht wird man auch feststellen, dass vor allem Frauen von diesem Zeitgeist getrieben waren. Die Errungenschaften der Gleichberechtigung mündeten in einen Sog der Selbstbehauptung, bei dem jedwede Unterstützung zunehmend als Affront gegen die eigene Stärke empfunden wurde. Männer hatten darin schon Jahrhunderte an Erfahrung und konnten entspannter damit umgehen.

 

Vor einiger Zeit stolperte ich über eine afrikanische Weisheit, die da sagte: »Das Wort, das dir hilft, kannst du dir nicht selbst sagen.« Es war eine Erkenntnis, die allem widersprach, was diese Zeit mir weismachen wollte. In anderen Zeiten und Kulturkreisen gab es nicht zuallererst das Ich, sondern auch ein Du und ein Wir. Dass die Welt in Ordnung kommt, wenn das Ich in Ordnung kommt, ist unsere zeitgebundene Deutung des Menschseins. Es ist nicht die einzige und es ist vielleicht nicht die beste Deutung.

 

Aber wir sind alle Kinder unserer Zeit und können ihr nur schwer entgegenstehen, wenn wir allzu sehr in sie verwoben sind. Und so leben wir unser Leben in den Grenzen, die deiner/meiner Generation gesetzt sind.

 

Mach das Beste daraus.

Herzliche Grüße
Dein Dirk

Dirk Röse Dark Mode KI

Dark Mode

Internet, Clouds und Digitalisierung sind gigantische Stromfresser und damit auch zunehmend klimaschädlich. Nur ein geringer Teil der Energie geht in die Rechenleistung, der größte Teil fließt in die Kühlung der Server. Jede Nachricht bei WhatsApp und jedes Posting bei Instagram verursacht CO2, auch diese Website. Bislang wird die Entwicklung nicht hinterfragt, da alles per se gut gefunden wird, was zu Bits & Bytes führt.

Doch das Bewusstsein nimmt zu. Der sogenannte Dark Mode bei vielen Anwendungen an PC, Notebook und Smartphone war zunächst cool, wird inzwischen aber auch als Möglichkeit verstanden, um zumindest kleinteilig Strom zu sparen. Die Geräte müssen weniger Lichtimpulse produzieren. Microsoft und Google bieten den Dark Mode längst umfassend an, auch faz.net hat vor wenigen Tagen eine entsprechende Einstellung eingeführt.

Dass es dunkler wird im Internet, ist nicht die Lösung, aber es ist der Anfang einer notwendigen Sensibilisierung.

Dirk Röse Menschenschutz KI

Menschenschutz

Was den Klima- und Naturschutz betrifft, bedarf es einer Klarstellung.

Dem Klima der Erde ist es gleichgültig, ob es eineinhalb, zwei oder fünf Grad Celsius steigt oder aber sinkt. Das Klima bleibt Klima und es ist, wie es gerade ist. Auch dem Wetter ist es egal, ob es in den Alpen regnet oder schneit, ob auf den Weltmeeren vermehrt starke Wirbelstürme auftreten oder ob sich keinerlei Wind regt, ob in Spanien ganze Regionen zur Wüstenlandschaft degenerieren oder ob Flüsse immer häufiger über die Ufer treten. Das Wetter bleibt Wetter und es folgt seinen Regeln. Selbst für die Natur spielen die Veränderungen keine Rolle, wenn Tiere und Insekten sich invasiv ausbreiten oder aussterben, wenn Wälder erkranken, Bäume für immer ihr Laub abwerfen, Moore austrocknen, Böden erodieren. Flora und Fauna erfinden sich garantiert wieder neu. Meteoriteneinschläge und das Aussterben der Dinosaurier waren letztendlich nicht mehr als ein spannender Cliffhanger im großen Roman des Planeten.

Wenn also der Mensch über Naturschutz und Klimaschutz spricht, dann meint er in Wahrheit egoistischen Selbstschutz. Denn die Menschheit läuft Gefahr, ihren Lebensraum über die kurzfristig regenerativen Kräfte von Natur und Klima hinaus auszubeuten, den für ihr Dasein notwendigen Klimakorridor zu überhitzen, die für ihr Überleben wichtige Artenvielfalt auszudünnen und die lebenspendende Natur aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Monatelang rang die EU um ein Gesetz zur Wiederherstellung der Natur. Nur mit vielen Kompromissen konnten die Hürden letztendlich genommen werden. Und es wäre dumm gewesen, diese Chance zu vertun. Denn das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur ist genau genommen ein Gesetz zur Rettung des Lebensraumes des Menschen.

Natur und Klima müssen nicht gerettet werden. Die sorgen für sich selbst. Gebt ihnen tausend oder eine Million Jahre, dann ist alles wieder gut. Der Mensch aber steht vor der Wahl, sich und seinen Lebensraum zu vernichten – oder zu retten.

Dirk Röse Generation D KI

Generation D***

Zu viele Jugendliche verlassen die Schule ohne ausreichende Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben, Rechnen, Politik, Geschichte und anderen Facetten der Allgemeinbildung sowie in selbständigem Lernen. Gleichzeitig mangelt es der Wirtschaft zusehends an Fachkräften. Das Zusammenspiel beider Entwicklungen ist schädlich für unsere Gesellschaft und wird langfristige Folgen haben.

Offenbar bereiten Elternhaus und Schulen den Nachwuchs nicht mehr adäquat auf das Leben vor. Pädagogik und Didaktik leiden schon zu lange unter unausgereiften Experimenten. Erinnert sei hier an das Abitur nach zwölf Schuljahren oder das Schreibenlernen nach Gefühl und Gehör.

Schon Mitte der 1990er Jahre konnte ich erleben, dass die aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Schüler:innen ihr Handwerk besser beherrschten als hiesige Schulkamerad:inn:en. Bei meinen eigenen Kindern verfolgte ich beispielsweise neue Methoden für die Grundrechenarten, die schlichtweg unübersichtlicher waren als jene vorausgegangener Jahrzehnte.

Und nun hält die Digitalisierung mit Wucht und Euphorie Einzug in den Schulbetrieb. Jede gewünschte Antwort ist nur noch einen Wisch entfernt. Google statt Hirn, ChatGPT statt Eigenleistung. 

Eltern und Lehrende treiben die Kids in die Unmündigkeit. Manch eine:r wird hinter dem eigenen Potenzial zurückbleiben. Unsere Gesellschaft auch. 

Grenzen 

Wie inklusiv muss man sein, damit sich niemand diskriminiert fühlt? Wie exklusiv darf man sein, auch wenn sich dadurch jemand diskriminiert fühlt? Darf man sich diskriminiert fühlen, wenn man nicht überall dazu gehören darf? Muss man sich diskriminierend finden, wenn sich einer durch den anderen diskriminiert fühlt? Welches Maß an Selbstaufgabe dürfen andere erwarten, um Diskriminierung zu vermeiden? Welches Maß an Gesinnungsänderung ist zumutbar, um Gemeinschaft zu ermöglichen? Sind Grenzen der Gemeinschaft noch legitim? Entscheidet jede Gemeinschaft für sich über Diskriminierung und Legitimität? Entscheidet die Mehrheit oder die Minderheit in der Gemeinschaft über Diskriminierung und Legitimität? Kann Ausgrenzung okay sein? 

Dirk Röse Skandal

SKANDAL!!!

Wir erleben einen echten Hype, dem sich kaum noch jemand entziehen kann: Alles wird skandalisiert. Wer es möchte, kann sich tagein tagaus empören und hämisch am vermeintlichen Faux Pas der anderen erquicken. Eine einfache Nachricht täte es auch, dann hätte man etwas zum Nachdenken. Skandale aber sind reißerisch, polarisieren und schalten den Kopf aus.

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Geistige Verwirrung

Wie uns Windischeschenbach, Bad Gottleuba-Berggießhübel, Süderschmedebyfeld und Oer-Erkenschwick vor den Russen retten.

Dirk Röse Corona-Schaden KI

Sozialer Corona-Schaden

Vordergründig ist die Corona-Pandemie überstanden. Wir sind zügig in unser gewohntes Leben zurückgekehrt. Entgegen den Annahmen, dass die Welt durch das Virus einen herben, vielleicht auch einen heilsamen Wandel erleben würde, änderte sich eigentlich nichts.

Tiefergründig aber bleibt ein nennenswerter Teil unserer Gesellschaft zutiefst verunsichert zurück. Insbesondere die Impfkampagnen und die G-Regeln überforderten viele Menschen. Information und Desinformation sowie der Verlust vieler Normalitäten und Kontakte führten zu bleibenden Verletzungen und zur Entfremdung vom deutschen Staatsgefüge.

Damit ist keinerlei Schuldzuweisung verbunden, weder gegen Impfbefürworter, Impfgegner, Coronaleugner, Politik, Institute, Montagsspaziergänger ... Mir wird nur klar, dass die letzten drei Jahre etwas mit uns gemacht haben und dass wir meilenweit davon entfernt sind, es aufzuarbeiten. Die ganze Frustration über drei miserable Jahre ist bei allzu vielen in keiner Weise bewältigt. Viele haben Schaden genommen, viele erleben einen Riss in ihrem persönlichen Umfeld, viele verstehen den politischen Willen nicht mehr. Gewisse radikal-politische Strömungen nutzen diesen Sachverhalt nach wie vor zu ihren Zwecken und verstetigen den gesellschaftlichen Schaden.

Die Politik staunt über den zunehmenden Gegenwind. Aber sie zahlt eher auf den Konflikt ein, statt die Ursachen anzugehen. Und Corona ist nur ein Faktor von mehreren. Die Demokratie verliert hier gerade viele Gläubige.

Verstörungstheorie

Chemtrails führen bei Desinformatiker:inne:n zu kognitiver Verdunstung mit schunkeldeutscher Politomanie. Bei verstetigter Belastung führt die zerebralschwache Thermik zu schlierigen Schleifspuren in Asocial Media. Die Krankheit will unbedingt hochansteckend sein, kann aber durch eine mRNA-Impfung überlistet werden. Eine Klimawindel hilft gegen Gerüchte.

Dirk Röse Kurze Störung

Stets erreichbar

Ein Unterrichtskonzept der 1970er Jahre ist fester Bestandteil unserer Kultur: »Störungen haben Vorrang«. Was auch immer sich vordrängelt, hat ein Vorrecht auf unsere Aufmerksamkeit. Es klingelt an der Tür und es wird erwartet, dass ich öffne, sofern ich da bin und nicht gerade unter der Dusche stehe. Das Telefon summt und am anderen Ende geht man fest davon aus, dass ich das Gespräch annehme, auch wenn ich gerade ein extrem spannendes Buch lese. Der Messenger poppt auf und die Nachricht will gelesen werden, spätestens nach einer halben Stunde zwischen Hauptgang und Dessert. Ein Kollege kommt ins Büro und will reden, obwohl ich gerade hochkonzentriert an einer anderen Aufgabe sitze. Geschäftsführung hat Vorrang vor wichtigem Termin, Krise hat Vorrang vor Normalität. Das »ZDF Spezial« ist wichtiger als der »Bergdoktor«. Niemand zwingt uns dazu, wir sind so konditioniert und machen mit.

Siehe: »Schüler-Lehrer-Konferenz« von Thomas Gordon, 1977.

Dirk Röse Vaterland

Dösig ins Abseits

Was war nur die letzten zwanzig Jahre in Deutschland los? Die Straßen und Brücken sind marode. Die Bahn muss unzählige Strecken sanieren. Die Schulen sind heruntergekommen. Die Bundeswehr ist nicht mehr einsatzfähig. Die Digitalisierung schleppt sich dahin. Es müssten so viele Wohnungen gebaut werden. Kinderarmut und Altersarmut nehmen zu. Es fehlen Lehrkräfte. Den Streitkräften geht der Nachwuchs aus. Pflegekräfte geben auf. Die Kindergärten mangelt es an Personal. Kinder lernen nicht mehr ordentlich lesen, schreiben und rechnen. Kein Wunder, dass es an Fachkräften mangelt. Und plötzlich rufen alle nach Etats und Sondervermögen, nach Lösungen und einer Wende. Deutschland hat verlernt, sich anbahnende Engpässe frühzeitig zu erkennen, ernst zu nehmen und ihnen entgegenzuwirken.

Seine E-mails

Frauen und Männer in der Sprache angemessen berücksichtigen. Gestern Abend sah ich einen Film, in dem eine Frau über sich selbst sagte: »Wer liest schon seine E-mails?« Hätte sie nicht sagen sollen: »Wer liest schon ihre E-mails?« Doch das hätte geklungen, als ginge es um irgendwelche Dritte, die aus Desinteresse die Mails dieser Frau natürlich nicht lesen. Auch eine neutrale Formulierung wie: »Wer liest schon eigene Mails?« hätte genau genommen nur auf selbstverfasste Nachrichten verwiesen. Die Lösung hätte darin bestanden, die abwertende Aussage der Frage zu fokussieren: »Wer liest denn noch Mails?« Die deutsche Sprache eignet sich nicht zum konsequenten Gendern, sondern maximal zur Neutralität, mit der Gendern vermieden wird.

Dirk Röse Bürokratiemonster KI

Bürokratie gegen den Klimawandel

Mit dem Green Deal will die Europäische Union bis 2050 klimaneutral werden, faire Wirtschaftspraktiken durchsetzen und eine nachhaltige Nahrungsproduktion gewährleisten. Ein wichtiger Hebel zur Umsetzung des Green Deals sind riesige Regelwerke, die als wahre Bürokratiemonster bei den Unternehmen ankommen. Industrie, Handel, Dienstleistung, Finanzen, Agrarsektor und alle anderen Wirtschaftszweige werden in den nächsten zwei Jahren schwer damit zu kämpfen haben, die European Sustainability Reporting Standards, das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, die Verordnung zu entwaldungsfreien Lieferketten, die EU-Taxonomie, das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur und viele andere Vorgaben umzusetzen. Am Ende dieses Prozesses aber steht zunächst nicht mehr als die absolute Transparenz aller Wirtschaftsbeteiligten, einen Automatismus für die gewünschte nachhaltige Entwicklung gibt es damit noch nicht. 

Neben gesetzlichen Restriktionen kommt ab diesem Punkt den Banken und den NGOs eine wichtige Rolle zu. Es ist der Finanzsektor, der zukünftig keine Projekte mehr finanzieren soll, die den Zielen des Green Deals entgegen stehen. Es sind die NGOs, die zukünftig anprangern werden, wenn sich ein Unternehmen nicht bessert. Und in letzter Instanz sind es die Verbraucher:innen, die durch ihr Kaufverhalten beabsichtigte Entwicklungen unterstützen oder sich gleichgültig zeigen. Bis die Regelwerke der EU zu wirken beginnen, wird es dauern. Ob dann auch die angestrebten Effekte einsetzen, bleibt abzuwarten. 

Die Frustration bei den Unternehmen ist groß und wirtschaftsnahe Parteien haben längst begonnen, die Entwicklung zu torpedieren. Bürokratie zu nutzen, um eine tiefgreifende wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderung voranzutreiben, bleibt ein Wagnis mit offenem Ausgang. Veränderungen sind dringend notwendig, aber sie sind nicht ernsthaft erwünscht. Schon mit der bevorstehenden Europawahl könnten die Karten neu gemischt werden, damit möglichst viel so weitergehen kann wie gewohnt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ziele des Green Deals nicht erreicht werden.

Dirk Röse Paragraphendschungel

Der Willkür-Paragraph

Zu den großen Errungenschaften unserer Gesellschaft zählt das Rechtssystem. Bürgerinnen und Bürger, Behörden, Polizei, Militär, Wirtschaft, Parteien, Verbände, Vereine usw. agieren in einem Rahmen, der für ein faires und sicheres Miteinander sorgt. Der Gesetzeskanon ist nicht perfekt, aber er ist deutlich besser und menschenfreundlicher als das geltende Recht in vielen anderen Ländern. Auch die Menschen sind nicht perfekt und verstoßen bewusst oder unwissentlich gegen geltendes Recht, doch die Justiz bildet hier das Korrektiv. Auch die Gerichte sind nicht perfekt, aber sie bewegen sich in Grenzen, die weitgehend vor Willkür schützen.

Aus diesem Geflecht resultiert nun ein Problem, das ein effektives Vorgehen gegen Unrecht in vielen Fällen verhindert. Exekutive und Judikative sind an die Vorgaben der Gesetze gebunden und stoßen an ihre Grenzen, wenn verbrecherische Machenschaften Lücken und Unschärfen im Paragraphendschungel nutzen und sich derart organisieren, dass geltendes Recht nicht mehr greift. Insbesondere Clan- und Bandenkriminalität, Drogenkartelle, Prostitution, Kinderpornographie, religiös-fanatische Gefährder, Wirtschaftskriminalität und jede andere Form der organisierten Kriminalität profitieren davon, dass sich unsere Behörden in den Fallstricken der zu berücksichtigenden Vorgaben verheddern und nicht den Handlungsspielraum haben, den sie bräuchten.

Wünschenswert ist daher ein Gesetz, mit dem unter engen Vorgaben »im Einzelfall von besonderer Bedeutung geltendes Recht ausgesetzt werden« darf. Dazu müssten sich »mehrere definierte behördliche Instanzen auf Landes- und Bundesebene« einig sein, dass dieser Schritt notwendig ist, um »offensichtliches Unrecht« zu beenden, das andernfalls aufgrund der komplexen Gesetzeslage nicht eingedämmt werden könnte. Es müsste von Fall zu Fall einzeln festgelegt werden, welche Maßnahmen entgegen dem geltenden Recht zeitlich begrenzt welchen Behörden erlaubt sind. Allein erweiterte Möglichkeiten bei der Beweismittelbeschaffung und bei der Zulassung von Beweisen vor Gericht, der Umdrehung der Beweislast oder einer Anonymisierung von Zeugenaussagen gegenüber den Beklagten und ihren Anwälten wären ein Fortschritt.

Ein solches Gesetzesvorhaben würde zu gewaltigen Widerständen führen und als »Willkür-Paragraph« verunglimpft. Es wäre auch nicht mit europäischem Recht vereinbar. Gleichwohl ist klar, dass diejenigen, die sich tagein tagaus die Zähne an gut organisierter Kriminalität ausbeißen, ein solches Gesetz herbeisehnen. Die Frage sei erlaubt, was unserer Gesellschaft wichtig ist. Steht die Wahrung des Rechts über allem, auch wenn dieser Grundsatz dazu führt, dass Recht nicht gewahrt wird? Oder schaffen wir uns ein Instrument, das in Ausnahmefällen dazu beiträgt, Schaden von der Gesellschaft abzuwenden, parallele Rechtssysteme auszuschalten, Gewalt, Sklaverei, Misshandlung und Mord zu verhindern sowie Verbrechen zu ahnden und zu unterbinden, bei denen Unrecht vom Recht profitiert?

Dirk Röse Amerika

Unbegrenzt konservativ

Die Vereinigten Staaten von Amerika machen mich ratlos. Vielleicht bin ich nur Teil einer amerikakritischen Generation oder auch nur Teil einer amerikakritischen Nische meiner Generation. Aber mich wundert, wie sich ein Land »Amerika« nennen kann, obwohl es nur die »USA« ist. Reist jemand nach »Amerika«, so frage ich: »Wohin denn? Nach Rio de Janeiro oder Montreal?« Mich wundert auch, dass sich das Gerücht eines »Landes der unbegrenzten Möglichkeiten« so hartnäckig hält. Bei Gelegenheit sollte man dazu die ursprüngliche Bevölkerung in ihren Reservaten befragen oder die Menschen mit dunkler Hautfarbe während der Festnahme durch einen weißen Cop in ein Gespräch verwickeln, sofern sie atmen können. »Unbegrenzte Möglichkeiten« könnten sich aber auch auf den Abwurf zweier Atombomben, das Recht zur privaten Militarisierung, den Einmarsch in den Irak aufgrund gefälschter Gefährdungspotenziale und die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten beziehen. Unbegrenzt sind die Möglichkeiten in jedem Fall, wenn es darum geht, wunderschöne Bücher wie »Wer die Nachtigall stört« aus Schulbibliotheken zu entfernen oder das Recht auf Abtreibung drastisch einzuschränken. Schier unbegrenzt sind die Möglichkeiten eines verschrobenen Konservatismus, die eigenen Möglichkeiten mit verschrobenen Gesetzen zu begrenzen. Gäbe es nicht Elvis Presley, Bob Dylan und Spongebob Schwammkopf, so käme ich zu dem Schluss, diese Nation sei unbegrenzt selbstüberheblich.

Dirk Röse Querdenker

Querdenkende

Es begann mit dem Vorwurf der »Lügenpresse« und »Pegida«, führte zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für lautstarke »Querdenker« und Demonstrationen mit rechtsradikalem Hintergrund, fand seine verstörenden Momente in der Verkündung von »alternativen Fakten« durch die Trump-Regierung, bereitete den fruchtbaren Boden für Verschwörungstheorien und äußerte sich zuletzt in den »Montagsspaziergängen« der Impfgegner:innen mit ihrer Ablehnung der politisch verordneten Corona-Schutzmaßnahmen. In unserer Gesellschaft hat sich eine äußerst kritische Minderheit etabliert, die den Regierungen in Bund und Ländern misstraut, die sich von einer als »Mainstream« abgestempelten Medienlandschaft abkoppelt und die ihr Wissen und ihre Meinung stattdessen aus vorgeblich vertrauenswürdigeren Quellen zieht. Sie nimmt für sich in Anspruch, dass sie die »wahren Hintergründe und Beweggründe« aller wesentlichen Entwicklungen auf nationaler und internationaler Ebene kennt, und beruft sich auf die »wirklich zuverlässigen Tatsachen«. Sie werfen der breiten Masse der Bevölkerung vor, sich unreflektiert einer zweifelhaften Politik zu beugen und blind den einseitig gesteuerten Medien zu vertrauen. Von sich selbst behaupten sie, diejenigen zu sein, die noch selbst nachdenken, die sich eine unabhängige Meinung bilden und die sich nicht für dumm verkaufen lassen.

Doch das stimmt nicht. Diese kritische Minderheit macht genau den Fehler, den sie der unkritischen Masse vorhält: Sie lässt andere für sich denken. Sie ersetzt das angeblich unreflektierte Vertrauen in die Mainstream-Quellen durch das unreflektierte Vertrauen in alternative Quellen. Auch hier macht sich niemand die Mühe, die Angaben kritisch zu hinterfragen und zu prüfen. Die Mainstream-Meinungsmacher werden durch Underdog-Meinungsbildner ausgetauscht. Deren missionarische Waffe ist der Zweifel, Beweise bleiben sie schuldig, zur Not muss ein Doktortitel als unanfechtbarer Beleg herhalten. Die kritische Minderheit besteht nicht aus »Querdenkern«, sondern aus »Quergelenkten«.

Sorry, Jungs und Mädels, Ihr seid auch nicht besser als die breite Masse. Im günstigsten Fall herrscht eine Pattsituation zwischen unkritischer Mehrheit und unkritischer Minderheit, in der sich keine der beiden Seiten über die andere erheben dürfte.

Ich kannte eine Impfgegnerin, die im vergangenen Winter an den Montagsspaziergängen teilnahm, um gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu protestieren. Der Konsens innerhalb der Beteiligten war groß. Man nutzte dieselben oder ähnliche Medien. Dann begann Russlands Krieg gegen die Ukraine. Plötzlich waren die meisten Protestler:innen unisono »pro Putin« und »anti NATO«. Da wurde sie nachdenklich.

Dirk Röse Komma

Zeichen setzen

Deutsche Sprache, schwere Sprache. Wohin gehört hier ein Komma? 

 

1. Offline bin ich nur wenn ich unterwegs bin und nachts. 

2. Offline bin ich nur nachts und wenn ich unterwegs bin. 

 

Beeinflusst die Reihenfolge der Informationen die Zeichensetzung? 

Dirk Röse Politisch korrekt

Kulturelle Aneignung

Die Musikerin Ronja Maltzahn sollte bei einer Demonstration in der Innenstadt von Hannover auftreten. Doch dann lud die verantwortliche Umweltorganisation »Fridays For Future« die Sängerin wieder aus, weil sie »Dreadlocks« trägt und damit unter dem Verdacht der »kulturellen Aneignung« steht bzw. weil sich die NGO nicht dem Verdacht aussetzen möchte, kulturelle Aneignung durch diesen Auftritt zu unterstützen.

Unwillkürlich verdrehte ich die Augen und hielt diese Entscheidung mit der ihr zugrundeliegenden Denkweise für kleinkariert. Doch so einfach ist es nicht.

Wenn Dreadlocks, wie von Fridays For Future angeführt, ein Symbol der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gegen die Unterdrückung der Schwarzen durch die Weißen sind, dann kann es von den Betreffenden als Affront verstanden werden, wenn jemand diese Frisur trägt, ohne ihren sozialen Hintergrund zu teilen und zu erleiden. In diesem Sinne hätte sich Ronja Maltzahn das »kulturelle« Symbol einer unterdrückten Bevölkerungsgruppe »angeeignet«, ohne ihrerseits die biografischen Voraussetzungen dafür mitzubringen. Die Dreadlocks als symbolträchtige Frisur stünden ihr damit nicht zu oder aber wären eine überhebliche Rosinenpickerei: »Deinen Style übernehme ich, deine Benachteiligung kannst du behalten.«

Den Vorwurf der kulturellen Aneignung gibt es in unterschiedlichen Facetten schon seit Jahrzehnten. Die schwarze Rock-and-Roll-Legende Little Richard beklagte sich einst darüber, dass es der weiße Elvis Presley war, der die Schwarzen ihrer Musik beraubte. Derselbe Vorwurf dürfte beispielsweise auch für Jazz und Rap gelten. »Deine Musik mag ich, deine Hautfarbe will ich nicht.«

Als vor wenigen Jahren islamistischer Terror für viele Länder zum Problem wurde, kursierte die Idee, den Hijab als starkes Symbol des islamischen Frauenbildes zum nicht-religiösen Allgemeingut zu degradieren, indem man ihn in die westliche Modewelt integriert und als Accessoire für alle etabliert. Kulturelle Aneignung sollte hier bewusst als Mittel gegen eine unerwünschte Entwicklung eingesetzt werden. Durchgesetzt hat es sich nicht, aber es zeugt vom Bewusstsein für die symbolische Kraft kultureller Eigenheiten und ihre Zersetzung durch kulturelle Aneignung.

Es gibt unter benachteiligten bzw. unterdrückten Bevölkerungsgruppen eine verständliche Empfindlichkeit, wenn eine vorherrschende und besser gestellte Bevölkerungsgruppe ihnen die identitätsstiftenden Eigenarten oder Symbole durch kulturelle Aneignung nimmt. Was vorher wie ein exklusives Markenzeichen funktionierte, wird plötzlich zum Allgemeingut und taugt damit nicht mehr als Bild des eigenen Markenkerns.

Die Frage lautet nun: Wem gehört welches kulturelle Gut, wer darf bestimmte sozio-kulturelle Phänomene für sich als identitätsstiftend beanspruchen, wer besitzt Exklusivrechte? Dürfen ausschließlich muslimische Frauen den Hijab tragen? Dürfen nur Christ:inn:en ein Kreuz tragen? Dürfen die Kirchen Weihnachten als religiöses Fest exklusiv für sich reklamieren und der Wirtschaft kulturelle Aneignung vorhalten? Dürfen ausschließlich schwarze Bürgerrechtler:innen Dreadlocks tragen? Und um die Fragestellung auszuweiten: Dürfen im Film ausschließlich Homosexuelle die Rolle Homosexueller spielen? Kann ein Mann ein authentisches Buch über die Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft schreiben? Was ist legitim, was ist Anmaßung?

Kulturellen Austausch, kulturelle Vermischung und kulturelle Verwässerung hat es immer schon gegeben, sie sind Teil der Weltgeschichte. Vor allem im 20. Jahrhundert sind die Berührungspunkte zwischen den Kulturen und Bevölkerungsgruppen noch vielfältiger geworden. In einer globalisierten Welt lässt sich diese Entwicklung nicht aufhalten. Exklusivrechte gibt es nicht mehr. Wer kultureller Aneignung gegensteuern möchte, müsste sich die eigenen Symbole, Rituale oder Eigenarten als Marke schützen lassen und bekäme bei der Registrierung arge Schwierigkeiten. Dass sich insbesondere benachteiligte und unterdrückte Bevölkerungsgruppen dadurch missverstanden, verletzt und erneut beraubt fühlen, ist verständlich, lässt sich aber im globalen Kontext nicht ändern. Insofern verdient die Argumentation seitens Fridays For Future Respekt, die angesichts einer einseitigen Vermischung einen »geschützten Raum« anbieten möchte, in dem die betroffenen Gruppen ernst genommen werden, keine Übergriffe auf ihre Identität stattfinden und eine gemeinsame Plattform geschaffen wird.

Mit Blick auf die fortschreitende Individualisierung in vielen Gesellschaften vor allem in den letzten fünfzig Jahren wirkt der auf Minderheiten, Benachteiligte und Unterdrückte bezogene Ruf nach Gleichberechtigung, Rücksicht und Exklusivität wie ein Fremdkörper. Der individuellen Freiheit sind im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten keine Grenzen gesetzt. Es funktioniert nicht, wenn jemand sagt: »Meinen Style darfst du nicht tragen, deine Individualität endet hier.« Eine Breitenwirkung gegen Ichbezogenheit, Gedankenlosigkeit, kulturelle Aneignung und Kommerzialisierung wird ein Weckruf nicht haben. Wichtig bleibt daher, dass er bei den richtigen Personen ankommt, die für geschützte Räume im Kleinen und Großen sorgen können, so z. B. Politik, Kirchen oder NGOs wie Friday For Future.

Bei allem Verständnis für das Problem der kulturellen Aneignung mache ich mir jedoch Gedanken darüber, wer das Recht hat, die Regeln zu bestimmen, welche Erwartungen an die Einhaltung dieser Regeln gestellt werden und auf welche Weise den Regeln Nachdruck verliehen wird. Dass Fridays For Future die in der eigenen Organisation geltenden Spielregeln bestimmt, ist angemessen. Man muss halt damit rechnen, dass nicht jede:r dafür Verständnis hat, wenn eine Künstlerin wegen ihrer Frisur ausgeladen wird. Wer aber als Einzelne:r oder als Organisation nennenswerten Einfluss auf eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit hat, muss aufpassen, in welche Richtung die eigene Political Correctness gesteuert wird. Steht die eigene Wahrnehmung der Welt auf einem höheren Niveau als andere Sichtweisen? Erhebt man sich über andere und versucht auf diese Weise, unerwünschte Machtverhältnisse umzudrehen? Wird man dogmatisch oder sogar militant? Schafft man Grenzen oder überwindet man Grenzen? Ist man exklusiv oder inklusiv? Setzt man weiter auf Dialog und Einsicht oder schafft man eine Atmosphäre des Schweigens und der Angst?

Die Hannoveraner Sektion von Fridays For Future schrieb zunächst, dass Ronja Maltzahn auftreten dürfe, wenn sie sich die Dreadlocks abschneidet, und entschuldigte sich kurz darauf für diesen Eingriff in ihre Freiheit. Es bleibt bei der Absage des Konzertes. Fridays For Future bleibt sich treu und nimmt in Kauf, dass hier eine junge Sängerin in die Schranken gewiesen wird. Die Organisation wäre mit der Absage des Konzerts beinahe über die eigenen Füße gestolpert. Political Correctness kann zu einem engmaschigen Netz werden, dem kaum noch jemand entkommt, dem kaum noch jemand entsprechen kann und in dem man sich nicht mehr bewegen kann.

Mehr Gerechtigkeit in diese Welt zu bringen, ist ein hehres Ziel und oftmals leider eine echte Gratwanderung. Ich möchte mich weder von Bürgerrechtler:inne:n noch von Fridays For Future noch von sonst irgendwem einschränken lassen. Ich möchte mich aber sehr wohl in notwendige Diskussionen verwickeln lassen, mir eine Meinung bilden und gegebenenfalls meine Verhaltensweisen ändern. Vielleicht spricht aus mir aber auch nur der typische weiße Mann, der kein Empfinden für die Not anderer hat.

Dirk Röse Fehlende Worte

Verantwortung Schreiben

Schreiben und Vorlesen wirken. Sie bewegen etwas, hinterlassen etwas bei Lesenden und Zuhörenden. Zumindest hin und wieder, zumindest in Einzelfällen. Es ist nicht oft der Fall, dass eine Rückmeldung kommt, aber dass sie tatsächlich manchmal kommt, erstaunt mich stets aufs Neue. Und womöglich bleibt auch bei dem einen oder der anderen etwas zurück, ohne dass ich es je erfahre.

Dass jemand sagt, er oder sie habe sich selbst in einer Geschichte wiedergefunden. Dass eine ganze Lesung lange nachhallt. Dass jemand einen wertvollen Gedanken mitnimmt. Einmal wurde mir gesagt, dass eine der Geschichten einen echten Impuls für einen Neuanfang im Leben gegeben habe. Dann fehlen mir die Worte …

Dahinter verbirgt sich auch eine Verantwortung, denn es ist nicht immer sicher, dass gelesene oder vorgelesene Worte auch das gewünschte Ziel erreichen. In einer Szene aus »Metathesis« sitzen sich Gut und Böse gegenüber und erörtern, was eben gut und vor allem böse am jeweils anderen ist. Ein Theologe sagte mir, dass der Diskurs hochspannend sei. Gut so. Die Redakteurin einer Zeitschrift aber legte mir dar, welche Schlüsse sie selbst aus jenem Kapitel gezogen habe, und da sträubten sich mir die Nackenhaare. Es war das Gegenteil meiner Absicht. Bis heute scheinen die – wenigen – Lesenden »Metathesis« insgesamt als religionskritischen Roman einzustufen.

Wahrscheinlich ist dieses Phänomen nicht zu bändigen. Schreiben und Vorlesen wirken. Aber wie sie wirken, bleibt den Lesenden und Zuhörenden überlassen. Ich kann Worte nur sorgsam abwägen.

Dirk Röse Made in China

Neue Weltordnung

China ist die eigentliche Großmacht der Gegenwart. Dass diese Aussage oftmals mit unterschwelligem Vorbehalt getroffen wird, liegt auch daran, dass wir uns immer noch nicht vom Weltbild des Kalten Krieges gelöst haben. Gerade in diesen Wochen zeigt Russland an der Grenze zur Ukraine wieder das altbekannte plump-martialische Säbelrasseln, das wir von der Sowjetunion kennen. Und die Vereinigten Staaten spielen ihre Rolle als moralisch überlegene Schutzmacht der gerechten Nationen. China hingegen tritt – zum Glück – selten als Militärmacht auf, sondern als unanfechtbarer Wirtschaftsgigant. Wir haben es über Jahrzehnte zugelassen, dass sich die ganze Welt in eine umfassende Abhängigkeit begibt – zunächst unbemerkt, später mit einem abfälligen Lächeln über das Label »Made in China« und heute mit dem vollen Bewusstsein, dass ohne die dortige Wirtschaftskraft nichts mehr geht. Viel zu viele Produktionskapazitäten wurden nach China verlagert, weil sich dort alles billig und ohne lästige Umweltauflagen oder Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen herstellen lässt. Gleichzeitig hat China seinen Einfluss auf zahlreiche Länder beständig ausgeweitet und ganz im Sinne eines wirtschaftlichen Kolonialismus‘ vielerorts in ärmere Länder investiert, die nun in besonderer Weise abhängig sind und sich dem Willen des starken Freundes beugen. Große Teile der Welt sind längst vom chinesischen Einfluss unterwandert und wir wollen das volle Ausmaß nicht wahrhaben. Deshalb kann das Regime in Peking tun und lassen, was es will, kann weiterhin ungestraft gegen das Volk der Uiguren vorgehen, kann in Hongkong gemächlich alle politischen Zusagen brechen, kann seine Hoheitsgebiete im südchinesischen Meer ausbauen und kann jenen Ländern den wirtschaftlichen Hahn zudrehen, die Taiwan auch nur ansatzweise als eigenständige Nation ansehen. Es ist völlig klar, dass China seine Macht auch weiterhin ausspielen kann, weil sogar eine »wertebasierte Außenpolitik« niemals den konsequenten Affront riskieren kann. China profitiert von dem ungeheuren zeitlichen Vorsprung, denn um sich wirtschaftlich wieder unabhängiger zu machen, müsste der Rest der Welt viele Jahre, riesige Investitionen und eine Verteuerung zahlloser Waren in Kauf nehmen. Kurzfristig kann sich also nichts ändern. Stattdessen müsste mit langfristiger Perspektive und dem Willen zur Veränderung agiert werden. Doch dazu gibt es nicht einmal den Wunsch. Wir haben uns der neuen Weltordnung unterworfen.

Dirk Röse E-Auto

Verkabelt

Auch das schnittigste E-Auto wirkt nicht mehr sexy, wenn es an der elektrischen Nabelschnur hängt. Früher oder später wird die Industrie das erkennen und sich attraktivere Lösungen überlegen. Bis dahin dürfen wir darüber staunen, dass bei diesem Detail der Mobiliätsrevolution Funktionalität vor Design geht.

Dirk Röse Parma-Schinken

Viel für wenig

Wie konnte es nur dazu kommen, dass Nahrungsmittel in weiten Teilen unserer Gesellschaft eine so geringe Wertschätzung genießen? In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gaben die Menschen einen großen Teil ihres monatlichen Budgets für Ernährung aus. Teure Nahrung ist per se nichts Wünschenswertes, untermauert aber den eigenen Stellenwert. Die industriellen Möglichkeiten und der Wettbewerb führten seither zu einer Abwärtsspirale der Preise und der Wertschätzung. Viel für wenig zu bekommen, bleibt das Credo – auch wenn wir deshalb schon lange nicht mehr wissen, was wir da eigentlich essen. Und nun dämmert sehr langsam die Erkenntnis, dass der Markt zwar alles regelt, aber längst nicht alles gut regelt. Die Farm-to-Fork-Strategie der Europäischen Union zielt auf einen Wandel, regionalere Produktion, gesündere Lebensmittel, nachhaltige Systeme. Ich hoffe, dass es gelingt und nicht am passiven Widerstand einer satten Bevölkerung scheitert. 

Dirk Röse Vegetarier

Keine Vegetarier mehr

»Entschuldigen Sie bitte! Haben Sie meinen Vegetarier gesehen?«

»Ihren was?«

»Meinen Vegetarier.«

»Wer soll das sein?«

»Er isst kein Fleisch.«

»Sie meinen Ihren Veganer?«

»Nein, er isst kein Fleisch, aber Eier.«

»Ach die … Uäh. Ich dachte, die sind ausgestorben.«

»Oh nein!«

»Ts. Wer fremder Hühner Eier pellt, wird spüren, wie Schalen pieken.«

»Dabei war er lange Zeit das schlechte Gewissen aller Dönerjuppies.«

»Halbgares Gehabe.«

»Aber …«

»Tut mir leid, ich muss los. Bei Edeka sind Veggie-Kutteln im Angebot.«

Dirk Röse Letzte Generation

Schmerzfreier Klimaschutz

Die »Letzte Generation« klebt sich an Böden und stört. Das Phänomen hat eine nette Symbolkraft. Alle finden Klimaschutz prima, aber er darf uns nicht beeinträchtigen.

Dirk Röse Baumsterben

Waldsterben

Am Wochenende war ich in Nordrhein-Westfalen unterwegs und sah zum ersten Mal, was der Borkenkäfer in den heimischen Wäldern anrichtet. Immer wieder stehen ganze Hänge kahl. Übrig bleiben einzelne Skelette einst stolzer Bäume. Die Forstwirtschaft und -ämter kommen mit dem Roden und Abtransport der Gehölze offenbar nicht hinterher. Ein Großteil wird verladen und direkt in die USA und nach China verschifft, um den dortigen Hunger nach Bauholz zu stillen. Bewusst geschaffene Fichtenreinbestände und natürliche Fichtenwälder sind das bevorzugte Opfer des hierzulande grassierenden Buchdruckers, unterstützt durch die heißen Sommer der letzten Jahre und die nasse Witterung im Winter. Wieder stehen wir vor der Herausforderung, angesichts dieser bedrückenden Entwicklung aufzuforsten und robustere Wälder zu schaffen. Drei Milliarden Bäume will die Europäische Union in dieser Dekade pflanzen. Es ist klar, wo diese Bäume benötigt werden.

Dirk Röse Relative Realitäten

Relative Realitäten

Der Kampf der Realitäten macht unsere Welt immer wieder zu einem lebensfeindlichen Ort. 

 

Gemeint ist damit nicht, dass Menschen unterschiedlicher Auffassung über dieses oder jenes sind. Auch das trägt im schlechtesten Fall zu Gewalt und Krieg bei oder im besten Fall zur Meinungsvielfalt und zu mehr Farbe im Leben. Verschiedene Ansichten bewegen sich in derselben Realität, verfügen also trotz der Differenzen über einen gemeinsamen Rahmen. 

 

Gemeint ist, wenn Menschen sich denselben Globus teilen und doch in völlig unterschiedlichen Welten zu leben scheinen. Der jeweilige Deutungshorizont ist ein anderer, das Gesamtverständnis für Diesseits und Jenseits, für Gut und Böse, für Liebe und Hass, für Krieg und Frieden, für Akzeptanz und Ablehnung resultiert jeweils aus einem gänzlich anderen Kontext. Trotz gemeinsamer Wurzeln und Übereinstimmungen wie dem Monotheismus leben beispielsweise Christen und Moslems in unterschiedlichen Realitäten, die seit mehr als tausend Jahren immer wieder zu Konflikten wie den Kreuzzügen oder dem Islamismus führen. Der Imperialismus des Römischen Reiches oder der Kolonialismus vergangener Jahrhunderte haben ihren Ursprung in einer überheblichen Sicht auf die Welt, die nichts mit dem Selbstverständnis jener Völker gleich hatte, die brutal unterworfen wurden. Sozialismus und Kapitalismus rühren zunächst aus derselben Realität, können sich aber zu verschiedenen Kosmen entwickeln. Der Nationalsozialismus ist eine der furchtbarsten Realitäten, die die Menschheit erleiden musste. 

 

Voraussetzung für die Entstehung einer Realität ist das Maß, mit dem Einzelne oder Gemeinschaften ihre Sichtweise verinnerlichen, sich von anderen abgrenzen und sich gedanklich über andere erheben. Die meisten Menschen werden in eine Realität hineingeboren und verbringen das ganze Leben in ihr, ohne sie jemals hinterfragen zu müssen. Das ändert sich, wenn sich jemand auf eine andere Realität einlässt oder von ihr überrollt wird. Die Hilflosigkeit von Eltern, deren Kinder plötzlich einer Sekte oder einer radikalen politischen Strömung angehören, zeugt von der Macht, die anderen Realitäten innewohnt. 

 

Prägend für das Miteinander von Menschen in verschiedenen Realitäten ist der Mangel an einer gemeinsamen Grundlage, einem gemeinsamen Ausgangspunkt für Dialog, Annäherung und Verständnis. In den jüngsten Jahren sind es Verschwörungstheoretiker, Querdenker und Impfgegner, die sich mehr und mehr in eine neue Realität abkapseln und die Brücken einer gemeinsamen Basis abbrechen. Auch der Kreml scheint mittlerweile in einer anderen Realität zu leben, die durch eine Fokussierung auf die historische Mission Russlands und das Feindbild des Nationalsozialismus befeuert wird. 

 

Ist es erst einmal so weit gekommen, haben es beide Seiten schwer, miteinander auszukommen, insbesondere wenn sich eine der Parteien radikalisiert oder sogar einen Krieg beginnt – und insbesondere wenn man selbst stets davon ausgeht, in der wahren Realität zu leben. Tun wir das? 

Dirk Röse EU-Flaggschiff im Sturm KI

Rauer Wind

Der Wind wird rauer und das Flaggschiff Europa bekommt ein Problem. Rechte Parteien sind vor allem in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und den Niederlanden auf dem Vormarsch und prägen das Geschehen in Brüssel. Nationalistische, populistische und rückwärtsgewandte Strömungen sind mit der letzten Wahl erstarkt und suchen im Parlament die Konfrontation. Es bilden sich gefährliche Böen, die nicht die Mitgliedstaaten auseinandertreiben, sondern mitten durch zahlreiche Länder wehen. Die EU war einmal das fortschrittlichste Staatenbündnis der Welt. Nun verwirbelt der Rückenwind, den wir weiterhin bräuchten, und das Schiff schwankt.

Möglichkeiten nutzen

Für den baldigen Fortschritt in der nachhaltigen Entwicklung macht es nur bedingt Sinn, immer wieder neue Maßnahmen zu Forschung & Entwicklung zu veranlassen. Wichtiger wäre ein Kassensturz, der die gegenwärtigen Möglichkeiten identifiziert, die verfügbaren Akteure zusammenbringt und der dann zu konkreten Maßnahmen führt. Andernfalls werden wir in den vorgegebenen Fristen oder auch in der aufgrund des fortschreitenden Klimawandels verbleibenden Zeit viel zu wenig erreichen.

Dirk Röse Peinlich Vaterland

Über sieben Brücken …

In Dresden stürzt die Carolabrücke ein. Zum Glück wird niemand verletzt. Unser Land ist marode. Jahrelang wurden die falschen Prioritäten gesetzt. Wir lebten auf Verschleiß. Über sieben Brücken geht hier niemand mehr freiwillig, aber sieben dunkle Jahre des Wiederaufbaus und der Restrukturierung will auch niemand. Unsere Komfortzone ist immer noch zu groß.

Dirk Röse UEFA EURO KI

UEFA €URO 2024

Was bleibt von der Fußballeuropameisterschaft in Deutschland?

Es bleibt die bittere Wahrheit, dass Deutschland mehr als 600 Millionen Euro für dieses Turnier ausgibt und die UEFA einen Gewinn von 1,7 Milliarden Euro erwartet. Es ist verrückt, dass sich Nationen um die Austragung großer Fußballfeste bewerben und ihre Staatshaushalte dafür belasten müssen. Richtig wäre, wenn sich UEFA und FIFA bei den Staaten um die Austragung von EM oder WM bewerben müssten – und zwar mit Konzepten, bei denen am Ende kein einziger Euro an Steuern fließen muss.

Es bleibt die Beobachtung, dass die menschenfeindlichen Staaten Qatar und vor allem China die Stadien und die Fernsehübertragungen mit ihrer Werbung fluten dürfen. Man kann nur hoffen, dass die Zuschauer:innen in ganz Europa lediglich ein müdes Lächeln dafür aufbringen. Doch einer bestimmten Online-Plattform ist es leider längst gelungen, mit Billigware einen Konsumrausch auszulösen, der jede Nachhaltigkeitsbestrebung auf den Kopf stellt.

Fußball ist immer noch ein attraktiver Sport, aber er ist vor allem ein Geschäft.

Sterben für die Heimat

250.000 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter sind allein nach Deutschland geflüchtet. Sie fehlen in ihrer Heimat – vor allem an der Front. Hier profitieren sie vom Frieden und den Sozialleistungen, während ihre Landsleute um ihr Leben und um ihr Land kämpfen.

Ich kann es gut verstehen. Überall in der Welt fliehen Frauen, Männer, Kinder und Alte vor kriegerischen Auseinandersetzungen. Wahrscheinlich würden auch wir flüchten, wenn in unseren Grenzregionen plötzlich erbittert gekämpft würde und immer wieder Bomben auf die eigene Stadt fielen, wenn wir damit rechnen müssten, Soldat:in zu werden, in den Schützengräben zu hausen, auf Menschen zu schießen und selbst verstümmelt oder getötet zu werden.

Was macht das auf lange Sicht mit der Ukraine? Wenn eines Tages Frieden einkehrt, gehen die Männer dann zurück oder bleiben sie hier? Wenn sie zurückkehren, gelten sie dann als Verräter und Feiglinge oder werden sie als unbelastete Generation willkommen geheißen, die das Land wieder aufbaut? Sollte Russland den Krieg gewinnen, werden sie dann zur weitverstreuten ukrainischen Exilgemeinde oder gerät die frühere Heimat in Vergessenheit?

Gewalt und Krieg ändern alles. Auch das Verhältnis zum eigenen Land wird neu bewertet. Vor allem aber steht der Wert des eigenen Lebens fortan im Zwiespalt zwischen Selbst und Gesellschaft, zwischen der Sehnsucht nach einem friedlichen Dasein und der Aufopferung für die Gemeinschaft. Sterben für die Heimat?

Dirk Röse 75 Jahre Grundgesetz

Unser Grundgesetz 

Du schaffst einen Rahmen, in dem Leben, Individuum und Gesellschaft sich entfalten können. Du setzt Grenzen, wenn sie in Gefahr geraten. Du weist über dich hinaus auf das noch Größere. Ich bin dankbar für den Raum, in den du uns alle stellst. Du gibst uns eine Stimme. Du brauchst unseren Beitrag. Du bist sehr gelungen. Ich bin stolz auf dich. 

Zu weit getrieben

Israel und Hamas haben es zu weit getrieben in ihrem Hass aufeinander. Das Massaker der Hamas an jüdischen Frauen, Männern und Kindern war entsetzlich und ist durch nichts zu rechtfertigen. Tod, Hunger, Vertreibung und Elend von palästinensischen Frauen, Männern und Kindern aufgrund der israelischen Kriegsführung in Gaza haben längst jedes erträgliche Maß überschritten und müssen gestoppt werden. Angeklagt sind beide Völker. 

Die Gründung des Staates Israel brachte Zuflucht, neue Heimat, Leben und eine Zukunft für das jüdische Volk nach Ende der unsagbaren Gräuel des Holocaust. Zugleich war die Landnahme verbunden mit der Vertreibung hunderttausender Palästinenser:innen, die wiederum ihre Heimat verloren und seither unter prekären Umständen leben. Hier liegt Israels Last, keine befriedigende und dauerhafte Lösung für beide Seiten vorangetrieben zu haben. Darin liegt auch die Last der Staatengemeinschaft inklusive der islamisch geprägten Länder des Mittleren Ostens, dass auch sie sich immer weniger um eine solide Zweistaatenlösung bemüht haben.

Die Last des palästinensischen Volkes besteht darin, dass seine Geschichte inzwischen unauflösbar mit tödlichem Terror gegen Israel verbunden ist und dass es sich von der Terrororganisation Hamas vereinnahmen lässt, die den Tod tausender Landsleute verantwortet. In Israel wächst der Unmut gegen Benjamin Netanjahu seit Monaten, doch in den Medien war bislang nicht zu sehen, dass Palästinenser:innen gegen die Hamas demonstrieren.

Unter eine solch verworrene Situation mit jahrzehntelangem Morden muss jetzt ein Schlussstrich gezogen werden. Der erste Schritt wäre die beiderseitige Einsicht, dass es zwei Völker gibt, die auf engstem Raum eine Daseinsberechtigung haben. Diese zwei Völker brauchen einen dauerhaften Waffenstillstand, eine baldige Zweistaatenlösung und gegenseitige politische Anerkennung einschließlich diplomatischer Verbindungen. Die Region braucht diese starken Zeichen, um auch Länder wie den Iran oder die Türkei mundtot zu machen, die den Konflikt gegen Israel weiter anstacheln.

Israel

Gedenken an die Toten.
Trost den Hinterbliebenen.
Heilung für die Verletzten.
Rückkehr den Verschleppten.
Anerkennung der Kämpfenden.
Ende der Gewalt.
Frieden dem Gelobten Land.
Versöhnung der ganzen Region.

Irrtum

Die AfD fordert angesichts ihrer guten Wahlergebnisse immer wieder mal eine Regierungsbeteiligung. Zum Glück erliegt sie da einem Irrtum. Die stärkste Partei sucht sich nicht die zweitstärkste Partei als Bündnispartnerin, sondern die politisch bestmögliche Option. Andernfalls hätten wir in Deutschland jahrzehntelang eine Große Koalition gehabt. Trotzdem lässt sich mit solch einem Argument prima schlechte Stimmung verstärken.

Nationalsozialismus

Es ist mir in all den Jahren nicht gelungen, eigene Worte für die Gräuel des Dritten Reiches und für die Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden zu finden. Die artikulierte Erinnerung an jene Zeit ist schwere See und manch eine:r hat darin Schiffbruch erlitten. Wahrscheinlich sollte ich als mündiger Bürger gerade in dieser Hinsicht sprachfähig sein. Vielleicht ist es aber auch gut zu wissen, wann ich besser den Mund halte. Es ist angemessen, dass andere die richtigen Worte zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus finden, denen ich zustimmen kann, und dass auf diese Weise die Geschichte wach gehalten wird. Denn noch immer kommt zu viel Gegenwart aus der Vergangenheit.

Fußball in Qatar

Ja, das Land ist fern jeder Demokratie, Gleichstellung, Offenheit und missachtet Frauen, Fremdarbeiter und Andersdenkende. Qatar ist aus der Zeit gefallen und steht damit leider nicht allein. Natürlich ist es falsch, dass dort eine Sportveranstaltung von internationaler Bedeutung ausgetragen wird. 

Das eigentliche Problem liegt aber woanders. Es ist der Sport. Der weltweite Sport mit seinen Verbänden ist durch und durch korrupt. Insbesondere IOC und FIFA stehen für einen unersättlichen Geld- und Machthunger. Auch viele nationale und sportartbezogene Verbände zeichnen sich durch weit offene Taschen und systematisches Doping aus. 

Der Skandal besteht darin, dass sich bei der WM in Qatar zwei zweifelhafte Partner verbrüdern und die gesamte fußballbegeisterte Welt in ihren Sog ziehen. In Deutschland äußern sich ARD und ZDF kritisch über die Veranstaltung, strahlen sie aber aus. Eine ganze Reihe von Nationalspielern aus unserem eigenen Kader und anderen Ländern kündigen für die Spiele symbolträchtige Aktionen für eine menschenfreundliche Welt an, treten aber trotzdem an und kassieren fett Geld. Sponsoren und Werbepartner werfen ihre Skrupel über Bord und mischen fleißig mit. 

Bah, Leute, was für eine miese, vordergründige und scheinheilige Tour. Die einzig richtige Haltung zur jeweiligen Teilhabe an der FIFA-WM in Qatar wäre ein klares Nein gewesen. 

Es liegt an den Zuschauerinnen und Zuschauern vor den Fernsehern. Der Weltsport verdient die Rote Karte und die konsequente Entscheidung für andere Fernsehprogramme und die vielen anderen Möglichkeiten der Freizeit. Statt Fußball. 

Dirk Röse Altstadtschule Salzgitter Bad

Einschulung 1972

Vor fünfzig Jahren, am 7. August 1972, wurde ich eingeschult. Meine Erinnerungen an die Altstadtschule in Salzgitter Bad sind zwar nur fragmentarisch, aber sehr gut. In Zweierreihen gingen wir nach den Pausen in die nächste Stunde. Im Klassenraum gab es keine Tischreihen mehr, sondern bereits eine Anordnung im Kreis. Wir hatten zunächst einen Mann als Klassenlehrer, der morgens als erstes seine Gitarre nahm und mit uns sang. Ab der zweiten Klasse begleitete uns eine Klassenlehrerin, die uns englische Lieder beibrachte. Die kontroversen Themen im Hintergrund der vier Jahre waren die Einführung des Sexualkundeunterrichts und die Frage, ob auch Jungs am Handarbeitsunterricht teilnehmen sollten. Und so entwickelte ich frühzeitig ein reges Interesse an Mädchen und lernte parallel dazu stricken, häkeln, Makramee, Knöpfe anzunähen und Socken zu stopfen. Der Frontalunterricht war frappierend geradlinig, schlicht und effektiv. Das meiste passierte an der Tafel und in den eigenen Büchern und Heften. Wir lernten auch Gedichte und Lieder auswendig sowie Schreib- und Druckschrift. Die Religionslehrerin las uns mit Inbrunst spannende Geschichten aus der Bibel vor. Allerdings schaffte ein Mitschüler die erste Klasse nicht, weil er Linkshänder war und an der strikten Umerziehung auf die rechte Hand scheiterte. Das war die Schattenseite. Geschlagen wurde natürlich nicht, doch in der fünften Klasse erlebte ich an einer anderen Schule, wie sich ein Mitschüler eine derbe Ohrfeige einfing. Das fand ich erschreckend. Alles in allem ist mir diese Zeit als Oase des schulischen Glücks in Erinnerung geblieben. In der guten alten Zeit war nicht alles schlecht. Natürlich entwickeln sich Schule, Lehrpläne, Pädagogik und Methoden weiter. Doch wenn ich die seit langem anhaltenden Klagen aus Wirtschaft und Hochschule höre, dass Schulabgänger:innen ihr Handwerkszeug nicht beherrschen, dann frage ich mich, ob sich das System in die richtige Richtung bewegt. Vielleicht war in der guten alten Zeit manches tatsächlich besser als heute.

Dirk Röse Corona-Shot

Hinter die Binde kippen 

Führende Anbieter von mRNA-Impfstoffen bieten ihre Anti-Corona-Vakzine jetzt auch als Shots an. »Wir wechseln zur Schluckimpfung«, erläutert eine Vertreterin der Pharmaindustrie. »Corona und Impfung haben das Zeug zum echten Kneipen-Event.« Unter dem Slogan »Hinter die Binde kippen« werden die Corona-Shots stets mit FFP2-Maske verteilt und in fröhlicher Runde konsumiert. Für Verstörungstheoretiker:innen gibt es diskretere Sets mit Blindenarmband statt Maske und der Aufschrift »Mehr Grips« auf dem Fläschchen. »Die merken es gar nicht.« Auf die Frage nach der Gefahr eines überhöhten Vakzin-Konsums heißt es: »Wir setzen auf die Eigenverantwortung der Leute. Wer unbedingt noch einen will, sollte auf die Grippe- oder Tetanus-Shots ausweichen. Richtig lecker ist auch der Kurze gegen Rechtspopolismus, der kommt jetzt mit fruchtigem Migrationshintergrund im Abgang.«

Dirk Röse Deportation

Deportation

Da war mal ein Leben in Frieden und Heimat, mit Familie, Freunden und Alltag. Dann kam der Krieg. Die ersten Bomben und Raketen schlugen ein. Menschen starben, Häuser fielen in sich zusammen, das Leben wurde zur Hölle. Schließlich kamen die Soldaten, beanspruchten die Stadt für sich und erhoben sich über Frauen, Männer, Kinder. Es gab kein Entkommen. Am nächsten Tag schon wurden sie deportiert, Busse brachten sie tief in das weite Land des Feindes. Da sind sie nun, nicht länger Ukrainer:innen, sondern Russ:inn:en, irgendwo in der Fremde. Zuhause geht der Krieg weiter, doch hört man kaum ein brauchbares Wort darüber. Wird in Kiew noch gekämpft, ist Mariupol gefallen? Was ist aus Angehörigen und Nachbarn geworden? Denkt noch wer an mich oder sind auch sie längst verstreut in diesem riesigen Land, in dem man sich niemals begegnen wird? Nicht erschossen, nicht verstümmelt, mitten aus dem Leben gerissen, heimatlos und keine Aussicht auf Rückkehr. Einsam, ohne Hoffnung. Alles verloren, bald vergessen, lebendig begraben.

Dirk Röse Richtig Falsch

Richtig falsche Hilfe

Deutschland streitet seit Kriegsbeginn über die Frage, wie schwer die Waffen sein dürfen, die man an die Ukraine liefert. Im Hintergrund steht stets die Frage danach, was in dieser Situation richtig und falsch ist. 

Doch es ist schon die Frage, die falsch ist. Im Krieg gibt es kein »richtig«. Alles, was im Krieg geschieht, ist falsch. Es geht immer ums Zerstören und Töten. Es ist völlig gleich, ob und welche Waffen Deutschland an die Ukraine liefert, denn mit und ohne sie wird weiter geschossen und gelitten. 

Die richtige Frage lautet, was den Krieg beendet. Der Kreml könnte es, wenn er seine Pläne aufgäbe. Die Ukraine könnte es, wenn sie sich selbst aufgäbe. Unsere Waffen beenden den Krieg nicht, unsere Verweigerung beendet den Krieg auch nicht. Die ernüchternde Antwort auf die Frage danach, was den Krieg beendet, lautet zurzeit: Nichts. 

Der Einwand wird erhoben, ob nicht eine europaweite oder weltweite Eskalation droht, wenn weiter Waffen geliefert werden. Wenn Deutschland keine Waffen liefert, verhindern wir womöglich, dass der Krieg auf unser Land übergreift. Wenn Deutschland keine Waffen liefert, nehmen wir aber auch in Kauf, dass Russland die Ukraine noch fürchterlicher attackiert. Die Gegenfrage auf den Einwand heißt, welche Eskalation man verhindern will. Die egoistische Antwort lautet dann: Die Eskalation im eigenen Land muss verhindert werden. 

Die Atombombenkuppel in Hiroshima oder die Gedächtniskirche in Berlin zeugen davon, wie Kriege beendet werden. Es sind nicht »richtig« und »falsch«, die hier regieren. Es regiert falscher russischer Irrsinn, und dem muss und kann nur falsch widerstanden werden. 

Es ist unser Krieg

Liebe Leserin, lieber Leser aus Deutschland. Auch du bist Russland. Das Leben, das du hierzulande führst, ist russisch. Es ist russisches Erdgas, das dich wärmt und das die Wirtschaft in Gang hält, damit du weiterhin alles kaufen kannst, was dir das Leben angenehm macht, auch die Medikamente, die du brauchst. Russisches Gas ist für dein Leben unverzichtbar, wenn du nicht verzichten möchtest. Dasselbe gilt für russisches Erdöl. Dein Leben wird ohne russisches Öl ärmer, weil es dein Auto und die Produktion deines Arbeitgebers am Laufen hält. Bereits jetzt ist dein Leben ärmer, weil du sehr viel mehr Geld für Öl und Gas zahlst. Du spürst es an der Zapfsäule, du wirst es bei den nächsten Nebenkostenabrechnungen merken. Und das alles würde noch sehr viel schlimmer für dich kommen, wenn du auf Öl und Gas aus Russland verzichten müsstest. Sei deiner Regierung dankbar, dass sie sich nicht dazu drängen lässt, fossile Brennstoffe aus Russland zu boykottieren.

 

Liebe Leserin, lieber Leser aus Deutschland. Auch du bist die Ukraine. Du deckst dich mit Sonnenblumenöl und Mehl ein, weil du nun endlich gelernt hast, woher sie kommen. Weil sie aus einem Land kommen, in dem Krieg herrscht, ist unsicher, ob sie dir auch weiterhin uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Also denkst du erst einmal an dich selbst, bunkerst Grundnahrungsmittel und wirfst sie anschließend massenhaft weg, wenn das Verfallsdatum erreicht ist und du sie gar nicht gebraucht hast. Auch die Menschen, die dir jetzt im Nahverkehr und im Supermarkt begegnen, kommen aus dem Land, das dich nicht mehr zuverlässig beliefern kann. Es ist aber gut für das eigene Gewissen, dass wir sie hier jetzt verlässlich versorgen können. Hier gibt es ja genug für alle und du hast lieber osteuropäische als afrikanische Flüchtlinge um dich, solange dir die Ukrainerinnen im deutschen Supermarkt nicht das ukrainische Sonnenblumenöl vor der Nase wegschnappen. Sei deiner Regierung und den vielen Freiwilligen dankbar, die auch dein reines Gewissen organisieren.

 

Liebe Leserin, lieber Leser aus Deutschland. Auch du bist der Krieg. Du spürst es im Geldbeutel und siehst es im Fernsehen, das etwas aus den Fugen gerät, das deinem Leben bislang Sicherheit gab. Dein Öl und Gas waren bislang ein Klimaschutzthema, um das sich deine Regierung kümmern musste. Jetzt sind dein Öl und Gas tödlich, weil du damit Russland und Russlands Krieg gegen die Menschen in Mariupol und Butscha finanzierst, um keine Engpässe in deinem Lebensstil zu erleben. Sei deiner Regierung dankbar, die Waffen in die Ukraine schickt, damit die Männer dort kämpfen und sterben, um bald wieder Sonnenblumenöl und Mehl für dich produzieren zu können.

 

Liebe Leserin, lieber Leser aus Deutschland. Auch du bist zynisch. Du bist Teil einer globalisierten Welt, in der alle voneinander abhängen. Es ist Wladimir Putin, der dir dein gutes Leben ermöglicht. Und du kannst ihm nicht entkommen, weil du es weiterhin bequem haben möchtest. Damit du weiterhin unbeschwert lebst, verzichtest du auf Moral und Idealismus und Gradlinigkeit. Du verachtest Russland und stehst morgens behaglich unter der russisch beheizten Warmwasserdusche. Sollen sie sich da hinten gegenseitig verstümmeln, solange du warme Füße hast und es nicht dein Sohn ist, der an die Front muss. Und du weißt genau, dass Wladimir Putin erst dann die Atombombe zündet, wenn du sein Gas nicht mehr willst. Solange du es dir aber gut gehen lässt, trägst du aktiv zum Gleichgewicht der Mächte und zum Frieden in der Welt bei. Sei deiner Regierung dankbar und klopf dir selbst auf die Schulter, denn das ganze Gehampel dient ja doch einem guten Zweck und ergibt wirklich Sinn. Im Grunde ist die Ukraine nur ein Kollateralschaden für die Stabilität unserer heiligen Ordnung, der dort begrenzt werden muss, wo er dir nicht weh tut.

Ringtausch

Wer es für gerechtfertigt hält, dass Wladimir Putin mit Gewalt die russische Minderheit in der Ukraine schützen will, der klatscht sicher auch Applaus, wenn Recep Tayyip Erdoğan demnächst Berlin bombardiert und Neukölln besetzt, um die türkische Minderheit von zu viel Demokratie zu befreien und sie vor den rechtspopolustigen Parolen der Reichsbürger zu schützen. Im Gegenzug annektiert Deutschland Mallorca.

Dirk Röse Butcher in Bucha

Butscha

Der Nebel lichtet sich an wenigen Orten und legt das Grauen offen, das Menschen in der Ukraine erlitten. Erst Mariupol, jetzt Butscha. Jeder Krieg schafft sich seine Symbole. Massala. Stalingrad. Hiroshima. Srebrenica. Grosny. Aleppo. Mariupol reichte nicht, es brauchte Butscha.

Dirk Röse Tüte

Aufgabe ist das Gegenteil von Aufgabe

Ab einem bestimmten Punkt kann man nicht mehr miteinander reden. Die Gegenseite hält einen für ebenso verbohrt, wie man auch sie für verbohrt hält. Es entsteht eine feindselige Pattsituation. Sollte dann der rhetorische Grabenkampf einsetzen, gibt es keine Gewinne, sondern nur Verluste und erst recht keine Versöhnung.

Aber soll man Menschen das Feld überlassen, die einen gesellschaftlichen Zersetzungsprozess vorantreiben? Soll man eine Auseinandersetzung führen, die zu nichts führt? Oder gilt es zu unterscheiden, welche Personen verloren sind und bei welchen ein Dialog lohnt?

Im Winter 2022 sprach ich mit jemandem, der an den Montagsspaziergängen teilnahm und gegen die Corona-Maßnahmen protestierte. Dann überfiel Russland die Ukraine und plötzlich waren all die Menschen um ihn herum für Wladimir Putin und Russland und protestierten gegen EU, USA und NATO. Da wurde mein Gesprächsteilnehmer misstrauisch und begann das eigene Milieu zu hinterfragen. Vor etwa einem Jahr sprach ich mit jemandem, bei dem die Berieselung durch bestimmte alternative Medienkanäle zu wirken begann. Ein kontroverses Gespräch war zum Glück noch möglich. Die Herausforderung besteht darin, den richtigen Zeitpunkt nicht verstreichen zu lassen. 

Bei manchen ist Aufgabe die angemessene Reaktion, bei anderen entsteht eine Aufgabe.

Dirk Röse And The Winner Is

Kein Oscar für die Ukraine

Mir geht meine eigene Arroganz auf die Nerven. Warm, wohlgenährt und fern jeder existenziellen Bedrohung verfolge ich die Ereignisse in der Ukraine, versuche mich an Meinungsbildung und bleibe bei jeder Deutung am behaglichen grünen Tisch. Derweil wird in der Ukraine gehungert, gedürstet, gelitten, verletzt und gestorben. Ich verliere mich in sinnlosen Worten, die Ukraine verliert sinnlos ihr Leben. 

Etwas Ähnliches gilt für die Solidarität mit der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland. Die internationale Unterstützung bleibt überraschend massiv. Doch an der Front, im U-Bahnschacht und im Angesicht des eigenen Todes steht die Ukraine allein. Noch hat der friedliche Wirtschaftsboykott nicht zum Frieden geführt. Der Oligarch muss auf seine Yacht verzichten, die Ukraine auf ihre Heimat. 

Die westlichen Bündnisse sind gefangen in der Drohkulisse eines mit Atomwaffen geführten Dritten Weltkriegs. Die früher effektiven Gleichgewichtskräfte des Kalten Krieges haben in eine Sackgasse geführt, die der Kreml nutzt. Es ist ein Dilemma, das die Ukraine in Schutt und Asche legt und das Menschen in die Flucht getrieben hat. Dem Westen sind die Hände gebunden, den Ukrainer:innen ein Strick um den Hals. 

So bleiben Grundelemente eines altbekannten Dramas erhalten und jede Partei dient ihrem eigenen Interesse. Russland folgt feuchten Träumen von der Auferstehung als Weltmacht. Der Westen will einen wildgewordenen Despoten kaltstellen und sich den Krieg vom Leib halten. Ich versuche Sinn und Verstand in einer Welt wiederzufinden, die sich einmal mehr ad absurdum führt. Die Ukraine aber kämpft um ihre Eigenständigkeit und ums Überleben. Morgens schauen wir in den Spiegel und die Ukraine in die Gewehrmündung. 

Es lohnt eine Vorschau auf das Winterhalbjahr. Für den Friedensnobelpreis nominiert werden die westlichen Bündnisse für das umsetzungsstarke Maßnahmenpaket zur Wahrung von Wohlstand und Frieden in den eigenen Reihen (plus eine Nominierung für den Nobelpreis für Wirtschaft aufgrund der wegweisenden Einsichten in den Zusammenhang von Finanzen, Rüstung und Politik). Den Oskar für das beste Drehbuch erhält Wladimir Putin, der damit die Grundlage für einen weltweit erfolgreichen Blockbuster mit unerwarteten Spannungsmomenten bei gleichzeitiger Wahrung einer gewissen Realitätsnähe schuf (plus eine gesonderte Dankesnote der vielbeschäftigten internationalen Medien). Der Grammy für den besten Soundtrack geht an die russische Armee, die mit einem zackigen Trommelfeuerwirbel für eine furiose Renaissance der Marschmusik sorgte (mit freundlicher Unterstützung der Donezker Schützengilde Blasmyrdenarsch sowie Rheinmetall). Die Ukraine geht leider leer aus. 

Dirk Röse Begrenzte Möglichkeiten

Zeitenwende

Weite Teile der Welt hatten einen Traum, den Traum von Frieden, Freiheit, Gleichheit, Grenzenlosigkeit, Natur und Wohlstand. Zu lange wollten wir nicht wahrhaben, dass unsere Wunschvorstellungen an diese Welt längst gefährdet sind und nicht den realisierbaren Möglichkeiten entsprechen.

Die Einsicht kam zögerlich und war unbequem. Nun wurden uns die Fakten mit voller Härte vor Augen geführt, die Scham ist groß und die Sicht auf unsere Welt verändert sich in atemberaubendem Tempo. Wir erleben eine Zäsur und können uns nur wünschen, dass wir sie ernst nehmen und nicht bei nächster Gelegenheit wieder verwässern. Es geht nicht mehr anders, als dass wir uns neu sortieren und orientieren. Nicht alle unsere Träume können verwirklicht werden. Es wird uns nicht gelingen, alle Machthaber, Völker und Menschen auf den einen großen Pfad zum möglichst großen Glück mitzunehmen. Wir müssen einsehen, dass andere tatsächlich andere Vorstellungen haben und dass wir nicht für alle die Verantwortung übernehmen können, geschweige denn sie für unseren Weg gewinnen können.

Es verlaufen Grenzen auf dieser Welt und wir sind gut beraten, diese Grenzen endlich ernst zu nehmen und anzuerkennen. Der Fall des Eisernen Vorhangs und die zunehmende Globalisierung führten zu dem Irrtum, dass wir in jedem erdenklichen Sinne eine Schicksalsgemeinschaft sind. Es ist aber nicht so.

Der Zeitpunkt ist gekommen, um Grenzen beim Namen zu nennen und Grenzen zu ziehen. Wer nicht auf demselben Wege ist wie wir, der braucht nicht überredet zu werden, es dürfen vielmehr getrennte Wege gegangen werden. Wer nicht unser Freund ist, muss nicht unser Feind sein, er darf einfach depriorisiert werden. Aber wer unser Feind ist, den darf man auch Feind nennen und den darf man auch entsprechend behandeln. Und wenn Freunde bedroht werden, dürfen Freunde mit unserer Hilfe rechnen.

Wir werden unsere Prioritäten neu setzen, nur für uns, nicht für alle. Wir werden eindeutiger werden müssen in dem, was wir tun. Wenn wir Frieden, Freiheit und Gleichheit wollen, dann sorgen wir dafür und lassen jene außen vor, die eine andere Vorstellung verfolgen. Wenn wir das Klima auf dieser Welt retten wollen, dann tun wir das unsere dafür und lassen uns nicht von jenen abhalten, die zögern. Wir werden die Welt zum Teil wieder entglobalisieren, wir werden für mehr innovative, klimafreundliche, wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit in den eigenen Regionen sorgen. Wir werden damit aufhören, jene stark zu machen, die uns am Ende nur fesseln und verstricken.

Vielleicht war diese Welt in zurückliegender Zeit einmal schwarzweiß. Es war gut, dass wir diese Sichtweise hinter uns ließen. Doch setzten wir an ihre Stelle zu viele Lichtschattierungen, die nur blendeten. Es bleibt genug zu tun, wenn wir wollen, dass es in unseren Bündnissen der Gleichgesinnten bunt wird. Für die weltpolitischen Fragen ist es besser, wieder nüchterner, klarer und weniger inklusiv zu sein. Vor uns liegt ein langer, steiniger Weg und jetzt ist die Zeit, aus den Fehlern der Gegenwart zu lernen.

Russland überfällt die Ukraine

Wladimir Putin hat seinen persönlichen Feldzug gegen den Westen begonnen. Die Ukraine ist das Opfer, mit dem die Geschichte auf die Zeit vor 1991 zurückgedreht werden soll. Es ist ein Kampf der Systeme, mäßig erfolgreiche Autokratie gegen erfolgreiche Demokratie.

Damit enden gut zwanzig Jahre Frieden in Europa. Doch anders als bei den furchtbaren Konflikten im früheren Jugoslawien handelt es sich hier nicht um einen Bürgerkrieg, auch wenn die Inszenierung um Luhansk und Donezk diesen Anschein erwecken soll. Dies ist ein Angriffskrieg gegen einen autonomen Staat, der durch nichts gerechtfertigt ist, sofern sich Krieg überhaupt rechtfertigen lässt.

Unser Nachbarstaat darf nicht aufgegeben werden. Die friedliche Antwort der Weltgemeinschaft muss jetzt jegliches Kalkül fallen lassen und Russland in jeder Hinsicht und mit langem Atem isolieren.

Den Menschen in der Ukraine steht eine lebensbedrohliche Zeit bevor. Wladimir Putin, das kann nicht Ihr Ernst sein.

Dirk Röse Infektion Injektion

Elfmeter für Corona

COVID-19 ist zum Breitensport mutiert. Die Zuschauerinzidenz toppt alle Einschaltquoten, während die Mannschaften der Corona-Liga um eine möglichst gute Platzierung kämpfen. Die Ampelkoalition unter Kapitän Lauterbach ist derzeit im Ballbesitz, kann jedoch keine echten Torchancen rausspielen. Mit der miesepetrigen Impfpflicht gilt er vielen als Spielverderber. Und seit die schwarz-blaue Union von der Tabellenspitze vertrieben wurde, muss sogar Stürmer Söder mit Fehlpässen ins Abseits klarkommen. Gleichzeitig spielt die Fraktion der Querdenker weiter auf Risiko, wirft robuste Dreierketten mit einem ausgeprägten Hang zum Foul nach vorne, erzielt aber nur Eigentore. Die Institutsmannschaften RKI und PEI hingegen überraschten zuletzt mit fiesen Angriffen auf das Tor der Langzeitgenesenen und Ungünstiggeimpften. Auch das Team der unparteiischen Medien macht keine gute Figur, eiert den Fakten hinterher und verliert angesichts des hohen Spieltempos immer wieder die Meinung. Oder umgekehrt, selbst das ist kaum noch zu unterscheiden. Dem Schiedsrichter ist jedenfalls deutlich anzumerken, dass er überhaupt keine Lust mehr auf die Kontrollen nach DIN 2G+ hat. Doch zum Glück gibt es inzwischen mehr als achtzig Millionen superinformierte Bundestrainer:innen, die alle aus dem Internet wissen, wie die Mannschaft aufgestellt sein muss und mit welcher Strategie das Spiel zu gewinnen ist. Ein Schlaumeier klüger als die andere. Das kommt dem Coronavirus sehr entgegen, denn angesichts der immer neuen Spielvarianten und Spieluntervarianten bekommt ohnehin bald jede:r ein individuelles Virus. Und deshalb macht das Covid-Chaos keinen Spaß mehr, das Spielfeld ist abgegrast, die Spielzüge sind beliebig, das Virus bleibt mit seinen Spikes im Rasen stecken, hier rollt nichts mehr außer dem Pharmarubel. Und wenn jetzt noch die Viertimpfung kommt, ist absehbar, dass zahllose Spieler:innen mit einem erhärteten Dopingverdacht auf die Bank verbannt werden. Es muss doch noch etwas anderes geben im Leben, etwas Reines, Intelligentes und Unbestechliches. Fußball zum Beispiel. 

Dirk Röse Strittiger Besitz

Territoriale Integrität

Die nicht endgültig und einvernehmlich geklärte territoriale Zugehörigkeit zu einem Staatsgebilde bleibt ein Ausgangspunkt für schmerzhafte Konflikte.

 

Die Westsahara, von Marokko gleichermaßen wie von Unabhängigkeitskämpfern beansprucht, wird in vielen Landkarten als weißer Fleck ausgewiesen. Wer hat nun das Recht, über die Zugehörigkeit zu entscheiden? Soll die Bevölkerung das letzte Wort haben, wie die UNO es vorschlägt?

 

Russland annektiert die Krim und beruft sich vordergründig auf den Schutz der dort lebenden russischen Bevölkerungsanteile. Stehen die Rechte dieser Menschen über den Rechten der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger? Darf man einfach so in ein anderes Land einmarschieren und ganze Landstriche übernehmen?

 

Für China ist Taiwan ohne jeden Zweifel Teil der eigenen Nation und des eigenen Territoriums. Taiwan versteht sich als unabhängiges Land. Wer hat das Recht, darüber abschließend zu befinden? Welche Rolle spielt dabei die Geschichte und wer darf sie deuten? Litauen geht einen Schritt in Richtung Anerkennung Taiwans. China reagiert mit Handelssanktionen. Aber was für einen Einfluss kann es haben, wenn ein Land ein anderes Land anerkennt?

 

Im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verlieren viele Menschen ihre Heimat im Osten des damaligen Deutschen Reiches. Vertriebenenverbände finden sich über Jahrzehnte nicht damit ab. Schaffen Grenzverschiebungen durch Krieg, Revanche und Ausgleich neue Fakten, die in sich unanfechtbare Geltung haben? Schafft Geschichte Tatsachen?

 

Katalonien versteht sich als eigenständiges Land und strebt die Unabhängigkeit von Spanien an. Was ist mit jenen Menschen vor Ort, die dazu eine andere Meinung haben und Katalonien als Teil Spaniens sehen? Haben separatistische Bewegungen eine Berechtigung und dürfen sie die nationale Einheit auflösen? Hat das entgegengesetzte Bestreben einer Nation nach unauflösbarer Einheit ein Vorrecht?

 

Israel gründet einen eigenen Staat und stützt sich auf die alte Prophezeiung vom Gelobten Land. Viele Staaten anerkennen Israel. Andere Staaten anerkennen Israel nicht. Ist Israel damit ein anerkannter Staat oder nicht? Das diffizile Geflecht aus Anerkennung und Nicht-Anerkennung macht regionale und globale Politik kompliziert. Darf man ein Land bedrohen und boykottieren, das man selbst nicht anerkennt?

 

Immer noch erstaunt blicke ich auf die friedliche Revolution in der früheren DDR, bei der das Volk lautstark äußerte, wohin die Grenze weichen soll. Einflussmächte, Schutzmächte, Großmächte, Siegermächte ließen sich auf diese Entwicklung ein und befürworteten nicht nur die Wiedervereinigung eines zerrissenen Volkes, sondern lösten auch die Ketten des Eisernen Vorhangs.

 

Wer gehört zu wem und wer darf darüber bestimmen? Die Frage kann offenbar nie zu aller Zufriedenheit beantwortet werden. Es sei denn, dass sich alle an einen Tisch setzen und die Chancen größer bewerten als die Risiken und Verluste.

Kollektiverfahrung Corona

Deutschland trägt eine Maske. Die Corona-Pandemie wird zur ersten Kollektiverfahrung unserer Gesellschaft seit Jahrzehnten. 

Wir hatten uns fest daran gewöhnt, dass Dinge zwar schiefgehen können, aber dass sie unsere heile Welt nie ernsthaft in Gefahr bringen würden. Im Grunde wussten wir ja, dass wir sicher sind. Stolpern, Fallen und Scheitern blieben allgegenwärtig, aber die Zerbrechlichkeit des Lebens war stets eine individuelle Erfahrung oder das Erlebnis einer mehr oder weniger scharf umrissenen Teilgesellschaft. Sicherheit war die kollektive Erfahrung der letzten Dekaden. 

 

Andere oder sogar gegenläufige Kollektiverfahrungen liegen für uns als Gemeinschaft der in Deutschland Lebenden weit zurück. 75 Jahre ist es her, dass ein heruntergekommenes Volk in einer Trümmerlandschaft kapitulierte. 30 Jahre ist es her, dass ein aufbegehrendes Volk der heruntergewirtschafteten Deutschen Demokratischen Republik das Ende bescherte. Vielleicht müssen wir die Ereignisse vom 11. September 2001 dazu zählen, als Terror sich selbst skalierte. Das waren tatsächlich die letzten Erfahrungen unserer Gesellschaft, von denen wir alle betroffen waren. Wir-sind-Papst, Sommermärchen und Finanzkrise kamen später und blieben doch eher partiell. 

 

Es stellt sich nun die Frage, was das »Wir« in diesen Zusammenhängen bedeutet. Im Jahr 1945 war ich noch nicht auf der Welt. Inwieweit das Dritte Reich und der Zweite Weltkrieg dennoch zum kollektiven Erbe in der Seele der heutigen Generationen zählen, wird von Tiefenpsychologen noch debattiert. An den 9. November 1989 kann ich mich hingegen sehr gut erinnern. Doch das kollektive Erlebnis eines tiefgreifenden Systemwechsels blieb den Bürgerinnen und Bürgern der DDR vorbehalten. Auch die Anschläge auf das World Trade Center wirken nach, aber eher als Schock denn als kollektive Terror-Erfahrung. Wir blieben vor dem Fernseher sitzen und griffen in die gemeinsame Chipstüte. 

 

Als Nation haben wir schon lange keine Erfahrung mehr geteilt, die nicht nur Individuum oder eine Teilgesellschaft einschneidend trifft, sondern alle. Die Corona-Krise ist die erste kollektive Erfahrung seit langem und für die meisten wahrscheinlich auch die erste überhaupt. Die ganze Nation steht still. Ein ganzes Land bleibt zu Hause und hält Abstand. Deutschland trägt eine Maske. Corona ist eine Macht, die uns alle zu Verhaltensänderungen zwingt. Der Gegner rüstet weder hinter dem Eisernen Vorhang auf noch wird er durch die Ummantelung einer Nuklearwaffe gebändigt. Der gemeinsame Feind kam gesellig zum Skifahren in der Business Class von Air China nach Europa. Und jetzt stehen wir alle auf seiner Piste und springen zur Seite. Mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit, die Klimawandel und AfD vor Neid erblassen lässt, hat Corona unsere Gesellschaft unterwandert und durchdrungen. Die von ihm ausgehende Gefahr lauert nicht länger irgendwo im Nebel der Abgase, die Gefahr ist mein Nächster, meine Partnerin, mein Kind, mein Kollege, das Wechselgeld beim Bäcker, die gemeinsame Chipstüte. 

 

Noch mag ich nicht daran glauben, dass die Corona-Krise uns alle und unsere geliebten Gewohnheiten dauerhaft verändert. Aber vielleicht wird uns fortan ein gewisses Misstrauen begleiten. Die Leute um mich herum in Konzert, Theater, Stadion, Kino und Restaurant konnten mir bislang gleichgültig sein. Vielleicht ist es mir in Zukunft lieber, wenn der Abstand zum Nächsten größer wird. 

 

Die kollektive Erfahrung der Corona-Krise hat unsere Erfahrung der kollektiven Sicherheit ins Wanken gebracht. Telefon, Messenger und Video-Call sind der neue Mindestabstand, die Digitalisierung unseres Lebens ist der Profiteur des Ganzen. Was bleiben wird, ist eine gewisse Entfremdung. Wir sind nicht absolut sicher. 

Dirk Röse Klimawandel

Klima ja, aber kein Wandel

Wir werden scheitern. 65 % weniger Treibhausgasemissionen bis 2030 – in Deutschland und im Vergleich zu 1990 – sind mit uns nicht zu machen. Wir lügen, wir taktieren, wir machen allzu kleine Schritte, wir bleiben ratlos und wir hoffen immer noch darauf, dass wir am Ende ohne größere Einschnitte in unser gewohntes Leben davon kommen. Es wird so nicht funktionieren. 

 

Die EU legt Rahmenpläne vor, Deutschland ruft Ziele aus und niemand weiß, was das im Einzelfall für das Individuum bzw. ein Unternehmen bedeutet. Dabei sind die neun Jahre bis 2030 nur dann ein langer Zielhorizont, wenn Veränderungen zügig und mit Nachdruck eingeleitet werden. Doch ganz im Ernst: Wer möchte das? Wer möchte das durchsetzen? Wer möchte das erleben? 

 

Drei Milliarden zusätzliche Bäume in Europa, aussichtsreiche Projekte zur Nutzung von Biokohle, verstärkte Forschung zur wasserstoffbasierten Energie, die Klassiker Wind- und Solarenergie, die engeren Daumenschrauben beim Emissionshandel und vieles mehr sind bewundernswerte Anstrengungen, um Treibhausgase zu vermeiden bzw. zu verringern. Und sie alle sind darauf ausgelegt, unseren Lebensstil unverändert aufrechtzuerhalten. Klar, das wünsche ich mir auch – und bitte auch mit weltweitem Potenzial, damit Afrika und andere Regionen gleichziehen können. Und mich treibt das ungute Gefühl um, dass es so nicht gehen wird. 

 

Denn zugleich verstärken wir Entwicklungen, die nicht in jedem Fall zu mehr Klimafreundlichkeit führen. Insbesondere unser Bedarf an Strom wird weiterhin gewaltig zunehmen. Auf die seit Jahren gut etablierten Stromfresser in Industrie, Handel und Haushalt satteln wir tatsächlich zusätzliche Faktoren auf, so z. B. Elektroautos, Smartphones und Digitalisierung, und setzen auf eine Ernährungswirtschaft, die ohne gewaltige Kühlketten nicht mehr existieren kann. Und ganz nebenbei müssen nun auch Radfahren und Rauchen elektrisiert werden. Nicht alle diese Punkte sind ihrer Klimarelevanz ausschlaggebend, bestätigen aber die ungebrochene Tendenz nach »immer mehr« statt »jetzt mal weniger«. Weniger Strom, weniger fossile Energieträger, weniger Neues, weniger Mobilität, weniger Fleisch, weniger … 

 

Die Ökobilanz eines Elektroautos wird erst nach 127.000 gefahrenen Kilometern besser als die eines Benziners und nach 219.000 gefahrenen Kilometern günstiger als beim Diesel. Hintergrund sind die Herstellung und der derzeitige Strommix in Deutschland. Für einen nennenswerten Fortschritt in Sachen Umwelt- und Klimaschutz ist mir das noch zu wenig. 

 

Werden wir wirklich umhinkommen, Prioritäten zu setzen und uns für das eine und gegen das andere zu entscheiden? Diese gesellschaftliche Debatte traut sich niemand zu. Und deshalb werden wir scheitern. Und, ja, es wird auch an mir liegen.