WORT

Welten. Schicksale. Abenteuer. Irrwitz. 

Glaube

Timon

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Sie kamen in der Hitze des späten Nachmittags. Das flirrende Licht und der Staub der Straße tauchten die Männer in eine unwirkliche Gestalt, als würden ihre Füße den Boden nicht berühren, als hätte die Glut des Tages ihre Leiber verflüssigt.


Timon saß im Schatten seines Elternhauses und sah sie schon von weitem. Er ahnte, wer da kam, denn jedermann wusste, dass Jesus von Nazareth und seine Jünger in der Gegend waren. Viele aus dem Dorf hatten sich gefragt, ob sein Weg auch hierher führen würde.


Mit dem linken Arm und dem linken Bein rückte Timon seinen Körper zurecht, um besser sehen zu können. Er stand nicht auf, er lief nicht durchs Dorf, um die Ankunft der Reisenden anzukündigen. Timon war halbseitig gelähmt. Rechts. Nur die linke Seite gehorchte seinem Willen.


Zielstrebig gingen Jesus und seine Jünger auf das winzige Wäldchen zu, das dem Kahlschlag der römischen Rodungen entkommen war. Auch die Römer wussten zu schätzen, wenn ein Brunnen im Schatten lag.


Nun wurde Timon doch unruhig, denn die Männer verschwanden unter den Bäumen, ohne dass sie jemand entdeckt hätte – außer ihm. Gerade wollte er nach seiner Mutter rufen, als ein Mädchen aus dem Wald huschte. Die kleine Martha lief, als gäbe es einen Lorbeerkranz zu gewinnen.


Timon lächelte, und er lächelte nicht oft. Er war ein Krüppel, arbeitsuntauglich, seinen Eltern auch mit zwanzig Jahren noch eine Last, ein Bettler, wenn sich die seltene Gelegenheit bot. Er rechnete nicht damit, dass es bei Jesus und seinen Jüngern Almosen zu holen gab. Und trotzdem lächelte er, als er die kleine Martha rennen sah.


Martha eilte an Timon vorbei, ein kindliches Strahlen in den Augen, und verschwand zwischen den Häusern.


Kurz darauf hörte er die Schritte nackter Füße, die im Staub knirschten, er hörte das Tuscheln vieler Stimmen. Und schon standen sie neben ihm, ohne ihn zu beachten, und sahen zu den Bäumen hinüber: Neugierige, Erwartungsvolle und einige mit gespieltem Desinteresse. Sie zögerten nur kurz und setzten ihren Weg dann fort. Männer, Frauen und Kinder verschwanden unter den Bäumen. Timon hörte Stimmen, konnte aber kein Wort verstehen. Und je länger sie dort blieben, desto nervöser wurde Timon. Er dachte, sie alle würden in einer aufgeregten Menschentraube zurück ins Dorf kehren, Jesus und die Jünger mitten unter ihnen, doch sie blieben dort.


»Mutter, ich will auch dorthin. Hilf mir auf!«


Seine Mutter trat aus der Tür, sie blickte ihn gütig an, doch ihre Augen waren freudlos. Sie bückte sich und half ihm auf das gesunde Bein. Timon nahm seine Krücke, Mutter schulterte den lahmen Arm, und dann schlurften beide hinüber zu den Bäumen. Mutter ächzte unter Timons Last, doch Vater hatte sich diese Woche als Tagelöhner verdingen können, und war noch nicht wieder zurück. Gleich am ersten Baum half Mutter ihm, sich mit dem Rücken an den Stamm zu lehnen. Dann machte sie kehrt.


Timon sah sich um. Niemand nahm Notiz von ihm. Aller Augen waren auf einen Mann gerichtet, den Timon leider nicht richtig sehen konnte, da die Köpfe seiner Nachbarn ihm die Sicht versperrten. Nur hier und da erhaschte er einen Blick auf das Gesicht eines nicht mehr ganz jungen Mannes. Und dann, ohne es zu merken, erlag Timon dem Bann der Worte, die der Mann sprach.


»Das Reich Gottes ist nahe herbei gekommen.«


Ja, es war die Botschaft, die Timon ins Herz traf. Doch das war es nicht allein. Denn das Reich Gottes konnte alles bedeuten für einen kranken Sünder wie ihn, Gutes und Schlechtes. Aber wenn diese Stimme vom Reich Gottes sprach, dann war das Reich Gottes eindeutig etwas Gutes. Timon spürte, dass er plötzlich zuhause war bei Gott. Die Welt um ihn herum wurde leichter. In ihm wurde es leichter. Er spürte Frieden in sich.


Es tat gut, bei diesem Mann zu sein, denn Gott war bei ihm. Und es war gut, dass Gott bei diesem Mann war, denn bei ihm war Gott gut.


Timon wusste nicht, wie lange er Jesus zugehört hatte, da wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Zwei der Dorfbewohner brachten Rufus herbei, der taubstumm war und zu den Außenseitern zählte wie Timon.


Es war offensichtlich, dass Rufus nicht wusste, was man mit ihm vorhatte, und Angst verzerrte sein Gesicht.


Jesus unterbrach seine Rede und sah den Kranken an, der jetzt neben Timon stand. Die Köpfe der Zuhörer folgten dem Blick, und mit einem Mal stand Rufus im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.


»Meister«, sagte einer der Dorfbewohner, »dies ist mein Bruder. Er spricht nicht, er hört nicht. Man sagt, du könnest Kranke heilen. Wenn es dir möglich ist, so mache ihn gesund.«


Jesus betrachtete Rufus mit einem Blick, der der Seele gut tat.


Rufus schien das ebenso zu empfinden, denn sein Gesicht entspannte sich.


Dann stand Jesus auf, zwängte sich durch die sitzenden Menschen und berührte Rufus am Arm. »Komm«, sagte er, als ob Rufus es hören konnte.


Er ging mit dem Taubstummen ein Stück zur Seite und blieb in der gleißenden Sonne stehen. Timon sah, dass Jesus zum Himmel aufblickte und Rufus die Finger in die Ohren legte. Jesus benetzte seine Finger mit Speichel und führte sie zu Rufus‘ Lippen. Er sagte: »Tu dich auf!«


Rufus zuckte zusammen und ging beinahe in die Knie, sah sich mit großen Augen um. Und dann hörte Timon zum ersten Mal Rufus‘ Stimme, einen überraschten Laut, gefolgt von einem Lachen, einem freudigen, befreiten Lachen. Rufus riss die Arme hoch und brabbelte begeistert vor sich hin.


Timon bemerkte, dass die Dorfbewohner ebenso wie die Jünger aufgesprungen waren. Und als Rufus zu tanzen und zu springen begann, da verließen sie alle das Wäldchen, um das Wunder aus der Nähe zu betrachten. Nur wenige Augenblicke später brach vielstimmiger Jubel aus und es schien, als feiere das ganze Dorf ein spontanes Volksfest.


Im selben Augenblick war Timons Freude über Jesus dahin. Er blieb alleine unter den Bäumen sitzen, während alle anderen sich um Rufus und den Wunderheiler scharten und Gottes Gnade priesen.


Da raschelte es neben ihm, und ein unbekannter Mann setzte sich neben ihn. »Wie heißt du?«, fragte der Mann.


»Timon.«


»Mein Name ist Johannes. Ich bin einer der Jünger Jesu.«


Timon nickte.


»Du teilst nicht die Freude deines Dorfes?«, fragte Johannes. »Läufst nicht hinterher, um Gott zu loben?«


Timon war gekränkt. Johannes musste zweifellos die Krücke gesehen haben, die neben ihm lag. »Ich teile die Freude an Rufus‘ Heilung«, sagte Timon wenig überzeugend, »aber springen und tanzen bleiben mir verwehrt. Ich bin ein Krüppel.«


Johannes sah ihn an. »Was hast du gesehen?«, fragte er.


»Ich habe gesehen, dass Jesus Rufus geheilt hat.« Timon fand die Frage ebenso überflüssig wie seine Antwort.


»Was hast du nicht gesehen?«, fragte Johannes.


Timon sah ihn irritiert an. »Ich verstehe nicht …«


»Es ist mehr geschehen als das, was du gesehen hast«, meinte Johannes. »Es ist etwas geschehen, das man nicht sehen konnte.«


Jetzt glaubte Timon zu verstehen: »Ja, ich wüsste auch zu gerne, wie er das gemacht hat.«


Doch Johannes schüttelte den Kopf. »Warum möchtest du das wissen?«


»Nun ja, wie macht er das? Was ist das Geheimnis?«


»Warum willst du das wissen?«, wiederholte Johannes.


»Weil, weil …« Timon stockte.


»Kann es sein, dass du nicht so sehr wissen möchtest, wie Jesus es getan hat? Möchtest du nicht vielmehr wissen, was Rufus getan hat? Weil er geheilt wurde?«


Timon schluckte. Die Worte taten weh, aber sie waren wahr. Er nickte.


»Rufus hat nichts getan«, erklärte Johannes. »Es war allein Gottes Werk, das Jesus ausgeführt hat. Du kannst nichts tun.«


Timon fand diese Worte noch bedrückender. Er konnte nichts tun. Er war ausgeliefert, hilflos, konnte sein Schicksal nicht ändern.


Johannes ließ nicht locker. »Was ist geschehen, das du nicht gesehen hast?«


Timon sah die Bewohner seines Dorfes, die jubelten und beteten. Er sah Rufus mitten unter ihnen tanzen und singen. Und da wusste er, was Johannes meinte. »Jesus hat Rufus ins Leben geholt. Rufus war ein Außenseiter, sein Dasein hatte Grenzen, und Jesus hat die Schranken durchbrochen und ihm ein neues Leben ermöglicht.«


Diesmal nickte Johannes. »Und du?«, wollte er wissen. »Was würde deine Schranken durchbrechen und dir ein neues Leben ermöglichen?«


Timon musste nicht nachdenken. »Ein Sack voller Silber und Gold! Nur ein einziger Sack. Ich würde meinen Eltern nicht mehr zur Last fallen, ich könnte uns ernähren, und wir hätten keine Sorgen mehr. Meine Eltern werden alt, sie müssten nicht mehr arbeiten. Wir wären endlich Teil der Dorfgemeinschaft.«


»Ich verstehe.« Johannes war nachdenklich.


Timon wartete auf ein Wort der Zustimmung zu seinen Gedanken, bekam aber keines. Also fuhr er fort: »Du meinst doch nicht etwa, ich sollte um ein Wunder bitten wie das, das Rufus widerfahren ist?« Timon schüttelte über seine eigenen Worte den Kopf. »Nein, Johannes, das ist zu viel für mich. Für mich braucht es kein Wunder. Ich bin bescheiden. Mir reicht ein Auskommen für mich und meine Eltern.«


Diesmal antwortete Johannes. »Weißt du, was bei Gott zu viel ist oder zu wenig? Kannst du beurteilen, wo es ein Wunder braucht und wo nicht? Meinst du, dass es um Bescheidenheit geht, wenn ein Mensch endlich leben soll?« Er stand auf, reckte sich und ging zu den anderen.


Timon blieb allein zurück und fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen.

 

~

 

Am nächsten Tag zogen Jesus und die Jünger weiter. Timon hatte kein Wort mit dem Wunderheiler gesprochen und auch Johannes nicht mehr gesehen. Er war verärgert. Er hatte Johannes die Dinge anvertraut, von denen er insgeheim träumte, von denen er aber nie erzählte, um nicht ausgelacht zu werden. Und ausgerechnet von diesem wurde er abgespeist und sitzen gelassen.


Wochen vergingen, und immer wieder drangen Neuigkeiten über Jesus ins Dorf, immer wieder handelten sie von Heilungen, immer wieder wurden Worte weitergegeben, die er gesagt hatte.


Timon versuchte, nicht hinzuhören, doch er hörte genau hin. Und nach einiger Zeit verflog sein Groll, denn er erkannte, dass sich alle Geschichten in einem Punkt glichen: Gott meinte es gut mit den Menschen, und Gott war in Jesus, und Jesus brachte neues Leben. Sie nannten dieses Leben Heil oder Reich Gottes und es bedeutete immer dasselbe: Gott mischte sich ein und bog zurecht, was schief geraten war.


Irgendwann begann Timon darüber nachzudenken, was falsch gelaufen war, als er mit Johannes gesprochen hatte. Doch er kam nicht weiter. War es wirklich so, dass man nichts tun konnte, um von Jesus geheilt zu werden? Und war es am Ende so, dass sein Traum vom Sack mit Silber und Gold in die falsche Richtung führte?


Wer wusste, wovon Rufus geträumt hatte! Jesus hatte nicht danach gefragt, sondern das Übel an der Wurzel gepackt und herausgerissen. Es waren Taubheit und Stummheit gewesen, die Rufus behindert hatten. Und Jesus hatte ihm Ohren und Mund geschenkt.


Timon fragte sich, was ihn von einem ungehinderten Leben abhielt. Tagelang hielt er sich an dieser Frage auf und verzog das Gesicht, als er der Erkenntnis nicht länger ausweichen konnte, die eigentlich auf der Hand lag. Die Antwort war natürlich nicht ein Mangel an Silber und Gold. Es war vielmehr die Lähmung. Sie hinderte ihn daran zu leben. Und da hätte Jesus angesetzt. Gott schenkte nicht Silber und Gold, Gott schenkte Leben und räumte aus dem Weg, was daran hinderte.


Von diesem Tag an hörte Timon doppelt gut zu, wenn es neue Geschichten über Jesus gab. Er wollte ihn wiedersehen, seine Aufmerksamkeit auf sich lenken und um Heilung bitten. Doch Jesus kam nicht zurück.


Wochen später erzählte man sich, dass er auf dem Weg nach Jerusalem war, man befürchtete, dass es dort zum Konflikt mit den jüdischen Oberen und den römischen Behörden kommen würde.


Timon bekam es mit der Angst zu tun. Wenn es Jesus ans Leben ging, dann verlöre er die einzige Hoffnung auf ein eigenes neues Leben.


Als Pilger durch das Dorf kamen und erzählten, dass Jesus zum Passahfest in Jerusalem sein wollte, nahm Timon die wenigen Münzen, die er zurückgelegt hatte, und bat den Führer einer Karawane um die Barmherzigkeit, einem Krüppel den Weg nach Jerusalem zu ermöglichen. Der Karawanenführer nahm das Geld und wies Timon ein Lastkamel zu, auf dem er sich zwischen das Gepäck quetschte.


Die Reise erwies sich als schier unerträgliche Qual. Der Führer nahm keine Rücksicht auf Timons Gebrechen, legte tagsüber nur die notwendigsten Pausen ein, und selbst bei diesen half man ihm nicht vom Kamel herunter. Die Sonne brannte erbarmungslos auf Timon nieder, der fast bewegungsunfähig auf dem Lasttier hockte und Schmerzen am ganzen Leib litt. 


Doch wenige Tage später überquerten sie die Kuppe einer Hügelkette und am Horizont tauchten prächtige Gebäude auf. Da wusste Timon, dass Jerusalem nahe war.


Die Karawane brachte ihn zum Tempelbezirk, wo man ihn vom Kamel zerrte und sich selbst überließ. Er mischte sich unter zahllose andere Krüppel und Kranke und wartete einfach ab, was diese taten, um es ebenso zu tun. Von Stund an erlebte er einen ekelerregenden Schmutz und Gestank, der ihm die Sinne raubte. Das Leid dieser Menschen übertraf sein eigenes und war in dieser Häufung unerträglich. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass manch einer eine Heilung viel nötiger hätte als er.


Die Tage gingen dahin, und nichts geschah, das seinem Leben eine Wendung zum Besseren bescherte. Die Menschen, unter denen er leben musste, waren ihm zuwider, und bald begann er, sich selbst zu verabscheuen. Mehr und mehr nagte der Zweifel an ihm, ob diese Reise eine weise Entscheidung gewesen war. Doch als er hörte, dass Jesus schon mehrere Male im Tempel gewesen war, stieg seine Zuversicht wieder.


Dann brach der Sabbat an, und Timon erfuhr, dass man Jesus gekreuzigt hatte. Er war der Gotteslästerung und des Aufruhrs gegen den Kaiser beschuldigt worden, man hatte ihm kurzen Prozess gemacht und hingerichtet, damit der Leichnam noch vor Beginn des Feiertages bestattet werden konnte.


Timon sank in sich zusammen und weinte. Jesus von Nazareth war seine Hoffnung gewesen, ein Funken Hoffnung auf ein neues Leben. Doch nun kehrte er in die Sackgasse zurück, die schon immer sein Leben gewesen war.


Er blieb in der Nähe des Tempels und bettelte tagein, tagaus. Er brauchte Geld, um irgendwann mit einer Karawane heimkehren zu können. Tage und Wochen vergingen, und die Almosen, die er einstrich, reichten kaum, um seinen Hunger zu stillen. Er machte sich mit dem Gedanken vertraut, dass er sein Leben hier lassen und man ihn irgendwo verscharren würde.


~


Und dann kam der Morgen, an dem er in seinem verschlissenen und dreckigen Gewand an einer Mauer lehnte und sich kaum der Schmeißfliegen erwehren konnte, der Morgen, an dem er vor Hitze fast umkam und sich nach dem frischen Wasser aus dem Brunnen seines Heimatdorfes sehnte, der Tag, an dem zwei Männer in den Tempel kamen und Timon die Augen übergingen.


Der eine der beiden Männer hatte zu Jesu Jüngern gehört, doch sicher war sich Timon nicht mehr. Der andere aber war Johannes. Timon reckte seinen gesunden Arm und rief nach ihm, doch seine Worte gingen im Stimmengewirr des Tempels unter.

Kurzerhand nahm Timon die wenigen Münzen, die er heute eingenommen hatte und versprach sie dem erstbesten Mann, der zufällig vorbeikam: »Bring mich zu diesem Mann dort, ich flehe dich an!«


Der Mann sah ihn abfällig an, schätzte den Wert der Münzen und rümpfte die Nase.


»Ich bin nicht aussätzig«, beteuerte Timon. »Ich bin gelähmt. Hilf mir nur auf und stütze mich ein wenig, damit ich dorthin komme.«


Der Mann hielt die Hand auf, und Timon gab ihm alles, was er hatte. Die Münzen verschwanden im Gewand des Fremden, der ihm danach erneut die Hand hinhielt. Timon packte zu und ließ sich hochziehen. Er nahm seine Krücke und humpelte so schnell es ging den Jüngern hinterher, während der Fremde ihm half.


Kurz darauf erreichten sie eine Ansammlung von Menschen, die sich um Johannes und den anderen scharten. Alle plapperten aufgeregt durcheinander und nahmen den Krüppel nicht wahr.


»Lasst uns durch!«, bat Timon freundlich, aber mit Nachdruck.


Die Menschen machten ihm Platz, vielleicht wichen sie auch nur seinem Gestank aus. Der Fremde ließ Timon zu Boden gleiten und verschwand ohne ein einziges Wort in der Menge.


Dann endlich sah Timon Johannes ins Angesicht, und in den Augen des Jüngers blitzte Erinnerung auf. Die erregten Gespräche der Umstehenden verstummten, als Johannes auf Timon zeigte. Dieser rechnete damit, dass Johannes ihn ansprechen würde, doch stattdessen kam der andere Jünger auf ihn zu. Irgendwer tuschelte, sein Name sei Petrus, doch das sagte Timon nichts.


Petrus blickte auf Timon hinab. »Was willst du?«


Und Timon verzweifelte. Es war sein Ende. Dieser war nicht Jesus, er war noch nicht einmal Johannes und schon gar nicht Gott. Was hatte er sich nur davon versprochen, in die Nähe dieser Männer zu gelangen. Timon senkte den Kopf, hob die Hand und bat: »Ein Almosen, Herr.«


»Sieh uns an«, sagte Petrus.


Timon hob die Augen und sah, dass Johannes neben Petrus stand. Petrus sagte: »Silber und Gold habe ich nicht.«


Er machte eine bedeutungsvolle Pause, und Timon fühlte sich durchschaut.


»Was ich aber habe«, sagte Petrus, »das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi steh auf und geh umher!« Und er ergriff Timon bei der rechten Hand und richtete ihn auf. 


Sogleich spürte Timon, dass etwas mit ihm geschah. Seine Füße und Knöchel wurden fest. Wo er schwach gewesen war, wurde er stark. Wo sein Dasein ihn gehindert hatte, wurde er frei. 


Timon stand auf eigenen Beinen, er konnte gehen und stehen, und er fühlte eine unbändige Freude in sich. Dann lief er los, sprang umher und begann Gott zu preisen für das Wunder, das er an ihm getan hatte.

 

~

 

Als Timon sich zwei Wochen später seinem Heimatdorf näherte, suchte sein Blick vergeblich nach jemandem, der ihn kommen sah. Die Sonne stand hoch am Himmel, und wer konnte, hatte längst an schattigen Plätzen Schutz vor der Hitze gesucht. Ihm selbst lief der Schweiß Gesicht und Rücken hinunter. Es war nicht gut, zu solchen Stunden unterwegs zu sein. Aber seit er sich am Vormittag von der Karawane gelöst hatte, drängte es ihn nach Hause zu kommen und sich den prüfenden Blicken der Ältesten und Pharisäer zu stellen. Vor allem aber wollte er seine Eltern wiedersehen und sie glücklich machen.


Als er das kleine Wäldchen am Brunnen entdeckte, beschloss er doch noch einen kleinen Umweg einzuschlagen, etwas zu trinken, den Staub aus der Kleidung zu klopfen und das Gesicht zu waschen. Er wollte nicht müde und schmutzig von der Reise bei seinen Eltern erscheinen, sondern in jeder Hinsicht wie ein neuer Mensch aussehen.


Als er unter die Bäume trat, traf er die kleine Martha, die dort offensichtlich spielte. Sie sah auf und hielt inne.


»Timon?«, fragte sie mit großen Augen.


»Ich grüße dich, Martha.«


»Du kannst ja gehen!«


Timon zuckte die Schultern und lächelte.


»Bist du gesund?«


»Ja, Martha, ich bin gesund!« Timons Stimme war die Freude anzuhören.


»Wer hat das getan?«


Timon kratzte sich am Kopf. Was sollte er antworten? Er dachte an Petrus und Johannes, er dachte an Jesus, er dachte, dass das alles viel zu kompliziert wäre für ein Kind. Also gab er die Antwort, die auf jeden Fall richtig war und die Martha verstehen würde: »Gott hat mich geheilt.«


Martha strahlte über das ganze Gesicht. Sie rief: »Warte hier«, und war im nächsten Augenblick verschwunden.


Timon sah ihr nach, lachte über die Staubwolken, die ihre kleinen Füße auf dem Boden aufwirbelten, und wusste, was nun kam. In Kürze würde er die Schritte nackter Füße im Staub knirschen hören und das Tuscheln vieler Stimmen. Dann würden sie vor ihm stehen und ihm volle Aufmerksamkeit schenken: Neugierige, Erwartungsvolle und einige mit gespieltem Desinteresse.

Z.Z. Voss

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Die Urteilsverkündung war keine große Sache. »Schuldig«, wie erwartet. Dass sich das Gericht dabei auf »Abweichungen vom Idealbild des Menschseins« berief, reizte die Lachmuskeln auf eine der Situation nicht angemessene Weise. Z.Z. Voss senkte den Kopf, um ein unvermeidbares Grinsen zu verbergen. 


Unmittelbar auf das standrechtliche Verfahren folgte die Bekanntgabe des Strafmaßes. Z.Z. Voss horchte auf. Anders als der kleinliche Grund für den Prozess war dieses Detail durchaus von Belang für ihn und seine weitere Zukunft. 


»Ein Stein, in Umfang und Gewicht der Schwere der Schuld entsprechend«, verkündete der Richter, »soll durch den Verurteilten den Heiligen Berg hinauf bis zu den Göttern gerollt werden. Der Vollzug der Strafe ist ohne Verzug unter den in vergleichbaren Fällen bewährten Begleitumständen anzutreten.« 


Z.Z. Voss nahm den Schuldspruch verständnislos, aber gelassen entgegen und kratzte sich das stoppelige Kinn. Nach zwei Nächten in einer erbärmlichen Zelle war es an der Zeit für eine heiße Dusche und eine akribische Rasur. Doch da er die Strafe sofort antreten sollte, musste beides wohl bis zum Abend warten. 


Zwei Beamte, deren Uniformen sie namentlich als »Meier« und »Maier« auswiesen, nahmen Z.Z. Voss pflichtbewusst in die Mitte und führten ihn durch einen Hinterausgang aus dem prächtigen Gerichtsgebäude. Sie setzten ihn in einen Streifenwagen und fuhren zum Heiligen Berg. 


Viele hundert Meter erhob sich das Massiv am Rande der Stadt. Die höchsten Spitzen waren nur äußerst selten zu sehen, verbargen sich zumeist in den Wolken. Wanderer berichteten immer wieder dasselbe: Der Aufstieg an sich war keine echte Herausforderung, jedoch wirkte der dichte Nebel in den oberen Lagen so erdrückend, dass an ein Weiterkommen nicht zu denken war und man sich beinahe fluchtartig an den Abstieg machte. 


Z.Z. Voss blickte hinauf und fragte sich, ob die vergleichsweise harmlos anmutende Strafe nicht doch hinterhältiger war, als er zu diesem Zeitpunkt erahnte. Aber immerhin war er durchtrainiert und kräftig, seine eigenen Voraussetzungen sprachen also eher für einen zügigen Vollzug des Strafmaßes. Wahrscheinlich war alles nur eine Frage der klugen Einteilung seiner Kräfte. 


Die Beamten gewährten ihm diesen Augenblick der Besinnung, beäugten ihn aber mit hämischen Blicken. Dann zerrten sie ihn ein Stück weiter zu einem Gebäude, in dem sich die Steine befanden. 


»Sträfling Zacharias-Zodiac«, meldete Maier dem Bürokraten am Eingang und kicherte verhalten. »Zacharias-Zodiac Voss. Liegt sein Stein bereit?« 


Der Buchhalter wies mit der Hand über die Schulter. »Zweiter Gang links, gleich das erste Fach unten rechts.« 


Mit zunehmender Anspannung folgte Z.Z. Voss den Beamten ins Gebäude und bog mit ihnen um besagte Ecke. Da lag er, sein Stein, der Schwere seiner Schuld entsprechend, etwa einen Meter im Durchmesser und ziemlich rund. Plötzlich verspürte er Hochachtung, denn der Stein sah schwer aus. 


»Auf geht‘s«, sagte Meier und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. 


Z.Z. Voss bückte sich und rollte den Stein aus dem Fach. »Gut«, dachte er, »das Ding ist leichter als erwartet. Also wiegt auch meine Schuld nicht übermäßig schwer.« 


Er kullerte den Stein vor sich her aus dem Gebäude und bis zum Heiligen Berg. Die kurze Strecke aber offenbarte das Heimtückische des Brockens. Sein Gewicht war zwar akzeptabel, würde bei einem Aufstieg über Hunderte von Metern dennoch unweigerlich zum Problem werden. Überdies war seine Größe unvorteilhaft. Z.Z. Voss musste entweder gebückt laufen und den Stein vor sich her stoßen oder aber auf den Knien rutschen. Zugegeben, diese Begleiterscheinung seiner Strafe war fies


Am Fuß des Berges blieb er stehen. 


»Worauf wartest du?«, fragte Maier. »Du hast es doch gehört: Antritt der Strafe ohne Verzug.« 


Z.Z. Voss machte eine unwillige Geste mit der Hand. »Lass mich sehen, an welcher Stelle der Aufstieg günstig ist.« 


Die beiden Beamten sahen ihn amüsiert an. »Kleiner Tipp«, sagte Maier, »vergiss es. Geh einfach.« 


Z.Z. Voss hörte nicht auf sie, sondern rollte den Stein ein ganzes Stück weiter nach Norden, bis ein baumloser und relativ gleichmäßiger Anstieg vor ihm lag. »Hier«, beschloss er. 


»Ist uns recht«, sagte Meier, und sein Kollege nickte. 


Z.Z. Voss reckte noch einmal den Rücken, lockerte Arme und Beine, atmete tief durch und machte sich auf den Weg. 


In leicht gekrümmter Haltung gab er dem Stein den ersten Schwung und sein Strafmaß rollte locker die ersten Meter den Berg hinauf. Er trollte sich hinterher und gab dem Fels immer dann den nächsten Stoß, wenn dieser sich verlangsamte. Die Technik schien ihm nicht optimal, aber ein angemessenes und kraftschonendes Vorgehen würde sich im Laufe des Aufstiegs schon noch finden. Meter um Meter schob er den Brocken höher den Berg hinauf. Seine Kräfte hielten mit, er hatte sich das Ganze schlimmer vorgestellt. 


Nun gut, er war ja auch kein Schwerverbrecher. Ein Gauner vielleicht, aber kein übler, eher ein charmanter. Er kam bei den Frauen gut an, hatte einen beachtlichen Verschleiß, was leider nicht immer ohne Tränen abging. Mit Steuern und Versicherungen nahm er es nicht ganz so genau, ebenso wenig mit Tempolimits. Als Vorarbeiter auf der Baustelle gönnte er sich durchaus ausgiebigere Pausen, als ihm zustanden, aber er musste seine Kräfte schließlich auf ein langes Arbeitsleben verteilen. Er log, wenn es ihm passte, er warf seine Zigarettenkippen hin und wieder in den Wald oder den Biomüll, er fluchte und lästerte und machte seine Exfrau am Telefon nieder, die ihm einst wie die Verheißung des Himmels erschienen war, aber faktisch nur die Hölle auf Erden gebracht hatte. Außerdem hielt er nicht viel von den Göttern, die ihm bislang nicht spürbar gedient hatten. Dankbar genoss er ihre Feiertage, hielt sich aber von den archaischen Ritualen fern. 


Frohen Mutes gab Z.Z. Voss dem Stein richtig Schwung und erfreute sich an dem Anblick, wie sein persönlicher Fels den Berg hinan schnellte. Nein, er war kein schlechter Kerl, er war ein Durchschnittstyp wie tausend andere, die einfach nur ihr Leben lebten. Sicher, er war alles andere als perfekt, aber genau das besagte ja auch das Strafmaß: »Abweichungen vom Idealbild«, nicht mehr und nicht weniger. Dass sein Stein nun flott den Heiligen Berg hinauf rollte, war also alles in allem angemessen. Er würde sein Strafmaß mit Würde erfüllen und dann zur Tagesordnung zurückkehren. 


Die Minuten wurden zu Stunden und der Tag zog sich hin. Weiter und weiter rollte Z.Z. Voss den Stein hinauf und spürte zum frühen Abend, dass er ermüdete. Es war an der Zeit für eine Pause, um einmal kurz zur Ruhe zu kommen und eine Kleinigkeit zu essen. Außerdem wollte er zu gerne sehen, wie weit er gekommen war. Er suchte sich eine Stelle, an der sein Stein am Boden etwas Halt fand, und drehte sich um. 


Weit unter ihm erstreckte sich seine Heimat. Er sah das Land, die Stadt, den Fluss, ein erhabener Anblick. Zufrieden stellte er fest, dass er es bereits einige hundert Meter aufwärts geschafft hatte. Er wandte sich wieder nach vorn, schaute aufwärts und seine Gesichtszüge fielen in sich zusammen. Über ihm türmte sich der Heilige Berg und ließ in keiner Weise erkennen, dass er schon seit Stunden bergauf gegangen war. Ihm dämmerte, dass er für die Nacht eine Stelle suchen musste, um den Stein zu fixieren, damit er ein paar Stunden schlafen konnte. 


In diesem Augenblick knirschte der Boden, einige winzige Gesteinssplitter zerfielen und der Stein setzte sich in Bewegung. Fasziniert sah Z.Z. Voss, wie der Brocken in Sekundenschnelle Fahrt aufnahm und den Berg hinunter kullerte. 


»Verdammt!«, er hatte nicht aufgepasst. 


Mit einem riesigen Satz sprang er hinterher. Doch es war schon zu spät. Der Stein hatte bereits ein irres Tempo erreicht und hüpfte und rollte und raste den Hang hinab. Z.Z. Voss hastete ihm nach, schneller als er jemals in seinem Leben gerannt war, seine Füße jagten den Berg hinunter. Mehr fliegend als laufend kam er dem Stein immer näher, reichte jedoch nicht an ihn heran. Als er spürte, dass er jede Sekunde furchtbar stolpern würde, setzte er zu einem waghalsigen Sprung an, hechtete nach vorne und warf sich auf das fliehende Objekt. Im nächsten Augenblick spürte Z.Z. Voss, wie er unter den Brocken geriet, wie seine Rippen knackten, wie der Fels ohne ihn weiterrollte und er selbst über den steinigen Grund schlitterte und nur allmählich zum Erliegen kam. Stöhnend rappelte er sich auf, spürte, dass er sich nichts gebrochen hatte, atmete den Schmerz weg und trottete völlig perplex bergab. 


Aus einiger Entfernung beobachtete er, wie der Stein die letzten Meter hinab fegte und in der Ebene liegen blieb. Maier steckte eine Stoppuhr weg und Meier drückte ihm einige Geldscheine in die Hand. 


Kurz darauf erreichte auch Z.Z. Voss den Grund, zerschunden, atemlos, dehydriert und ausgesprochen hungrig. 


»Feierabend für heute«, sagte Meier. »Morgen um acht Uhr geht’s weiter. Ruh dich aus. Du hast noch ein langes Leben vor dir.« 


Die Nacht über tat Z.Z. Voss kaum ein Auge zu. Widersprüchliche, Schlaf raubende Fantasien plagten ihn, von Boykott über Flucht bis hin zum Ehrgeiz. Am Ende siegte der Ehrgeiz, und pünktlich um acht Uhr stand er bei seinem Stein und rollte ihn zum Abhang. 


Maier setzte einen Haken in ein Formular, das auf einem Klemmbrett lag. »Viel Erfolg«, wünschte er ihm, doch es klang wie: »Bis heute Abend«. 


Erneut machte sich Z.Z. Voss an den Aufstieg. Seine Methode, den Stein vor sich her zu rollen, hatte er am Vortag perfektioniert, doch heute machten ihm Muskelkater und die sengende Sonne zu schaffen. Sein Mittagessen nahm er ein, indem er das Wegrollen des Steins mit dem Rücken verhinderte. Er stapfte bergan, bis es dämmerte und sich die Sicht verschlechterte. Ihm wurde bewusst, dass der Aufstieg niemals an einem Tag zu schaffen war und er mindestens einmal irgendwo nächtigen musste. Und dafür brauchte der Fels einen sicheren Ablageplatz. 


Doch so lange er auch Ausschau hielt und dabei weiter hinan stieg, nirgends fand sich eine flache Stelle. Schließlich legte sich die Nacht über den Heiligen Berg und Z.Z. Voss setzte seinen Aufstieg bei Sternenlicht vorsichtig fort. Er war so müde, dass ihm die Augen schwerer wurden als der Stein. Seine Arme und Hände spürte er längst nicht mehr, seine Beine und Füße waren steif – und in diesem Augenblick bekam er einen Wadenkrampf, schrie auf, rutschte aus und fühlte diesen seichten Hauch, als der Stein an ihm vorüber rauschte und bergab trudelte. Nur Sekunden später war der Fels in der Dunkelheit verschwunden, bald darauf war auch sein Rollen nicht mehr zu hören. 

Wut überkam Z.Z. Voss. Auf diese Weise würde er es niemals schaffen, erst recht nicht, wenn man ihm nicht zwischendurch einen Tag zur Erholung des abgearbeiteten Körpers gönnte. War dieses verflixte Auf und Ab der Schwere seiner Schuld angemessen? Nein, keineswegs, eine solche Schinderei hatte er wirklich nicht verdient. 


Erbost verbrachte er die Nacht weit oben auf dem Berg und schleppte sich am nächsten Morgen desillusioniert wieder herab. 


Im Tal wartete Meier. »Sie sind zu spät zum Strafdienst erschienen, Herr Voss, ich muss das protokollieren. Konsequenzen müssen Sie allerdings nicht befürchten, da Sie vergangene Nacht besonders lange gearbeitet haben. Meinen Respekt, die Götter wissen Ihren Einsatz sicher zu schätzen.« 


»Wollt Ihr mich verarschen?«, keifte Z.Z. Voss. »Kein Mensch wird es jemals schaffen, an nur einem Tag da hoch zu kommen! Früher oder später wird dieser verfluchte Klotz wieder in dieses beschissene Kaff zurückrollen.« 


Meier nickte. »Exakt.« 


»Und was sollt der ganze Mist?«, schrie Z.Z. Voss, mittlerweile außer sich vor Zorn. »Wollt Ihr zusehen, wie ich zum Rolltrottel mutiere?« 


»Ganz unter uns«, raunte ihm der Beamte zu, »Ihre Strategie ist die falsche. Probieren Sie doch mal was anderes.« 


»Was anderes?« Z.Z. Voss verschlug es den Atem und er glotzte den Beamten verständnislos an. »Ich dachte, der Stein muss da rauf?« 


»Klar, aber gehen Sie doch mal einen anderen Weg.« 


»Und welcher sollte das sein?« 


»Den Weg des Gesetzes, des Gesetzes der Götter.« 


»Sagt mir nichts. Wo geht der lang?« 


»Dort hinten durch den Wald.« 


Z.Z. Voss‘ Blick folgte dem Fingerzeig des Beamten. Ein ganzes Stück weiter südlich erstreckte sich ein dichter Wald den Hang hoch. 


»Das‘n schlechter Witz, oder? Mann, das ist ja ein Dschungel. Ich wollte mir den Weg nicht zusätzlich erschweren, sondern erleichtern.« 


»Gemach, gemach«, riet Meier. »Der Anstieg dort ist echt bequemer und Sie finden immer eine Stelle, um den Stein für die Nacht abzulegen.« 


»Aber die Bäume?« 


»Die Bäume sind zwar unliebsame Hindernisse auf dem Weg der Heiligung. Doch das Gesetz der Götter wird Ihnen den bestmöglichen Weg hindurch weisen. Stück für Stück.« Der Beamte zwinkerte ihm wohlwollend zu. 


Z.Z. Voss wog Chancen und Risiken ab und folgte dann dem Rat des Beamten. Er ließ sich von ihm das Gesetz der Götter erklären und merkte sich das Wichtigste: Nicht anderen was wegnehmen, die Finger von verheirateten Frauen lassen, keinen umbringen und auch nicht hauen, gut für Mama und Papa sorgen und vor allem anderen an die Götter glauben und ihnen den Ehrenplatz im eigenen Herzen einräumen. Das meiste davon war zumindest irgendwie nachvollziehbar, fand Z.Z. Voss, und sollte insofern kein Problem für ihn sein. 


Also rollte er den Stein in den Dschungel. Und tatsächlich, das Gesetz der Götter wies ihm den Weg durch das Dickicht. Für die Nacht fand er einen geeigneten Schlafplatz, bei dem er auch den Stein sicher abstellen konnte. Und als die Sonne wiederum aufging, machte er sich ermutigt an den weiteren Aufstieg. Es wurde ihm leicht ums Herz, wie er den Stein da vor sich her rollte und immer weiter aufwärts kam, so dass er ins Träumen geriet, was er wohl als erstes tun würde, wenn das alles hinter ihm lag. Sogleich stand ihm die süße Eva vor Augen, die zwar vergeben, aber biegsam und schmiegsam war. Nur am Rande nahm er wahr, dass sich eine Schlingpflanze um seine Fessel legte. Wenige Schritte weiter stockte der verstrickte Fuß und Z.Z. Voss landete auf der Nase. Blätter wirbelten auf, als der Fels abwärts rollte. 


Auch in dieser Nacht blieb er auf dem Berg, schlief wie ein Stein, tief und fest, die völlige Leere in seiner Seele sog ihn in traumlose Dunkelheit. 


Verwirrt und mit strubbeligen Haaren erschien er am kommenden Morgen am Fuße des Bergs, wo Maier auf ihn wartete. Dieser schätzte seine Verfassung richtig ein und riet ihm mit einer väterlichen Geste: »Glaube an dich selbst, Z.Z., nur dann schaffst du es.« Maier setzte einen Haken in sein Formular, zwinkerte ihm zu und schickte ihn nach Hause. 


Dort absolvierte Z.Z. Voss mehrere Tage lang ein verschärftes mentales Training und glaubte schließlich so sehr an sich, dass er zum Berg eilte, den Brocken mit einem gewaltigen Urschrei hochhob, ihn sich auf die Schultern legte und brachialen Fußes den Berg erklomm. Nach zwölf Schritten gelangte er an eine besonders heikle Stelle und kippte hinten rüber. 


Der Stein plumpste Maier vor die Füße, der einen Haken in das Formular auf seinem Klemmbrett setzte. »Mensch Z.Z., du musst es wirklich wollen!«, sagte er und verdrehte die Augen. 


Z.Z. Voss vergrub seine Faust in Maiers Gebiss. 


Am nächsten Tag fühlte sich der Stein noch schwerer an. 


Der Beamte, der ihn diesmal empfing, um einen Haken zu setzen, hieß Meyer und war lässig drauf. Das Haar wehte in langen Wellen von seinem jointvernebelten Haupt und er zwinkerte ihm verschwörerisch zu: »Hey Mann, nimm‘s locker. Du hast das Spiel noch nicht durchschaut. Der Stein ist in dir. Er ist nichts als eine Projektion deiner inneren Unvollkommenheit. Ganz ehrlich, Mann? Du wirst niemals oben ankommen. Das hier ist Endstation. Aber kein Grund zur Sorge, echt! Mach das Beste daraus, versteh‘ die Krise als Chance. Mein Tipp für dich? Meditiere, Mann! Setz dich auf den Stein und befreie dich von deinen inneren Lasten. Und dann mach dich auf den Weg. Je höher du mit dem Stein gelangst, desto leichter wird er im kommenden Leben. Es geht nicht um den Gipfel. Es geht um den Weg. Der Weg ist das Ziel, Mann. Verbessere dein Karma.« 


Und so begann Z.Z. Voss auf dem Stein sitzend zu meditieren, sich in ihn zu versenken, mit ihm zu verschmelzen, und der Beamte kritzelte einen Haken. Als Z.Z. Voss dann spürte, dass er innerlich befreit war, machte er sich erneut an den Aufstieg. Nicht länger oben ankommen, sondern möglichst weit kommen, damit es ihm im nächsten Leben besser erging, das war das Ziel. 


An jenem Abend saß er in der Dämmerung am Hang und sah seinem Stein dabei zu, wie er bergab tollte. Doch diesmal blieb er flauschig, ereiferte sich nicht und ließ auch keine Verzweiflung aufkommen. Stattdessen markierte er die Stelle, bis zu der er heute gelangt war. »Morgen schaffe ich es noch weiter«, sagte er sich. »Und eines schönen Tages, nach einer unbestimmten Anzahl von Wiedergeburten, werde ich ohne Stein den Gipfel erklimmen und Teil der Götterschaft werden.« 


Als er tags darauf die gestrige Markierung passierte, wucherte in ihm der verwerfliche Gedanke, dass die zurückgelegte Strecke aber eigentlich schon dicke für eine steinfreie Wiedergeburt reichen müsste. Erst recht, wenn man alle bisherigen Anläufe addierte. Er legte den Stein behutsam zur Seite, ließ sich nieder und begann sein Karma zu berechnen. 


Da sprach ihn jemand von der Seite an. »Was machst du da eigentlich?«, fragte ihn ein Mayer, der irgendwie schlau aussah. »Ackerst Tag für Tag mit diesem Felsen den Berg hinauf. Warum?« 


»Weil …« Z.Z. Voss kam ins Stocken. Die Frage traf ihn unvorbereitet, war jedoch begründet, wie ihm schien. »Man, äh, hat mich dazu verdonnert.« 


»Weißt du, wie man das nennt, was du hier machst?« 


Z.Z. Voss schüttelte den Kopf. »Dummheit?«, fragte er zaghaft. 


»Fast. Es ist Religion. Der Mensch versucht, sich dem Heiligen zu nähern.« 


»Aha?« 


»Es ist immer dieselbe Bewegung. Von unten nach oben, von unten nach oben. Ohne durchschlagenden Erfolg. Nicht nur bei dir, sondern bei allen, die es versuchen. Sinnloses Verplempern der Zeit.« 


Z.Z. Voss verzog das Gesicht. War das etwa die schreckliche Wahrheit? 


Der Mayer fuhr fort: »Wem willst du was beweisen? Dir selbst? Das hast du nicht nötig. Den Göttern? Bei aller Liebe, aber da oben ist niemand mehr. Unbekannt verzogen. Olymp und Sinai sind verwaist, ebenso Helgafell, Göbekli Tepe, Wutai, Meru, Ampato und Kailash. Oder hast du Schiss vor den Beamten? Nein? Dann geh runter und sag ihnen, dass es keinen einzigen verdammten Stein gibt, der irgendetwas mit dir zu hat. Sag ihnen, du streikst.« 


Unschlüssig sah Z.Z. Voss ihn an. Gewiss, der Stein war nicht mehr als ein totes Stück Materie. Soweit hatte der Mayer jedenfalls Recht. Unruhe erfasste ihn, denn wahrlich, er hatte lange genug bei diesem Theater mitgespielt. Im nächsten Augenblick ballte er die Fäuste und stand auf. Er war immer noch ein ganzer Kerl und nun war Schluss mit dem Unfug. 


Z.Z. Voss klopfte dem Mayer dankbar auf die Schulter und machte sich in kernigen Schritten an den Abstieg, bereit den Beamten da unten so richtig den Marsch zu blasen, Maier und Meier zuallererst. 


Als er das Grollen hinter sich vernahm, war es auch schon zu spät. Der Stein begrub Z.Z. Voss unter sich, wickelte dessen Körper um seine Rundung und polterte mit ihm ins Tal. 


Völlig geplättet kam er unten an und Maier gab ihm einen Tag frei. 


Morgens erschien Z.Z. Voss wieder am Fuß des Berges, um sein Strafmaß zu erfüllen, und ihn überkam schiere Verzweiflung. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich lebensmüde und verfluchte den Stein. Er wünschte sich ein anderer zu sein und schüttelte über sich den Kopf. 


Mit einem tiefen Seufzer stemmte er sich gegen den Fels und begann ihn dort hinauf zu rollen, wo er es am ersten Tag versucht hatte. Er kam nicht gut voran, denn seine Kräfte waren geschwunden und sein Ehrgeiz tendierte gegen Null. Gegen Mittag gab er auf, fixierte den Fels mit einem Oberschenkel, rammte das andere Bein fest in den Boden und legte seinen Oberkörper resigniert auf die raue Oberfläche. Schwer atmend glitt sein Blick zur dunstigen Spitze des Berges, über der das Sonnenlicht waberte. 


Plötzlich meinte er von dort eine Bewegung wahrzunehmen. Er blinzelte und sah genauer hin. Tatsächlich löste sich ein Schatten aus dem Licht und alsbald konnte er eine Gestalt ausmachen, die den Berg herab kam. 


Es war ein Mann. Z.Z. Voss traute seinen Augen nicht. Jemand stieg vom Gipfel hinab, gelassen, festen Schrittes, aufrecht, und er sah nicht danach aus, als jage er einem verlorenen Stein nach. Der Kerl trug ein T-Shirt mit der Aufschrift: »Jesus hängt seinen Job an den Nagel.« 


»Die Götter sind mit dir«, grüßte der Unbekannte. 


»Das wüsste ich aber«, grüßte Z.Z. Voss. 


»Gibt’s ein Problem?«, fragte der Mann, kniff die Augen zusammen und fixierte sein Gegenüber mit einem freundlichen Blick. 


»Ein Problem?«, wiederholte Z.Z. Voss und machte eine hilflose Bewegung mit den Armen. Er wusste ja gar nicht, wo er da anfangen sollte, aber dann bezog er sich auf das Dringendste. »Der Stein hier.« 


Der Mann nickte. »Reich mal rüber.« 


Z.Z. Voss schob dem Unbekannten den Stein zu. Der nahm ihn, zog ihn an sich, und im nächsten Augenblick zerstob der Fels in einer Wolke aus Staub, die sich alsbald rückstandslos verzog. 


Z.Z. Voss hustete und riss gleichzeitig die Augen auf. »Das gibt’s ja nicht.« Plumps saß er auf dem Hosenboden und zog ein dämliches Gesicht. Völlig entgeistert starrte er den Unbekannten an. Was war das? 


Doch bevor der Fremde auch nur zur Antwort ansetzen konnte, raschelte es im Gebüsch. Z.Z. Voss nahm es nur am Rande wahr und starrte den Mann fasziniert an. War das wirklich passiert? 


Dann knirschte es hinter den Felsen. Z.Z. Voss‘ Augen zuckten und er warf einen ungehaltenen Blick zur Seite, sah eine Bewegung zwischen den Steinen. Aber noch war der Drang stärker, den Zerstäuber vom Berg ungläubig zu begaffen, und er wandte sich ihm wieder zu. 


Der Unbekannte stand lächelnd vor ihm und machte einladende Gesten nach allen Seiten. 


Erst als es in den Höhlen zischelte, siegte Z.Z. Voss‘ schwacher Geist und er gab seiner Neugier nach. Sein Blick riss sich von dem Fremden los und er sah sich um. Mit Unbehagen stellte er fest, dass sie nicht länger alleine waren. Andere Verurteilte krochen aus allen Ecken und näherten sich zaghaft mit ihren Brocken. 


Dass sie Gesellschaft bekamen, behagte Z.Z. Voss überhaupt nicht. »Wer bist du?«, fragte er und versuchte, die anderen zu ignorieren, versuchte, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. 


»Rate«, sagte der Unbekannte und winkte die anderen zu sich. 


Diese kamen näher, zögerlich und unsicher, doch unaufhaltsam. Männer und Frauen, jung und alt, arm und reich, mit ihren Steinen, klein und groß, drängten sich rund um den Unbekannten, nahmen direkt neben, vor und hinter Z.Z. Voss Platz, sahen den Fremden neugierig und erwartungsvoll an. 


Z.Z. Voss war plötzlich genervt und irritiert. Wieso hatte er all die anderen Verurteilten zuvor nicht wahrgenommen? Na klar, er war die ganze Zeit über einzig mit sich selbst befasst gewesen. Wie dumm von ihm, denn er hätte sich ja denken können, dass er nicht der einzige Abweichler vom menschlichen Idealbild war und nicht allein auf steinigen Pfaden pilgerte. 


Irgendeine Frau fasste sich ein Herz und schob ihren Stein dem Fremden zu. Ein Raunen ging durch die Menge, als ihn der Mann an sich nahm und mit einer staubigen Wolke verschwinden ließ. 


»Die Götter sind nah bei Euch«, sagte er. »Ich nehme die Last, die Euch von ihnen trennt.« 


Da setzte ein fieberhaftes Gewusel ein und alle hatten es auf einmal eilig, dem Fremden ihre Steine zu geben. Und der Mann nahm sie, nahm sie alle, und er nahm sie alle hinweg. 


Eine ungeahnte Euphorie erfasste Z.Z. Voss. Was der Kerl da abzog, war unglaublich, und es beseelte ihn mehr, als mit Eva zu schlafen, es fühlte sich besser an als Maier und Meier die Fresse zu polieren, es erleichterte mehr als der nachlassende Schmerz nach einer Rutschpartie unter dem Stein. Z.Z. Voss ertappte sich dabei, wie er kindisch tänzelte und in die Hände klatschte. Etwas Vergleichbares hatte er noch nicht erlebt. Tatsächlich, die Befreiung war nahe und dieser Mann war die Befreiung. 


»Da Ihr‘s nicht zu den Göttern schafft, komme ich halt zu Euch«, sagte der Unbekannte. 


»Wer bist du?«, fragte Z.Z. Voss noch einmal. 


»Ich bin Einer von Dreien und Drei in Einem«, entgegnete der Mann. 


»Keine Ahnung, was du meinst. Geht’s auch einfacher?« 


»Was sagst du, wer ich bin?« 


»Du verkehrst Religion ins Gegenteil«, stellte Z.Z. Voss fest. »Du kommst von oben nach unten und nimmst uns den Stein vom Herzen.« 


Der Mann nickte und zerstäubte weitere Brocken. 


Z.Z. Voss stand bei ihm und sah ihm genau auf die Finger, doch er fand nicht heraus, wie er es machte. »Schade«, murmelte er, »das wäre ein schickes Geschäftsmodell gewesen.« 


Die befreite, sorglose Stimmung griff um sich und hielt überraschend lange an – bis von unten herauf ein Tumult zu hören war. Z.Z. Voss blickte sich um und sah eine Schar von Beamten den Berg hinan eilen. Voran Maier und Meier. 


»Das darf er nicht!«, schrie Maier, »Unhold!«, wetterte Meier. 


Die Beamten kamen näher und fuchtelten mit ihren Waffen. 


»Er nimmt die Steine hinweg, vernichtet die Schuld! Das dürfen nur die Götter!«, keuchte Maier, blieb bei der Ansammlung von Verurteilten stehen und hielt sich atemlos die Seite. 


Doch der Mann vom Heiligen Berg nahm ungerührt weitere Steine an sich und ließ sie verschwinden. 


Da trat Meier vor, warf sich in die Brust und tönte: »Kraft des mir verliehenen Amtes verklage ich Sie der unerlaubten Anmaßung und spreche Sie der Götterlästerung schuldig.« Er fächelte Staub von seinen Offiziersabzeichen und Orden. 


Teile der Menschenmenge wurden nervös und selbst Z.Z. Voss fragte sich, ob es womöglich Unrecht war, was der Mann mit den Steinen tat. Nahm er ihnen etwas Entscheidendes weg und betrog sie? Schon begannen einige zu murren und meckern. Dann flammte Zorn unter ihnen auf, wütende Gesichter waren zu sehen, Menschen, die ihre Steine an sich rissen, sie nicht länger von irgendwem antasten lassen wollte. 


»Meier hat recht«, rief ein Mann, »der Stein ist ein Teil von mir. Niemand darf ihn so einfach zerstören.« 


Meier holte Luft und sagte mit weithin vernehmbarer Stimme: »Aufgrund der Schwere Ihres Vergehens und in Ermangelung der Möglichkeit zu einem ordentlichen Verfahren verurteile ich Sie zur Pein durch den Stein!« 


Das war der Dammbruch. »Steinigt ihn!«, riefen einige und rollten ihre Brocken von allen Seiten auf und über den Unbekannten. 


»Hört auf«, schrie Z.Z. Voss und sprang dazwischen, erreichte jedoch nichts außer schmerzliche Tiefschläge. »Schluss damit, Ihr steinreichen Dummköpfe«, fluchte er. »Er ist doch unsere einzige Chance!« 


Aber es nutzte nichts. Andere schlossen sich dem Krawall an und immer mehr machten mit. Es gab ein entsetzliches Tohuwabohu, der Mann vom Berg versank in einer Wolke aus Dreck und Gestein. 


Erst als der Staub sich legte, erkannten sie, dass der Unbekannte leblos am Boden lag und sämtliche Steine ins Nichts aufgegangen waren. Sie waren einfach verschwunden. Atem- und ratlos standen die Menschen herum und wussten sich keine Erklärung, spähten verschämt auf den geschundenen Körper des Fremden. 


Z.Z. Voss fiel auf die Knie, fühlte vergeblich nach Puls und Herzschlag. 


»Gehen wir«, sagte Meier und die Menge setzte sich in Bewegung, marschierte in sich gekrümmt zurück ins Tal. Niemand trug mehr die Last eines Steines und dennoch schien keiner froh darüber zu sein. Aus der Ferne sah Z.Z. Voss, wie sie am Fuß des Berges begannen, sich neue Brocken zu bauen, und er schüttelte fassungslos den Kopf. 


Nur wenige blieben zurück. In stillem Einvernehmen hoben sie den Fremden auf, trugen ihn in eine Höhle, betteten ihn dort so gut es ihnen möglich war und rollten mit gemeinsamer Anstrengung einen besonders schweren, großen Fels vor das Grab. Danach trauerten sie, trauerten den ganzen Tag, trauerten bis in die Nacht hinein. 


Auch den nächsten Tag harrten sie dort aus und verdrängten den Gedanken daran, wie es weitergehen sollte. Als sie aber am darauffolgenden Morgen erwachten, musste eine Entscheidung gefällt werden. 


»Un‘ nu‘?«, fragte Z.Z. Voss. »Rauf oder runter?« 


Die anderen zuckten ratlos die Schultern, sahen rauf, sahen runter. Bis jemand aufsprang und schreiend auf das Grab zeigte. Alle Köpfe flogen herum und absolute Stille kehrte ein. 


Der Stein war weg. Das Grab lag offen vor ihnen. 


Z.Z. Voss stürzte sich in den Eingang und sah sich um, sah nichts und niemanden, sah zurück zu anderen. »Er ist weg.« 


Erschrocken und ratlos schauten alle einander an. 


Da löste sich aus dem göttlichen Nebel der Bergesspitze eine Gestalt und blieb dort mit offenen Armen stehen. »Keine Sorge!« Worte aus der Ferne sanken zu ihnen herab. »Ich erwarte und begleite Euch.« 


»Ha!« Z.Z. Voss schlug sich auf die Schenkel. Wieder erfasste ihn diese Erleichterung, die offenbar nur der Fremde schenken konnte. Ungetrübte Freude. »Ich wusste es!«, rief Z.Z. Voss. »Er lebt! Der Kerl ist nicht totzukriegen. Bei dem beißt der Tod auf Granit.« Dann rief er den Berg hinauf: »Steig herab, Herr.« 


Doch der Unbekannte wandte sich zum Gehen und antwortete: »Ich gehe zurück zu dem, der mich gesandt hat. Aber als Geist werde ich bald unter Euch sein.« 


»Was?« Z.Z. Voss kratzte sich am Kopf. Er musste sich verhört haben. 


Aber als er sah, wie der Mann sich entfernte und den Berg hinan stieg, rief er ihm hinterher: »Ja, aber … Was sollen wir jetzt tun?« 


»Ich habe Euch gerettet. Das glaubt.« 


»Und das ist alles? Müssen wir nicht …« 


»Kein Müssen«, fiel ihm der Unbekannte ins Wort. »Denn es ist ja bereits alles erledigt.« 


»Aber ...« 


»Kein aber!« 


»Aber wenn …« 


»Kein Wenn, kein Wenn-Dann. Alles ist getan, Ihr gehört zu mir. Darauf verlasst Euch.« 


Und Z.Z. Voss verstand. Er lächelte erleichtert und sah dem Unbekannten nach, bis das Licht des Himmels ihn aufgenommen hatte. Dann klopfte er sich den Staub aus den Klamotten und begann auf diesem Fels eine Gemeinde zu bauen. 

Simeon

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Der Feiertag brach an und die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein. Drei betagte Männer näherten sich dem Heiligtum und staunten über den Strom der Menschen, die zur Ehre Gottes hierher kamen. Die Gläubigen brachten ihre Opfer, sie beteten und sangen, lauschten den Worten der Prediger. Alles in allem aber hatte es den Anschein einer atemlosen Geschäftigkeit. 


»Es überrascht mich immer wieder«, begann der Mann, den sie Antitheus nannten, »was der Feiertag mit den Menschen macht. So ein Trubel!« 


Die beiden anderen Männer, Fundamentheus und Simeon, nickten. 


»Manchmal frage ich mich schon«, fuhr Antitheus fort, »wie wichtig Gott bei alledem noch ist.« 


Simeon verdrehte die Augen. »Alter Nörgler. Natürlich ist ihre Frömmigkeit nicht makellos. Ich bin dennoch erfreut zu sehen, dass sie herkommen und geben und nehmen. Vielleicht ist so manch einem Gott wieder wichtiger, wenn er anschließend nach Hause geht.« 


»Du wirst altersmilde, lieber Simeon«, meinte Anthitheus und zwinkerte seinem Freund zu. »Ich erinnere mich an Zeiten, da dir der ungetrübte Glaube wichtiger als alles andere war.« 


»Ja, Recht hast du, alter Freund«, gab Simeon zu. »Aber verwechsle Weisheit nicht mit Altersmilde.« 


»Oho!«, sagte Antitheus, »er hält sich für weise.« 


Fundamentheus lachte über das ganze Gesicht, schwieg aber. 


»Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass Glaube den Menschen überfordert?«, fuhr Simeon ungerührt fort. 


Antitheus sah ihn irritiert an. »Überfordern? Höre, mein Freund, früher folgten die Menschen strengen Gesetzen, um Gott zu gefallen. Als das nicht funktionierte, gab Gott klein bei und sagte, ein aufrichtiger Glaube an seine Liebe und seine Vergebung seien genug. Diese Lehre ist leicht und herzlich. Sie wird wohl kaum jemanden überfordern.« 


Simeon zog eine Schnute. »Ich bin mir da nicht sicher. Der Mensch bleibt Mensch, bleibt Sünder, ganz gleich, ob er Geboten folgt oder Glauben schenkt. Am Ende hängt doch alles von der Gnade Gottes ab.« 


Nun schaltete sich auch Fundamentheus ein. »Nimm die Dinge nicht zu leicht«, bat er. »Natürlich steht die Gnade Gottes über allem. Aber der Gehorsam dem Gesetz gegenüber bleibt ebenso wichtig wie der Glaube und beide sind vom Menschen gefordert.« 


»Ah!«, machte Antitheus, »ich ahnte schon, dass du das einwerfen würdest. Schön, dass du dich an unserem Diskurs beteiligst.« 


Fundamentheus deutete eine Verbeugung an. 


»Wie ihr sicher wisst«, begann Antitheus, »halte ich von alledem nichts. Der Mensch erschuf sich einen Gott, um die Welt zu verstehen und die Moral aufzurichten, und als es ihm zu schwierig damit wurde, erdachte er sich Gottes Gnade, damit ihm Leben und Glaube nicht allzu sauer werden. Es freut mich jedoch, dass ich offenbar der einzige Ungläubige bin an diesem Ort.« 


Fundamentheus schüttelte tadelnd den Kopf, entgegnete aber nichts. 


Die drei Männer durchschritten ein wuchtiges Portal und betraten das Heiligtum, dessen weite Mauern ein ganzes Dorf umfasst hätten. Unter der eindrucksvollen Kuppel klang das Gewirr der vielen tausend Stimmen wie das Gesumme in einem Bienenstock. Der Duft von Kerzen, Gewürzen und Parfum lag in der Luft und übertünchte alle menschlichen Ausdünstungen. Die drei Männer waren beeindruckt und ganz gleich, was und ob sie glaubten, sie spürten das Heilige dieses Ortes. 


»Der Tempel der Menschlichkeit«, rief Antitheus provozierend. 


»Der Tempel der Göttlichkeit«, widersprach Fundamentheus. 


»Das Haus Gottes«, sagte Simeon. »Aber still jetzt! Seht da!« 


Simeon hatte einen etwa zwölfjährigen Jungen entdeckt, der mit seinen Eltern im Gedränge stand und sich neugierig umschaute. Der Knabe sah nicht anders aus als andere Kinder in diesem Alter, und doch wussten Antitheus und Fundamentheus sogleich, warum Simeon auf ihn zeigte. Der Junge war jemand Besonderes. 


»Er hat die Aura der Vollkommenheit«, flüsterte Antitheus. »Ein Mensch, wie er sein sollte.« 


»Ja«, stimmte Fundamentheus zu, »aus ihm strahlt etwas Göttliches. Ein Frommer, wie er sein sollte.« 


»Gott selbst«, stammelte Simeon, stürzte auf den Jungen zu und fiel vor ihm auf die Knie. 


Seine Mutter zog ihn sofort schützend an sich und legte ihren Arm um seine Schultern. Der Vater trat einen Schritt vor und machte eine abwehrende Bewegung. Der Junge jedoch blieb gelassen und blickte Simeon freundlich an. 


»Gott, mein Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden sterben«, sagte der Alte und blickte verklärt gen Himmel, der allerdings durch das Dach des Heiligtums verdeckt war. »So wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Messias gesehen, den du offenbarst vor allen Völkern, ein Licht, um die Nichtgläubigen zu erleuchten, und zum Lobgesang der Gläubigen.« 


Ringsum blieben die Menschen stehen und folgten gespannt der seltsamen Szene. Simeon erhob sich, legte dem Knaben die Hand auf das Haupt und segnete ihn, danach auch seine Eltern. 


»Ich danke dir«, sagte der Junge. 


»Komm jetzt«, sagte die Mutter und zog ihr Kind fort, der Vater trottete hinterher. 


»Komm jetzt«, spottete Antitheus und half Simeon beim Aufstehen, Fundamentheus stand fassungslos dabei. Die drei Männer tauchten in der Menge unter, und Antitheus führte sie in eine ruhige Ecke, in der sie ungestört reden konnten. 


»Was ist denn in dich gefahren?«, blaffte Antitheus. »Ich weiß ja von deiner Hoffnung, nicht eher zu sterben, als bis du den Messias gesehen hast. Aber jetzt hast du es plötzlich eilig oder wie? Kniest vor diesem Kind nieder …« 


»Beruhige dich«, mahnte Simeon. »Ich weiß, wen ich gesehen habe. Dieser ist der Sohn Gottes, der Messias, auf den ich gewartet habe. Gott ist Mensch geworden und hat eine Wohnung bei uns. Mein Leben hat sich erfüllt.« 


»Du gehst zu weit«, schimpfte nun auch Fundamentheus. »Wie kann Gott Mensch werden! Du lästerst seine Heiligkeit.« 


Simeon verschränkte die Arme und stellte sich stur. »Wie Gott Mensch werden kann, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass er es ist. Punkt.« 


»Du irrst«, widersprach Fundamentheus mit Nachdruck. »Das Heilige bleibt heilig. Gott bleibt Gott. Und das Profane bleibt profan. Mensch bleibt Mensch. Sünder bleibt Sünder. Dazwischen gibt es nichts, keine Brücke, keine Vermischung, keinen Schleichweg. Doppelpunkt.« 


»O doch. Gott kommt zu uns, da wir nicht zu ihm kommen können. Gott wird einer wie wir, denn nur so wird er uns retten.« 


»Gott als Mensch natürlich ...«, lästerte Fundamentheus. »Und eines Tages haben wir auch Gott als Lamm, Gott im Brot und Gott im Wein oder Gott im Wasser. Gott als Kind! Welche Blasphemie. Geboren von dieser Frau, seiner Mutter, die dann ja wohl eine Göttin ist oder wie?« 


Simeon zuckte die Schultern und schwieg. 


»Ihr Beiden macht mir Spaß.« Antitheus grinste. »Ihr geht ins Heiligtum und wundert euch, dort das Heilige zu finden. Ihr geht ins Haus Gottes und wundert euch, Gott dort zu treffen.« 


»Wir haben nicht Gott getroffen«, widersprach Fundamentheus. »Wir haben ein Kind gesehen. Mehr nicht.« 


»Siehst du, lieber Fundamentheus«, sagte Antitheus, »unsere Standpunkte liegen nicht weit auseinander. Ich sehe es nämlich genauso. Wir haben ein Kind gesehen, nichts weiter. Gott war nicht da.« 


»Natürlich war Gott da.« Fundamentheus klang gereizt. »Aber er war nicht in dem Jungen und war schon gar nicht der Junge selbst.« 


»Seht!«, rief Simeon. 


Die beiden anderen drehten sich um und erspähten den Jungen, der auf sie zukam. Seine Eltern waren nicht bei ihm. Er stellte sich zu den Männern, die sich plötzlich wie seine Gäste vorkamen, aber immerhin willkommene Gäste. 


»Wie heißt du, mein Sohn?«, fragte Simeon. 


»Mein Name ist Jesus, ich stamme aus Nazareth.« 


»Und was führt dich zu uns?« 


»Ich sah euch Drei miteinander sprechen, bevor ihr mich saht«, sagte der Junge. »Lasst mich teilhaben an euren Gesprächen.« 


Die Männer warfen einander ratlose Blicke zu. 


Jesus wandte sich an Antitheus. »Du glaubst nicht daran, dass es einen Gott gibt«, sagte er. »Aber wäre es nicht schön, wenn es einen Gott gäbe und er sich auf den Weg zum Menschen machte?« 


Antitheus zögerte. »Ja … Ja, das wäre tatsächlich schön, soweit es ein guter Gott ist.« 


Der Junge blickte Fundamentheus an. »Und wäre es nicht schön, wenn der gute Gott seine Gottheit verlässt, wenn das Heilige das Heiligtum verlässt, um als Mensch dem Menschen nahe zu sein?« 


Fundamentheus schien überrascht. »Natürlich, das wäre schön, soweit Gott trotzdem Gott bliebe.« 


»Wäre es nicht schön, wenn all das bei Gott möglich wäre und Gott Mensch würde?« Die Augen des Jungen strahlten Simeon an. 


»Es wäre wahrhaftig schön, und es ist schon geschehen«, meinte Simeon. 


Die Vier setzten sich auf freie Bänke und waren alsbald so tief in ihre Gespräche verwickelt, dass sie kaum wahrnahmen, wie viele Menschen sich um sie herum versammelten und ihnen lauschten. Jesus stellte Fragen und gab Antworten, die sie alle in Erstaunen versetzten. 


»Seht euch um«, sagte er. »Sie kommen ins Heiligtum Gottes und wissen vielleicht gar nicht, was sie hier suchen, wissen vielleicht nicht, was sie erwarten dürfen. Sie begehen ihre Feiertage und können doch kaum feiern. Glück hat, wer weiß, dass jedes Glück nur vorläufig ist und es viele Fragen unbeantwortet lässt. Viele aber wissen dies nicht mehr. Ihre Leere, ihre Sehnsüchte und Hoffnungen sind von all dem Gerümpel des Lebens verdeckt. Und wenn sich die geheimen Regungen doch einmal Bahn brechen, dann erschrecken viele und laufen davon.« 


Das Gedränge um Jesus und die drei Männer nahm weiter zu. 


»Ist es nicht so, dass der Mensch seine Heimat verloren hat und sich nach einem Zuhause sehnt, in dem alle Last von ihm fällt? Dieses Zuhause ist bei Gott, doch der Mensch erkennt es nicht, kann sich nicht vorstellen, dass es gut ist, bei Gott zu sein. Deshalb bleibt der Mensch in seinem Innersten allein und unerfüllt.« 


Die Menge um sie herum war still geworden. 


»Deshalb ist auch Gott traurig. Er teilt unsere Sehnsucht«, sagte Jesus. »Was aber soll Gott tun, wenn er den Menschen liebt und dieser nichts von ihm wissen will?« Der Junge hielt inne und sah vielen in die Augen. »Vielleicht macht er sich auf den Weg zu den Seinen. Vielleicht wird er ein Mensch unter Menschen. Vielleicht findet er hier sogar ein Zuhause und alles wird gut …« 


Erst Stunden später zwängte sich eine aufgeregte Mutter durch die Menge und seufzte erleichtert, als sie ihren Sohn entdeckte. 


»Hier bist du! Wir haben dich schon gesucht. Dein Vater ist voller Sorge um dich.« Und man sah ihrem Gesicht an, dass es ihr ebenso ergangen war. 


»Aber Mama, ihr musstet mich nicht suchen. Ihr hättet euch doch denken können, dass ich im Haus meines Vaters bin.« 


Die Menschen um sie herum schwiegen. Niemand widersprach. Vielleicht verstand auch nicht jeder, was Jesus gemeint hatte. Aber die drei alten Männer verstanden es wohl und wunderten sich sehr. 


Die Mutter nahm Jesus bei der Hand und ging mit ihm weg. Der Junge winkte zum Abschied und die Männer winkten zurück. 


»Dieser Junge lässt mich wünschen, dass es einen Gott gibt«, murmelte Antitheus. 


»Und ich wünschte, Gott käme uns so nah, dass er Mensch würde«, gab Fundamentheus zu. 


»Und ich wünschte, dass Gott so ist wie dieser Jesus«, sagte Simeon. »Könnte es ein größeres Heil für uns geben?« 

Kreuz und Queer

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Es begab sich aber, dass Jesus die Fenster des Himmels öffnete und die frische Luft tief einatmete. Genüsslich schlürfte er einen Latte Macchiato mit aufgeschäumter Hafermilch und im geschirrspülechten Becher aus nachwachsenden Rohstoffen.

Gedankenverloren sah er auf das Treiben der Menschen hinab. Er sah Not, Schmerz, Unrecht und Gewalt. Hier und da fand er Glück. Und er entdeckte Liebe, Mitleid, Fürsorge. Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass wieder ein paar Jahre vergangen waren und sich nichts geändert hatte.

Dann schaute Jesus genauer hin und suchte seine Gemeinde. Es gab viele, die an ihn glaubten, und noch mehr, die nicht an ihn glaubten. Er betrachtete die katholische Kirche, die sich selbst immer noch zu wichtig nahm und es nicht lassen konnte, sich zwischen Gott und Mensch zu schieben. Er versuchte, die evangelische Kirche zu entdecken, doch die hatte inzwischen so viele Konturen eingebüßt, dass sie kaum noch zu erkennen war. Dafür waren die Zungen der Pfingstgemeinden nicht zu überhören, die ihm allmählich Kopfschmerzen bereiteten. Die Freikirchen eiferten weiterhin für ihn und knechteten die Gläubigen mit starren Methoden einer unerreichbaren Rechtgläubigkeit. Zahlreiche Sekten kloppten sich derweil um das Exklusivrecht auf ewiges Heil.

Gähnend trat der Heilige Geist neben ihn, einen doppelten Espresso in der Hand.


»So schlimm?«, fragte Jesus.


»Es ist Sonntag. Gleich beginnen die Gottesdienste. Da muss ich voll da sein.«


»Die Katholiken haben längst mit der Frühmesse begonnen«, erinnerte Jesus.


»Die kommen ohne mich klar.« Der Heilige Geist kratzte sich am Hinterkopf. »Die haben ja das priesterliche Amt. Da geht’s auch ohne mich.«


Für einen Augenblick schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach.


»Wie war’s gestern bei dir?«, fragte der Heilige Geist.


»Ganz gut«, antwortete Jesus. »Und bei dir?«


»Ein paar Hausbesuche, vereinzelte Wiedergeburten, die üblichen Bekehrungen, einige Taufen, nichts Besonderes.«


»Dann schau mal, was ich im Internet entdeckt habe.« Jesus schnappte sich sein Tablet und begann darauf herumzuwischen.


Der Heilige Geist sah ihm über die Schulter.


»Hier.« Jesus rieb dem Heiligen Geist das Tablet unter die Nase.


»Was ist das?«


»Ein christliches Forum im Internet. Das ist die Zukunft: die digitale Gemeinde.«


Der Heilige Geist schluckte. »Internet ist ja nicht so meins. Ich komm einfach nicht zwischen die Bits und Bytes.«


Fahrig antwortete Jesus: »Du musst dringend an deiner Digitalisierung arbeiten« und wischte erneut über die Oberfläche. »Erlösung 4.0 reicht nicht mehr.«


Der Heilige Geist war ratlos.


»Auf der Plattform haben die sogar eine Ecke für die Partnersuche unter Gleichgesinnten«, sagte Jesus.


»Ach … Die haben die Liebe digitalisiert?« Mit einem Mal war der Heilige Geist neugierig. Er nahm Jesus das Tablet aus der Hand und begann zu lesen.


»Mehr oder weniger. So richtig gut klappt das nicht.«


Der Heilige Geist überflog einige Threads und war irritiert. »Gott ist die Liebe, Gott ist die Liebe … Wo komme ich denn da vor?«


Jesus sah ihn milde an: »Komm schon, alles gut. Du stehst halt in der zweiten Reihe. Weißt ja, deine Bits und Bytes … ChatGPT könnte echt was für dich sein. Damit geht alles leichter. Auch für dich. Bei der Gebetserhörung ist mir das eine Wahnsinnshilfe. Spart Zeit.«


Der Heilige Geist schwieg.


»Nimm’s nicht persönlich. Sieh dir lieber das hier an. Die vielen Diskussionen.« Jesus schien fasziniert. »Mir war gar nicht bewusst, was für ein regenbogenbunter Haufen wir sind. Da gibt es Erbauliches, Tröstliches und Liebevolles und ständig wird das Wort Gottes ausgelegt. Nicht wirklich gut, eher unbeholfen, aber immerhin. Sie geben sich Mühe. Und jeder darf das Wort ergreifen, wirklich jeder.«


»Und jede!«, korrigierte der Heilige Geist pieksig. »Vergiss das bitte nicht.«


Jesus verdrehte die Augen und schnappte dem Heiligen Geist das Tablet wieder weg. »Im Ernst, das ist wichtig für uns beide: Die machen unsere Arbeit. Legen schon mal Regeln fest, wer Christ ist und wer nicht, was man darf und was nicht. Tolle Vorleistung. Du weißt ja, systematische Theologie war nie meine Stärke. Aber hier bekomme ich eine Guideline für den Jüngsten Tag. Genial.«


Der Heilige Geist zog ein missmutiges Gesicht.


Jesus sah darüber hinweg. »Damit aber nicht genug. Wusstest du eigentlich, wie politisch die Christen sind? Der Hammer. Hier: Wie viele großangelegte geheime Verschwörungen es auf der Welt gibt und kaum jemand bekommt es mit. Wusste ich nicht. Oder hier: Impfen ist nicht gut. Jetzt weiß ich endlich, woher meine Beschwerden kommen. Und hier: Die AfD ist die neue christliche Partei mit christlichen Werten. Es gibt also noch Hoffnung. Und das: Einer hat behauptet, dass Vater queer ist. Das wollte nicht jeder glauben, äh, und auch nicht jede. Gab Ärger. Aber ich habe dabei gelernt, dass man zwischen Sünde und Sünder unterscheiden muss. Schwierig. Das wird am Jüngsten Tag noch mal brenzlig für mich. Rein oder raus. Da muss ich mich noch entscheiden. Apropos, bevor ich es vergesse: Die Endzeit hat begonnen und meine Wiederkehr steht bald bevor. Wie doch die Zeit vergeht, ich dachte, das zieht sich noch hin. Aber egal. Hauptsache, ich verpenne das nicht.«


Der Heilige Geist sah ihn pikiert an. »Und du bist sicher, dass die alle an dich und dein Kreuz glauben?«


»Jawohl.«


»So eine Vielfalt?«


»Die kommt doch von dir, du Schussel.« Jesus war sichtlich guter Laune. »Ich find’s irre. Die Christen sind kreuz und queer.« Er strahlte: »Meine Gemeinde!«


Der Heilige Geist atmete lautstark aus. »Ja, es ist ein Kreuz mit diesem entrückten, äh, verrückten Haufen.«


»Was ist los?«, fragte Jesus.


»Ich will ja nicht schon wieder nörgeln, aber …«


»Es hört sich bereits ganz danach an.«


»… das wird nichts mit dir und deiner Christenheit.«


»Bitte?«


»Hör dir selbst zu und du weißt, was ich meine.« Der Heilige Geist seufzte. »Seit zweitausend Jahren verfolge ich das Gewusel da unten, und das kommt dabei heraus. Manchmal frage ich mich, ob es nicht einen besseren Plan gebraucht hätte.«


Jesus kniff die Augenbrauen zusammen. »Du meinst, einen besseren Plan, als dich dahin zu schicken?«


Auch der Blick des Heiligen Geistes verdüsterte sich. »Ts. Mach du mal meinen Job und gib dich tagein tagaus mit diesen Kleingeistern ab.«


»Autsch. Wie kannst du nur! Sogar im Reich der Toten …«


»Vergiss es, auch nicht besser. War gestern noch da. Die drehen sich kuschelig um und schlafen lieber weiter. Sieh’s ein. Wir haben den Anschluss verloren. Da glaubt und macht jeder, was er will.«


Jesus schmollte. »Und jede.«


Der Heilige Geist brummelte: »So kriegen wir den Himmel jedenfalls nicht voll. Und du weißt ja, Vater hat großzügig ausgebaut. Platz ohne Ende.«


In einem Anflug von Sarkasmus schlug Jesus vor: »Wir könnten die Eintrittsgebühren senken.«


»Himmel …« Der Heilige Geist klang genervt. »Du selbst hast doch dafür gesorgt, dass sämtliche Gebühren bezahlt sind. Jeder darf hier rein, der es möchte. Und jede. Für lau.«


»Na toll, jetzt bin ich auch noch schuld daran. Weißte was? Geh doch zu TikTok. Die sollen es gefälligst so laut herausposaunen, dass es die ganze Welt hört: Die Tür zur Ewigkeit steht weit offen und Vater wartet. Den Himmel gibt’s umsonst!«


»Du warst auch schon mal geistreicher.« Der Heilige Geist kippte den Espresso herunter und ging.


Jesus rieb sich das Kinn. »Alle sind so gereizt und empfindlich. Dabei wollte ich doch nur Frieden und Erlösung bringen.« Dann zuckte er die Schultern und versank im Internet. Der Latte war einfach zu lecker.

Trinität

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Wenn ein Christ gefragt würde, was das Besondere und der Mittelpunkt des christlichen Glaubens ist, dann müsste er auch die Dreieinigkeit Gottes nennen. Einen dreieinigen Gott gibt es nur im Christentum. Für das Christentum ist die Dreifaltigkeit Gottes das Dogma schlechthin, also eine Lehre, die unwiderruflich gilt. Davon kommt die Christenheit nicht mehr weg. Dieses Dogma ist älter als die lutherische, älter als die römisch-katholische, älter als die orthodoxe Kirche und andere. Dieses Dogma verbindet die Kirchen zu einer Christenheit. Und die Christenheit hat nach wie vor gute Gründe, über die Dreieinigkeit Gottes nachzudenken und an diesem Dogma festzuhalten.

 

Schöpfer, Retter, Gegenwärtiger


Es ist eine große Errungenschaft, dass Juden begannen, an einen Gott zu glauben, und dass sie groß von ihm dachten. Diesen Glauben haben wir Christen von den Juden. Wir bekennen den einen, großen Gott, und wir bekennen ihn als Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Wir denken ihn als den Ewigen, als ein Wesen, das vor der Zeit war und nach der Zeit ohne Ende sein wird, als Wesen ohne Anfang und Ende.

Die Gefahr der Größe Gottes liegt darin, dass man ihn sich unnahbar, fern und starr vorstellt. Man denkt und glaubt ihn möglicherweise von sich und der Welt hinweg. Ein Gott, der fern, unnahbar und starr ist, der hat nichts Lebendiges mehr, der hat auch keine Geschichte in dieser Welt. Bei dem macht es keinen Sinn zu sagen: Gott macht etwas, zum Beispiel die Welt. Ein ferner, unnahbarer und starrer Gott ist kein schöpferischer Gott, er ist sich selbst genug. Bei dem hat es keinen Sinn zu sagen: Gott wird etwas, zum Beispiel Mensch. Ein ferner, unnahbarer und starrer Gott wird nichts, er ist schon alles. Bei dem hat es keinen Sinn, die Worte »vorher« und »nachher« zu gebrauchen, weil es für ihn keine Zeit gibt. Da gibt es keine Geschichte, da ist immer Ewigkeit.

Wir Christen glauben an den einen, großen, allmächtigen und ewigen Gott, aber wir glauben nicht, dass dieser Gott fern, unnahbar und starr ist. Wir glauben an einen lebendigen Gott, an einen Gott, der Geschichte macht. Wir glauben an einen schöpferischen Gott! An einen Gott, der sich diese Welt ausgedacht hat und der sie erhält. Wir glauben an einen Gott, der den Menschen geschaffen hat und ihn liebt. Wir glauben an Gott den Vater, dessen Geschichte diese Welt ist.

Wir glauben auch an einen Gott, der Mensch geworden ist, um diese Welt von ihrem Unheil zu erlösen. An einen Gott, der den Menschen nahegekommen ist, der ihnen ein Gegenüber ist auf Du und Du, der durch und für die Menschheit gestorben ist. Wir glauben an Gott den Sohn, der in der Welt Geschichte macht. Darum kann man ihn auch geschichtlich einordnen: Damals, vor 2.000 Jahren, gelitten unter Pontius Pilatus.

Und wir glauben an einen Gott, der in seiner Gemeinde gegenwärtig ist, der den Gläubigen allezeit nahe ist. Wir glauben an den Heiligen Geist, der Menschen in die Geschichte Gottes hineinzieht, sie zu seinen Kindern macht und sie heiligt. Heiliger Geist heißt: Gott macht mich zu einem Teil seiner Geschichte mit den Menschen.

Ja, wir Christen glauben an den einen, großen, allmächtigen und ewigen Gott. Und von diesem Gott glauben wir, dass er in der Welt und unter uns der Lebendige ist. Er bleibt nicht für sich und ist sich selbst nicht genug. Gott kommt aus sich heraus. Er offenbart sich. Er teilt seine Lebendigkeit mit uns.

Das will das Dogma von der Dreieinigkeit Gottes aussagen, dass der unsichtbare, jenseitige und ewige Gott ein lebendiger Gott ist, der sich mit dieser und in dieser Welt eine Geschichte macht.

 

Drei in Einem

Die Frage nach der Dreieinigkeit Gottes war im Anfang die Frage nach Jesus dem Christus. Der war ein Mensch. Ein besonderer Mensch. Auch ein leidender und sterblicher Mensch. Er war ganz und gar Mensch.

Und das ist der Punkt: Jesus war Mensch. Und doch hatte man es in ihm mit Gott zu tun. Gott war in Jesus Mensch geworden. Christen glauben und bekennen genau das mit fröhlichem Herzen: Jesus Christus ist Gottes Sohn. Er ist nicht nur wahrer Mensch, er ist auch wahrer Gott. 

Doch wie soll man das denken? Der eine Gott wird Mensch. Der Ewige kommt in die Zeit. Der Allmächtige wird ohnmächtig. Sind es etwa doch zwei Götter? Ein Gott der Vater und ein Gott der Sohn? Das kann nicht sein; denn Gott ist nur Einer. Dabei sind die Christen geblieben.

Und dann die Frage nach dem Heiligen Geist. In der Bibel ist von ihm die Rede. Und die Gegenwart Gottes im Heiligen Geist wurde immer wieder erfahren: Menschen kommen zum Glauben, sie lassen sich taufen, sie werden heil, sie lassen sich versöhnen.

Das wollte man denken können: Dass der eine Gott drei Personen ist. Dass er sich in diesen drei Personen unterschiedlich offenbart. Aus diesem Bedürfnis entstand mühsam das Dogma der Dreieinigkeit Gottes. Man kann den einen Gott in sich unterschieden denken. Gott ist der Vater und Gott ist der Sohn und Gott ist der Heilige Geist. Gott ist in sich unterschieden - und doch ist er der eine Gott.

Es geht um den einen Gott: Dieser Gott ist eine Einheit. Es geht um die drei Personen Gottes: Dieser Gott ist eine Gemeinschaft. Er ist in sich unterschieden. Gott ist Einheit; Gott ist Gemeinschaft.

 

Gott ist Einheit

Gott ist Einheit. Er ist ein Gott. Gottes Eigenschaften sind einheitlich, z. B. die Liebe. Wenn wir von der Liebe Gottes reden, dann können wir sie nicht auf den Vater beschränken oder den Sohn oder den Heiligen Geist. Die Liebe Gottes ist die Liebe des einen Gottes, der Einheit Gottes. Die Liebe des Vaters ist die Liebe des Sohnes ist die Liebe des Heiligen Geistes.

Auch die Taten Gottes sind einheitlich, sie sind Taten des einen Gottes. Sie können nicht ausschließlich einer göttlichen Person zugeordnet werden. Wenn z. B. jemand zum Glauben an Jesus Christus kommt, so können wir nicht sagen: Das hat Jesus Christus in Dir gewirkt oder der Heilige Geist oder Gott der Vater. Die Bekehrung eines Menschen ist die Tat des einen Gottes, der Einheit aus Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Wenn also jemand von der Liebe Jesu spricht, dann kann er keine andere Liebe meinen als die Liebe des Vaters. Wenn jemand Gott Vater im Gebet anruft, dann ruft er zugleich den Heiligen Geist an. Wenn jemand bekennt, dass ihm der Heilige Geist eine Bibelstelle eröffnet, dann ist dabei genauso der Sohn am Werk.

Gott ist Einheit, die sich nicht trennen lässt. Gott kann über sich »Ich« sagen.

 

Gott ist Gemeinschaft

Wir hören ja gerne von der Liebe Gottes. Und wir glauben sogar, dass Gott die Liebe selbst ist. Aber wenn wir sagen, dass Gott die Liebe ist, ergibt die Aussage keinen Sinn, solange Gott allein ist. Wenn es nur der eine Gott ist, dann kann er nicht die Liebe sein. Liebe braucht immer jemanden, der geliebt werden kann. Ein einsamer Gott aber kann nicht lieben. 

Jetzt könnte man sagen: Dafür hat er den Menschen erschaffen. Das aber würde bedeuten, dass die Liebe erst entstand, als Gott den Menschen erschuf. Dann wäre die Liebe ein Zufall, und wir könnten von Glück sagen, dass nicht zufällig Hass entstanden ist. Wenn Gott nur deshalb die Liebe ist, weil er den Menschen erschaffen hat, dann ist die Liebe nicht zutiefst eine Eigenschaft Gottes.

Aber Gott ist die Liebe. Und Gott ist die Liebe, weil er in sich unterschieden ist. Er ist der Vater und er ist der Sohn und er ist der Heilige Geist. Er ist Gemeinschaft. Gott kann über sich sagen: »Wir« und »Du«. Darum kann Gott die Liebe sein: Der Vater liebt den Sohn mit väterlicher Liebe. Und der Sohn liebt den Vater mit kindlicher Liebe.

 

GemEinSchaft

Gott ist Einheit. Gott ist Gemeinschaft. Und Gott ist Einheit in der Gemeinschaft. Und Gott ist Gemeinschaft in der Einheit.

Wenn Christen beispielsweise an die Schöpfung denken, dann denken sie an den Vater. Richtig so. Aber wer die Bibel kennt, der weiß, dass auch der Sohn und der Heilige Geist schöpferisch wirken. Eigentlich könnte man sowohl dem Vater als auch dem Sohn als auch dem Heiligen Geist für die Schöpfung danken. Oder einfach dem einen Gott. Gott ist Einheit. Gott als solcher ist Schöpfer. Aber in dieser Einheit als Schöpfer ist er auch Gemeinschaft, ist in sich unterschieden: Schöpfung wird vor allem mit dem Vater in Verbindung gebracht - der Vater ist in besonderer Weise Schöpfer.

Wenn ein Christ Gott für seine Erlösung danken möchte, dann betet er wahrscheinlich zu Jesus Christus, der die Erlösung am Kreuz erwirkt hat. Richtig so, denn Gott der Erlöser ist in sich unterschieden, er ist Gemeinschaft, und in dieser Gemeinschaft ist der Sohn in besonderer Weise der Erlöser. Zugleich aber ist Gott Einheit: Gott Vater ist auch Erlöser und der Heilige Geist ebenso. Doch der Sohn in besonderer Weise.

Gott ist Einheit in der Gemeinschaft. Und Gott ist Gemeinschaft in der Einheit.

 

Nachgedacht

Wenn man das alles bedenkt, kommt die Frage auf: »Wer hat sich sowas ausgedacht?« Und die richtige Antwort lautet: »Niemand.« Die Christen vor über 1.500 Jahren haben einfach ernst genommen, was sie mit Gott erlebten, was sie von ihm glaubten und was ihnen überliefert worden war. Und darüber haben sie nachgedacht. Die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes ist nicht ausgedacht, sie ist vielmehr diesem Gott nachgedacht, sie ist der Spur des sich offenbarenden Gottes hinterhergedacht. Gott kommt aus sich heraus, und der Mensch denkt ihm nach.

Das Dogma der Trinität ist auf der Spur Gottes weit fortgeschritten, aber eingeholt hat es ihn nicht. Deshalb bleibt an ihm auch immer etwas vom Geheimnis Gottes. Das macht nichts. Nur das Ausgedachte, das Erfundene hat kein Geheimnis mehr; das Nachgedachte dagegen ist immer noch Grund zum Staunen, zum Wundern, zum Lobpreis.

Abenteuer

Licht

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Melanie winkte ihrer Tochter noch einmal zu, sah, wie das Auto ihres Ex-Mannes um die Ecke verschwand, und ging ins Haus zurück. Vier Wochen frei! Sie konnte es immer noch nicht glauben, reckte die Arme und stieß einen Freudenschrei aus.

Es hatte gedauert, bis sie sich einverstanden erklärte, ihre kleine Eve für einen so langen Zeitraum gehen zu lassen. Doch Jürgen hatte ihr versichert, dass er nicht beabsichtige, die Siebenjährige auf seine Seite zu ziehen oder sie gar auf Dauer von Melanie wegzuholen. Vielmehr wollte er seinen Vaterpflichten wenigstens während der Sommerferien nachkommen, wenn er schon für den Rest des Jahres nur sehr begrenzt Zeit für die Kleine hatte. Als auch Eve begann, Melanie zu drängen, begann sie die Idee ernst zu nehmen. Den Ausschlag gab am Ende ihre beste Freundin, die anmahnte, dass Melanie nicht zur Glucke werden durfte, nur weil ihre Ehe viel zu schnell gescheitert war. Vielmehr sollte sie froh sein, dass Jürgen sich engagierte, und ihn gewähren lassen. 

Satte vier Wochen würden Melanie gut tun. Und auch Eve und Jürgen konnten davon nur profitieren.

Melanie ging in die Küche und machte sich in aller Ruhe einen Kaffee. Sie würde die Kleine vermissen, so viel stand fest, aber sie würde ebenso sehr die freie Zeit genießen. Sie hatte sich bereits mit Büchern eingedeckt, war für das Wochenende mit ihren Freundinnen verabredet und freute sich auf den Garten, in dem sie sich möglichst oft sonnen wollte.

Sie nahm den heißen Becher und ging in den Flur, wo auf der Kommode schon das erste Buch auf sie wartete. Im Augenwinkel sah sie, dass im Kellerflur noch Licht brannte. In der Hektik der Abreise hatte wohl jemand vergessen, es auszuschalten. Melanie drückte den Schalter, nahm das Buch und ging durch das Wohnzimmer auf die Terrasse. Sie rückte sich einen Sessel in die Sonne und nahm Platz.

Trotzdem blieb tief in ihrem Innern ein ungutes Gefühl zurück. Vier Wochen blieb Eve nun bei ihrem Vater, bei dem Mann, von dem Melanie sich getrennt hatte. Es hatte Gründe für die Trennung gegeben, unschöne Gründe. Und es war seitdem nicht wirklich besser geworden. Jürgen versuchte mithilfe seines Anwalts, das Haus für sich zu erstreiten. Seine Chancen standen nicht schlecht. Schon allein aus finanzieller Sicht. Melanie würde deutlich mehr arbeiten müssen, um die monatlichen Raten abzahlen zu können.

Dann gab sie sich einen Ruck und schlug das Buch auf. Die freie Zeit war zu kostbar, um sie mit trüben Gedanken zu verderben. Sie nippte am Kaffee, sah in die Sonne und atmete tief durch.

Die nächsten zwei Stunden tauchte sie in ihren Roman ab und ließ alles andere hinter sich. Die Nachmittagssonne schien auf ihren Körper und sie spürte, wie sie sich entspannte. Dann stand sie auf, um sich noch einen Kaffee zu machen. Das Telefon klingelte und Melanie ging dran.

»Hallo Mama, hier ist Eve.«

»Hallo mein Schatz.«

»Wir sind bei Papa und haben schon Eis gegessen. Heute Abend gehen wir ins Kino.«

»Na, das klingt doch super. Ich wünsche Euch viel Spaß!«

Eve erzählte von der Fahrt und dass es gar nicht heiß im Auto gewesen war. Dann fragte sie, ob Mama noch mit Papa sprechen wollte, aber Melanie verneinte. Sie gab der Kleinen ein Küsschen durchs Telefon und legte auf. Der Kaffee war fertig und sie blinzelte tapfer einige Tränen weg.

Auf dem Weg nach draußen blieb sie im Flur stehen. Hatte sie nicht vorhin das Kellerlicht ausgemacht? Sie drückte den Schalter und vergewisserte sich mit einem Blick auf die Treppe, dass das Licht nun wirklich aus war, schüttelte den Kopf und ging wieder nach draußen.

In kleinen Schlucken trank sie den Kaffee und las einige weitere Kapitel, bis sie hungrig wurde. Ein Blick aufs Handy zeigte, dass es bereits auf 20:00 Uhr zuging. Sie legte das Buch zur Seite und trat ins Haus. 

Im Vergleich zu draußen war es hier fast unangenehm kühl und dämmerig. Sie schnitt Brot, Gurken und Käse auf, legte einige Cherry-Tomaten dazu, öffnete eine Flasche Rotwein und stellte alles auf ein Tablett, mit dem sie sich auf den Weg ins Wohnzimmer machte, um Nachrichten und anschließend vielleicht einen Film zu sehen.

Doch im Flur stockte sie und blieb stehen. Im Keller brannte Licht. Melanie stellte das Tablett leise auf die Kommode, trat an den Treppenabsatz und lauschte. Außer dem Vogelgezwitscher, das durchs Wohnzimmer bis in den Flur drang, war kein Geräusch zu hören. Sie war sich absolut sicher, dass sie das Licht vorhin ausgeschaltet hatte. Wie konnte es nun wieder brennen?

Sie hielt die Luft an und drückte vorsichtig den Schalter. Das Licht verlosch. Melanie verharrte einige Sekunden, die Finger noch auf dem Kunststoff.

Im nächsten Augenblick ging das Licht wieder an.

Melanie rieselte es kalt den Rücken hinunter. Sie bekam Angst und verfluchte die Tatsache, dass sie alleine wohnte. War dort unten jemand? Zum Glück war Eve nicht hier. Aber wer sollte dort unten sein? 

Melanie schlich zur Haustür und fand sie verschlossen. Falls jemand im Keller war: Wie war er herein gekommen? Und sollte wirklich jemand dort unten sein, musste er sich doch denken können, dass er nicht unbemerkt blieb, wenn er immer wieder Licht machte. Wollte er nicht unbemerkt bleiben? Aber was wollte er dann?

Er lockt mich in den Keller.

Melanie bemerkte, dass ihr Herz bis zum Hals schlug. Spielt da jemand mit meiner Neugier, meiner Angst? Sie ging leise rückwärts in die Küche, öffnete eine Schublade und nahm ein langes, scharfes Küchenmesser zur Hand. Einen Augenblick zögerte sie und erwog, die Polizei zu rufen. Doch wollte sie auf keinen Fall als hysterische Frau dastehen, wenn irgendwelche arroganten Beamte herausfanden, dass lediglich eine Maus Turnübungen am Lichtschalter im Kellerflur gemacht hatte.

Hoffentlich war es nur eine Maus und nicht …

Melanie stand an der Treppe, das Kellerlicht brannte, und sie sah hinab. Es gab keine Schatten, die über die Wand huschten. Es gab kein einziges Geräusch. Nur Vogelgezwitscher und ihr Herzklopfen.Stufe für Stufe ging sie hinunter. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie barfuß war und ihre Füße auf den Fliesen quietschten. Wer auch immer dort unten war – er konnte sie hören.

Als sie die letzte Stufe hinab gestiegen war, drückte sie sich rücklings an die Wand und überlegte, in welchen Raum sie zuerst sehen sollte. Drei Kellerräume gab es. Wenn sie in einem verschwand, konnte sich ein Einbrecher aus einem der anderen Räume stehlen, die Treppe hoch huschen und ihr oben auflauern.

Also ging sie zunächst in die Vorratskammer, die direkt neben ihr lag. Ein kleiner Raum, von dem aus sie den Flur im Auge behalten konnte. Sie trat ein, den Rücken an der Wand, das Messer zum Stoß bereit, und knipste das Licht an. Auf den ersten Blick sah sie, dass hier niemand war. Sie machte das Licht wieder aus, verließ den Raum und schloss ihn von außen ab. Sie ging zum Waschkeller nebenan, zog die Tür zu und versperrte sie. Hier würde sie zum Schluss nachsehen.

Gegenüber lag der große Party- und Hobbykeller. Durch die kleinen Fenster fiel nur spärliches Licht. Nordseite. Melanie stellte sich in die Tür, vergewisserte sich, dass niemand in ihrer direkten Nähe war, und machte Licht. Es gab mehrere Möglichkeiten, um sich in diesem Raum zu verbergen. Hinter der Theke zum Beispiel. Melanie atmete tief durch und ging hinein. Sie schwitzte und fror zugleich. Schritt für Schritt schob sie sich an der Wand lang, ging um zwei Sessel und ihre teuren Heimtrainingsgeräte herum. Als sie sich gegen die nächste Wand drückte, kam die Innenseite der Theke langsam in ihr Blickfeld. Doch niemand war zu sehen. Vermutlich gab es für alles eine ganz simple Erklärung und sie machte sich hier gerade zum Narren, aber sicher war sie sich dessen nicht.

Langsam ging sie auf die Theke zu, bückte sich und sah hinter und unter ihr nach. Dann richtete sie sich wieder auf. Ihr lief es eiskalt über den Rücken und mit Schwung drehte sie sich um. Niemand. Sie war offensichtlich allein. Und doch stimmte etwas nicht. Zügig durchsuchte sie die verbleibenden Ecken und Verstecke des Raumes, entdeckte aber niemanden und noch nicht einmal verdächtige Spuren. Wenn dennoch jemand außer ihr im Haus war, dann musste er im Waschkeller sein. Eingesperrt. Dann würde er hören, dass sie kam und wieder aufschloss. Dann musste sie sofort mit einer Attacke rechnen. Sollte sie nicht doch lieber die Polizei rufen?

Sie machte das Licht im Partykeller aus, verschloss auch hier die Tür von außen und betrachtete die Tür zum Waschkeller. Ihre Gedanken und Gefühle spielten verrückt. Bildete sie sich einfach nur etwas ein? Oder war sie tatsächlich in Gefahr? Wollte sie lieber auf Nummer Sicher gehen und die Polizei holen oder blieb sie auch jetzt die starke Frau, die sie sein und bleiben wollte?

Mit der rechten Faust umklammerte sie das Messer, machte die zwei Schritte auf den Waschkeller zu, drehte den Schlüssel vernehmlich um und stieß die Tür mit Wucht zur Seite. Melanie hörte, wie die Klinke an die Mauer stieß. Ein gutes Zeichen. Hinter der Tür schien niemand zu stehen.

Sie drückte den Lichtschalter und bekam einen gewischt. Ihre linke Hand zuckte vor Schmerzzurück. War sie plötzlich so geladen? Dann merkte sie, dass die Deckenlampe des Waschkellers nicht leuchtete. Im selben Moment verlosch hinter ihr das Licht im Kellerflur.

Mit einem Schrei stürzte Melanie tiefer in den Raum und drückte sich in eine Ecke zwischen Mauer und Wäschetrockner. Ihr Herz raste und ihr wurde beinahe schwindlig, weil sie sich verbot, laut und schnell zu atmen. Hektisch sah sie sich im dämmerigen Licht um. Keine Bewegung, keine Geräusche, nichts.Mit äußerster Anstrengung zwang sie sich zur Ruhe, um besser hören zu können. Aber da war verdammt noch mal nichts. Ihre Augen gewöhnten sich an das gedämpfte Licht und noch immer war nichts Bedrohliches zu sehen. Aber wer hatte das Licht angemacht? Und wieder aus?

Für einige Minuten blieb sie ruhig sitzen, umklammerte das Messer und fragte sich, was sie nun tun sollte. Die linke Hand tat immer noch weh. Der Schlag war ungewöhnlich heftig gewesen.

Da sah sie etwas, das von der Decke hing und ihrer Meinung nach nicht dorthin gehörte. Ein Schlauch? Spinnweben oder dicker Staub? Es war ein Kabel, das sich von der Decke gelöst haben musste und nun herab hing.

Stimmte etwas mit der Elektrik nicht und hatte sie sich deshalb einen Schlag geholt? War dieses An und Aus des Lichts womöglich nur ein Wackelkontakt?

Ihr kam ein furchtbarer Gedanke.

War Jürgen nicht überraschend früh hier aufgetaucht? Weil er nach einigen seiner Sachen suchen wollte, die noch irgendwo im Keller waren. Angeblich. Und hatte er nicht seinen Rucksack mit herunter genommen und sich über eine Stunde im Keller aufgehalten, während sie mit Eve den Koffer packte? Jürgen war Elektroingenieur. Sie hatte irgendwann nach ihm gerufen und er war ihr mit einem verkrampften Lächeln auf der Kellertreppe entgegen gekommen, hatte gesagt, dass die gesuchten Dinge nicht zu finden waren. Hatte ihm am Ende die Zeit gefehlt, um alles ordentlich auszuführen und säuberlich zu verbergen?

Melanie stand auf, plötzlich von Wut und Entsetzen gepackt. Sie stürzte aus dem Waschkeller, schloss den Vorratsraum auf und schnappte sich einen Besen. Dann schaltete sie mit dem Stiel das Licht im Flur an. Es funktionierte. Sie ging zurück in den Waschkeller und drückte den Besenstiel auch hier gegen den Lichtschalter. Im Raum wurde es hell, doch aus dem Schalter schlug ein Funken.

Sie sah nach oben und entdeckte ein Kabel, das quer über die Decke lief und ganz sicher nicht hierher gehörte. Das eine Ende des Kabels steckte in einem kleinen Kasten oberhalb des Lichtschalters. Das Kunststoffgehäuse des Kästchens war offensichtlich beschädigt. Nun folgte ihr Blick dem Lauf des Kabels in die andere Richtung. Weiße Klebestreifen, ein Provisorium. Es endete hinten in der Waschmaschine, und Melanie entdeckte weitere Kabel, die sie hier vorher nie bemerkt hatte. Stand die Maschine unter Strom?

Melanie hastete nach oben in die Küche, tränkte ein Geschirrtuch in Wasser und kehrte zurück in den Waschkeller. Sie legte das tropfende Geschirrtuch auf den Besenstiel und hielt beide in die Wäschetrommel. Es summte und knisterte und der Besenstiel schien zu vibrieren. Sie ließ ihn fallen.

Außer ihr war niemand im Keller. Sie war allein. Sie sollte Opfer sein. Opfer ihres Ex-Mannes, der dieses Haus haben wollte. Vier Wochen lang sollte Eve bei ihm bleiben, damit Melanie genug Zeit zum Sterben hatte.

Sie fühlte sich wie in Watte gepackt und spürte irgendwo tief in sich eine Flut von Tränen. Das konnte nicht wahr sein. Vielleicht täuschte sie sich, so wie sie sich mit dem Verdacht getäuscht hatte, dass jemand im Keller war. Doch diesmal würde sie die Polizei rufen und sich bestätigen lassen, was sie herausgefunden hatte. Sie würde das Haus durchsuchen lassen, um sicher zu gehen, dass nicht noch weitere Fallen auf sie warteten. Und dann würde sie Eve holen.

Sie stieg die Treppe nach oben und sah ihr Tablett mit Brot und Wein auf der Kommode stehen. Es wäre ja auch zu schön gewesen.

Andererseits …

Sie fixierte das Telefon, das neben dem Tablett lag. Nein, sie würde nicht die Polizei rufen. Jürgen wollte es auf die harte Tour? Dann sollte er sie bekommen. Es würde nicht leicht sein, sich selbst und vor allem Eve aus der Schusslinie zu halten, aber sie hatte nun viel Zeit, sich etwas einfallen zu lassen. Dieser miese Kerl. Jetzt würde sie mit ihm spielen. Ein tödliches Spiel. Und sie würde gewinnen.

Melanie warf den Kopf in den Nacken, stopfte sich eine Cherry-Tomate in den Mund und biss zu. Der Saft spritzte über ihre Lippen und tropfte auf ihre Bluse. Sie wischte sich die Flüssigkeit vom Kinn, eilte mit nassen Fingern zur Gästetoilette und drückte den Lichtschalter.

Läufer

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Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Wenn er nicht sofort anhielt, endete es mit einem Asthma-Anfall. Nur noch diesen Hügel, nur noch diesen verdammten Hügel. Schritt um Schritt kämpfte er sich aufwärts. Er blickte weder links noch rechts. Die Schönheit des Waldes war jetzt gleichgültig. Nur sein Atem und der sandige Boden, unter dem Wurzeln und Steine lauerten, waren existenziell.


Endlich erreichte Jago die Anhöhe, verlangsamte seine Schritte und ging direkt auf den nächstliegenden Baum zu. Sein Blick schwirrte gehetzt hin und her, blieb nirgends hängen. Er streckte den Arm aus und stützte sich schwer an der schrundigen Borke ab. Der Atem raste, er bekam dennoch zu wenig Luft. Er sah zu Boden, er sah in die Baumkronen, schaute sich um. Nur langsam gewann die Umgebung wieder an Schärfe. Jago zwang sich, ruhiger zu atmen, ein, aus, ein, aus. Auf dem Ast direkt neben ihm auf Schulterhöhe war etwas. Er schloss die Augen, ein, aus, ein, aus. Sein Herz schlug gnadenlos weiter. Er öffnete die Augen wieder. Auf dem Ast war etwas.


Die Mutation hatte ihm schwerer zugesetzt als gedacht. Zwei Wochen hatte er mit Fieber im Bett gelegen und eine weitere Woche gewartet, bis er wieder laufen ging. Heute zum ersten Mal. Vielleicht war es noch zu früh gewesen. Leichtsinnig. Es war allgemein bekannt, wie lange die Krankheit nachwirken konnte und dass die allzu frühe Rückkehr zum gewohnten Work-Out tödlich enden konnte.


Erst als Jago spürte, dass sein Atem sich beruhigte und der Anfall ausblieb, warf er einen klaren Blick auf den Ast. Darauf lag etwas. Beinahe unsichtbar, so perfekt war es an die Umgebung angepasst. Im Vorbeilaufen hätte er es nicht gesehen. Ein Teil des Baumes war es nicht. Die Oberfläche war glatt, beinahe rund und so groß wie seine Hand. Ein Pilz, ein verirrter Pilz auf einem Ast. Er musste der Versuchung nicht widerstehen, für ihn wuchsen echte Pilze nur im CoolGrower des Supermarkts. Champignons, Pfifferlinge, Steinpilze. Frisch geschnitten direkt aus der Deckerde.


Kurz darauf war es soweit. Er konnte zum ersten Mal tief durchatmen und genoss den Augenblick, an dem sein Körper wieder unter Kontrolle war. Ohne den Baumstamm loszulassen, beugte er sich vornüber, sah den Schweißperlen zu, wie sie von der Stirn tropften und winzige Meteoriteneinschläge im Sand verursachten.


Als er den Kopf hob, sah er den Pilz von unten. Der hatte Füße statt eines Stiels. Jago kniff die Augen zusammen. Was war das denn? Neugierig schob er sich näher hinan und sah noch einmal genauer hin. Zwei zierliche Füße waren zu erkennen, die am unteren Ende etwas hatten, das sich offenbar in der Rinde festkrallte. Er neigte den Kopf seitwärts um das Ding herum und entdeckte auf der anderen Seite zwei weitere Füße. Oder sagte man Ausleger? Stelzen? Beine?


Jago richtete sich auf und sah herab. Ein Spielzeug? Er löste seine Hand vom Baum und schob sie langsam auf das Ding zu. Seine Fingerkuppen berührten die Oberfläche. Sie war glatt wie Plastik und warm wie Metall in der Sonne. Vorsichtig strich er über das Material, dessen Farben den Ast grandios imitierten. Das Ding bewegte sich keinen Millimeter, als wäre es tatsächlich Teil des Baumes.


Nur kurz dachte Jago daran, einfach weiterzulaufen, doch sein Herz schlug noch zu schnell und die Neugier siegte.


Das Kind in ihm gab den nächsten Impuls. Er legte die Hand flach auf die Oberfläche, umklammerte mit den noch feuchten Fingerspitzen den Rand und zog. Sofort ließ er wieder los. Es war, als hätte sich das Material seiner Kraft gebeugt, schmiegsam, doch faktisch saß das Ding bombenfest auf dem Holz.


Jago trat einen Schritt zurück und ertappte sich dabei, dass er ratlos wie ein kleiner Junge vor einem Wunder der Natur stand. Und dass er nicht wusste, wie es weiterging oder ob es überhaupt wichtig genug war.


Er klopfte mit den Fingernägeln, dann mit dem Knöchel auf das rätselhafte Objekt. Es gab Geräusche, doch sie blieben nichtssagend. Nicht hohl, nicht massiv, vielleicht Metall, vielleicht Plastik.


Dann sah er vom Hügel herab auf den Weg, den er zurückgelegt hatte, und auf die Strecke, die noch vor ihm lag. Zum Glück war er allein, wollte sich ungern die Blöße geben, dass eine Joggerin ihn auslachte, weil sie natürlich korrekt einordnen konnte, was das hier war.


Jago zückte sein Smartphone und machte einige Bilder. Selbst auf den Fotos war es nur schwer zu erkennen. Lediglich eine der Aufnahmen war wirklich brauchbar. Er hatte sie unmittelbar von vorne gemacht hatte und auf ihr waren die Füße zu sehen.


In einem Anflug von Ungeduld grapschte er erneut nach dem Ding und riss es vom Ast. Jago war überrascht, dass es sich löste, ließ los, fiel rückwärts zu Boden und stieß sich den Ellenbogen an einer Wurzel.


»Verflucht!«


Er setzte sich auf, rieb sich den Arm, und dann hing das Ding plötzlich direkt vor seinem Gesicht in der Luft. Jago zuckte zusammen und stieß sich weg. Es folgte ihm.


»Eine Drohne«, rief er. »Es ist nur eine Drohne.«


Die Lösung des Rätsels war ebenso einfach wie nachvollziehbar. Jungs auf der Schwelle zur Pubertät, die ihrem Drang nach Überlegenheit freien Lauf ließen, oder ein Perverser, der auf spannende Augenblicke zwischen Mann und Frau im Dickicht des Waldes hoffte. Und jetzt störte Jago die Pläne.


»Aber wo hast du deine Kamera?«, murmelte er und inspizierte die Drohne. Außer der glatten Oberfläche war nichts zu erkennen. Insgesamt sah das Ding aus wie Raumschiff Enterprise ohne diese Chickenwings, eine elegante und geheimnisvolle Blechdose. Aber da! Ein Fuß fehlte. Jago hatte zu fest an ihr gerissen. Was für ein Pech.


Ihm fiel auf, dass die Ummantelung der Drohne weiterhin mit Licht und Schatten, Bäumen und Blättern, Himmel und Sonne spielte. Fast als wäre sie transparent, durchscheinend. Und dann wurde ihm bewusst, dass es keine Rotoren gab. Das Ding schwebte über ihm ohne einen erkennbaren Antrieb, Flügel, Düsen oder Propeller. Es konnte keine Drohne sein.


Jago spürte einen Anflug von Unbehagen. »Was bist du?«, flüsterte er.


Langsam erhob er sich und vermied jede hastige Bewegung. Das Ding umkreiste ihn mehrmals, beinahe lautlos, taxierte offenbar seine Erscheinung. Jago war klar, dass seine unbedachte, übergriffige Aktion durchaus als Akt der Aggression wahrgenommen werden konnte. Musste er nun selbst mit einer Attacke rechnen?


Er sah sich nach einem Stock um, konnte jedoch keinen finden. Unter seinem Schuh aber lag ein Stein, halb verborgen im Sand. Jago ging in die Knie und nestelte ihn aus dem Boden. Er lag gut in der Hand, schwer und glatt.


Breitbeinig und mit abgewinkelten Armen begann nunmehr Jago, das Ding zu umkreisen. Es wich ihm aus, machte blitzschnelle Manöver und hielt sich außerhalb seiner Reichweite. Feindseligkeit zeigte es nicht.


Und dann hörte er sie. Die Joggerin, der er hier fast immer begegnete. Leichten Schrittes lief sie den Hügel hoch und stutzte, als sie ihn dort stehen sah in klassischer Wildwestmanier wie ein Kopfgeldjäger im Duell.


»Was machen Sie denn da?« Sie lächelte.


»Dieses Ding da ...« Jago fuchtelte mit dem Stein.


Sie kam näher, tänzelte auf der Stelle und schien interessiert. »Ein Baby-Ufo. Das ist ja niedlich. Passen Sie nur auf, dass Sie nicht geschrumpft und ins All entführt werden.« Sie lachte und lief weiter.


Jago sah ihr nach. Verwirrt. Ein Ufo? So klein? Niemals. Und doch suchten seine Augen die Umgebung ab. Was wäre, wenn das Ding nur ein Shuttle des sehr viel größeren Mutterschiffs war? Womöglich saß ein einzelnes Alien in diesem winzigen Ding und kundschaftete die Gegend aus. Allerdings war der Gedanke an Mini-Außerirdische noch grotesker als es die Situation ohnehin schon war. Aber vielleicht war das Objekt unbemannt und tatsächlich eine Drohne. Wieder sah er sich um. Ergebnislos.


In der Ferne bog die Joggerin um eine Ecke und war außer Sicht. Jago spürte, wie die Anspannung von ihm wich. Der letzte Blick auf ihren süßen Po hatte ihn in die Realität zurückgeholt und es war sonnenklar, dass er gerade zum Narren gehalten wurde. Sein Blick suchte das Ding. Es hing neben ihm in der Luft, als hätte es ebenfalls der Frau nachgeschaut. Er ließ den Stein fallen. Nach einem bevorstehenden Kampf sah das hier nicht aus.


»Und nun?« Jago betrachtete den schimmernden Teller in der Luft. »Für ein echtes Ufo entsprichst du ein bisschen zu sehr den Erwartungen. Bis auf deine Größe. Du bist tatsächlich eine Fliegende Untertasse.«


In einiger Entfernung wurde es erneut laut. Er wandte sich um und sah eine größere Gruppe junger Männer, die in großen Sätzen den Hügel emporliefen. Der Wald wimmelte von Joggern. Wie immer um diese Tageszeit.


Noch einmal wollte sich Jago nicht blamieren, ging in die Hocke und tat so, als schnürte er sich die Laufschuhe zu. Im Augenwinkel sah er, dass das Ding hinter ihm im Sand landete. Es versteckte sich.


»Aus dem Weg!«, rief jemand, als die ersten Läufer ihn erreichten.


Unbeholfen machte Jago Platz und fluchte: »Ganz schön rücksichtslos!«


»Bleib friedlich, Bruder.«


Jago hörte knirschende Geräusche. Einer der Männer stolperte, fluchte, lief aber weiter. Im nächsten Augenblick war die Gruppe an ihm vorbei und strebte lässig der Niederung entgegen.


»Mist!« Jago fuhr herum und sah nach dem Ding. In der Luft war es nicht zu sehen. Seine Augen hefteten sich auf den Boden. Sie mussten nicht lange suchen. Da lag es. Von Sand bedeckt. Zermalmt zwischen Laufschuhen und dem Stein, den er fallen gelassen hatte.


Jago nahm es in die Hand, strich den Sand von der Oberfläche. Man konnte noch erkennen, dass es zuvor rund gewesen war, doch davon abgesehen hatte es jede Form verloren und der faszinierende Schimmer war einem belanglosen Grau gewichen. Es bewegte sich nicht mehr. Was auch immer es gewesen sein mochte, jetzt war es kaputt. Irgendwie war Jago enttäuscht. Für einen Augenblick hatte sich sein Geist einer erweiterten Realität geöffnet und war nun doch wieder da, wo er immer war. Ts, Baby-Ufo, lachhaft. Behutsam legte er das Ding an den Wegesrand und stand auf. Vielleicht holte es jemand ab.


Für einige Augenblicke blinzelte er in die Sonne und hing seinen Gedanken nach. Dann lockerte er Arme und Beine. Der Atem ging wieder normal. Er war soweit. Und lief los.

Die Flagge des Überlebenden

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Es war an der Zeit, den Bunker zu verlassen. Das Wasser stand bereits knöcheltief auf dem Betonboden, der sich bei jedem Schritt in eine glitschige Gefahr verwandelte. Gregor fluchte auf den Bauunternehmer, der viel Geld für eine Zuflucht erhalten hatte, aus deren Schleuse es nun seit zwei Tagen tropfte. Er fragte sich, was da oben geschehen war. Es musste sintflutartig geregnet haben, anders war das viele Wasser nicht zu erklären. Die Meeresküste war fast hundert Kilometer entfernt. Beunruhigend war allerdings auch die Tatsache, dass die Armee seit zwei Tagen nicht mehr erreichbar war. In den Wochen zuvor hatte sie wenigstens Durchhalteparolen ausgegeben: »Bleiben Sie in Sicherheit! Wir geben Bescheid, wenn wir wieder zuschlagen.« Seit das Wasser in den Bunker tropfte, schwieg die Armee. Etwas Unvorhergesehenes musste vorgefallen sein. 

Gregor band den Rucksack an ein Seil, denn mit dem wulstigen Gepäck auf dem Rücken würde er nicht durch die Schleuse kommen. Der Rucksack war mit allem vollgestopft, was er in den nächsten Tagen zum Überleben brauchte: Lebensmittel, Wasser, Kleidung, seine Waffen. Er würde ihn hochziehen, wenn er erst einmal draußen stand. 

Der Strahlenschutzanzug, in dem Gregor steckte, war lästig, aber zumindest einigermaßen leicht. Er warf einen letzten Blick auf die Hinterlassenschaften seinerFamilie, die es nun nicht mehr gab, und stieg die Leiter hinauf. Vielleicht würde auch er die nächsten Tage nicht überleben. Er wusste nicht, was ihn dort oben erwartete, er hatte keinen Plan, kein Ziel. 


Das stählerne Rad der Schleusentür ließ sichzuerst kaumbewegen, doch mit jedem Ruck gab es ein wenig leichter nach und der Wasserzufluss von draußen verstärkte sich. Ihm dämmerte, dass der Bunker womöglich in kürzester Zeit volllaufen würde, wenn er die Schleuse erst geöffnet hatte. Dann gab es kein Zurück mehr, und alles Weitere musste wahrscheinlich innerhalb von Sekunden entschieden werden. 


Schließlich fand das Rad keinen Widerstand mehr. Gregor atmete tief durch und drückte den Deckel nach oben. Es war schwerer als gedacht. Sofort strömte Wasser herein und Gregor wäre beinahe von der Leiter gerutscht. Er wandte alle Energie auf und drückte die Schleuse vollends auf. Mit voller Wucht traf ihn eine schiere Flut und er klammerte sich an die Streben. Mühsam kämpfte er sich die letzten Stufen nach oben, überwand die Kraft des Wassers, die ihn zurück in den Bunker zwängen wollte, und stieg aus. Noch auf den Knien stellte er fest, dass er unter Wasser war. Dort, wo er den Anblick seines Hauses und des üppigen Gartens erwartet hatte, umfing ihn ein trüber Strom. Reflexartig erhob er sich und sein Kopf durchstieß die Wasseroberfläche. Als die letzten Tropfen über die Glasscheibe seines Helms rannen, breitete sich Entsetzen wie eine Welle in ihm aus. 


Gregor stand bis zum Kinn im Wasser, das sachte an seinen Helm schwappte. Um ihn herum war nichts mehr, nichts mehr außer Wasser. Sein Haus, der Garten, die Siedlung der Vorstadt und die Stadtselbst mit ihren Hochhäusern, sie alle waren verschwunden. An ihre Stelle war ein See, nein, ein Meer getreten. 


In ihm wurde es still. Andächtig betrachtete er die nahezu spiegelglatte Oberfläche des Wassers, die sich bis zum Horizont erstreckte. Regensatte Wolken zogen langsam über ihn dahin. In der Ferne hatte sich die aufgehende Sonne einen Platz am Firmament erobert und schickte goldene Strahlen auf eine Welt, deren Oberfläche träumerisch glitzerte. Der Anblick war ein Traum, ein apokalyptischer Alptraum, herrlich und erschreckend zugleich. 


Der Wasserspiegel gluckerte vor seinem Gesicht. Ihn erfasste Einsamkeit, als wäre er allein auf der Welt, als schritte er durch ein nasses Grab. Oder warteten unter den Fluten weitere Menschen darauf, die Bunker verlassen zu können und endlich wieder das Tageslicht zu erblicken? 


Gregor zog den Rucksack zu sich hoch, löste das Seil, wickelte es auf und schulterte beide. Wohin sollte er gehen? Er drehte sich um und sein Blick fiel auf den Höhenzug, der sich einst jenseits der Stadt erhoben und weit ins Hinterland erstreckt hatte, nun aber wie eine rettende Insel bis zu hundert Meter aus dem Wasser ragte. Wie grotesk, dies war der einzige Ort, der blieb. Um ihn zu erreichen, musste er etwa zehn Kilometer durch die Flut waten. 


Jetzt fiel ihm auf, dass das Wasser in Bewegung war. Es floss nach Osten, der Sonne entgegen. Die Hügellandschaft aber lag im Westen, so dass er gegen die Strömung gehen musste. Nur mit viel Kraft und viel Glück würde er noch heute dem Wasser entkommen. Das Wasseraber war nur das eine Problem. Das andere war das, was sich unter dem Wasser befand. Die Stadt konnte sich kaum in nichts aufgelöst haben. Überall um ihn herum mussten Trümmer liegen, die seinen Weg nicht nur erschwerten, sondern auch gefährlich machten. Bei jedem Schritt musste er damit rechnen, sich zu verletzen. Unter den gegebenen Umständen wäre das vielleicht sein schnelles Ende. 


Etwas in Gregor setzte sich in Bewegung, beinahe automatisch machte er sich auf den Weg. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und wandte sich der Insel zu.Es lief sich überraschend gut über die Trümmer seines Hauses. Und es lief sich bedrohlich schlecht durch ein Gewässer, das ihm bis zur Nase reichte und nur durch ein Spezialglas ferngehalten wurde. 


Meter um Meter arbeitete er sich vorwärts. Es war ein Glück, dass er über einen gut trainierten Körper verfügte, andernfalls hätte er mit dem schweren Rucksack und dem Strahlenschutzanzug allzu bald schlapp gemacht. So aber kam er vergleichsweise gut voran. Obgleich es erst früher Morgen war, fragte er sich, wie es bei einsetzender Abenddämmerung weitergehen sollte. Er konnte nicht die Nacht hindurch laufen, ohne einen Orientierungspunkt, und außerdem musste auchein Kerl wie er irgendwann eine längere Pause einlegen. Gregor hatte fiel Zeit, dieses Problem zu erörtern und ihm fiel keine Lösung ein, alsostrengte er sich umso mehr an, zügig voran zu kommen. 


Je länger er das schier unendliche Wasser durchpflügte, desto drückender wurde das Wasser vor seinem Gesicht. Und die Einsamkeit. Die Sonne verschwand hinter Wolken, es setzte Nieselregen ein, der sich auf das Glas seines Helms setzte und seine Sicht zusätzlich erschwerte. Die ganze Situation war unwirklich. Eine furchtbare Katastrophe musste über das Land gezogen sein, ohne dass er es mitbekommen hatte. Offenbar war dabei alles vernichtet worden, Mensch, Tier und jegliche Zivilisation. 


War er womöglich der einzige Überlebende, zumindest in diesem Landstrich? Kein Vogel zeigte sich am Himmel, kein Insekt umschwirrte seinen Kopf. Er war das einzig sichtbare Zeichen von Leben. Die absolute Stille wurde nur vom Rauschen und Glucksen seines Anzugs im Wasser unterbrochen. Nicht einmal Wind zerrte an ihm. 


War dies das Ende? Das Ende seines Landes, seines Volkes, seines Krieges? Vielleicht hatte sich sogar die ganze Menschheit einen Schlusspunkt gesetzt. Der Gedanke beunruhigte ihn, denn es blieb eine zentrale Frage offen, und dem Anschein nach war niemand mehr da, den er um Antwort bitten konnte. 


Sein Fuß stieß gegen einen harten Gegenstand und er stolperte, ging unter und strampelte, kam jedoch wieder hoch. Das trübe Wasser ließ keinen Blick auf den Grund zu, aber es schien doch nicht alles pulverisiert zu sein. Irgendwas war da noch. Er nahm sich vor, wieder vorsichtiger zu laufen. 


Schon wenige Meter weiter knickte sein Fuß um, als er auf eine unebene Stelle trat. Es war deutlich zu spüren, dass sich durch die Berührung Gegenstände in Bewegung setzten. Er lief über Trümmer, die Überreste seiner Heimatstadt. Gregor keuchte, spürte einen Hauch von Angst. Zu viel Wasser. Immer noch bis zur Nase. 


Im nächsten Augenblick blubberte es um ihn herum und etwas schoss an die Wasseroberfläche. Es war ein Klumpen Mensch. Die stark verweste Leiche drehte sich um die eigene Achse und trieb dann mit dem Gesicht nach oben an ihm vorbei. Gregor sah das aufgequollene Fleisch und die blinden Augen, nicht aber, woran die Person gestorben war. Er schaute dem Toten nicht hinterher, sondern konzentrierte sich strikt auf seine Schritte. Das Leben machte den Unterschied zwischen ihm und der Leiche. Es gab keinen Grund, den Tod anzustarren, aber es gab einen Grund, am Leben zu bleiben. Er hatte einen Eid auf die Flagge der Allianz geschworen, hatte sich verpflichtet, sein Land vor ihren Feinden zu schützen. Gregor musste herausfinden, ob dieser Schwur noch seinen Einsatz erforderte oder ob bereits alles getan war. Es galt eine Frage zu klären, und von der Antwort hing alles andere ab. 


 

Als sich die Sonne zum zweiten Mal zeigte, stand sie hoch am Himmel. Gregor war seit Stunden ohne eine Pause unterwegs. Die Insel am Horizont war bereits ein gutes Stück näher gekommen, und doch war es fraglich, ob er sie bis zum Abend erreichen würde. 


Er blieb stehen und sah sich um. Das Wasser funkelte im Licht der Sonne, doch der Anblick war erdrückend. Wie ein riesiges Leichentuch hatte sich das Meer über eine zerstörte Stadt gebreitet und alles Leben unter sich begraben. Nicht einmal ein einziger zerfetzter Baumstumpf war auszumachen. Gregor spürte, wie der Drang in ihm aufstieg, sich ebenfalls bestatten zu lassen. Sich einfach fallen zu lassen und zu sterben. 


Schnell wandte er sich wieder der Insel zu, die als Fremdkörper aus dem Reich der Toten ragte. Dort gab es Bäume, dort gab es Wege, dort gab es vielleicht sogar noch Leben. 


Gregor bemerkte, dass es nun zentimeterweise aufwärts ging, und mit einem Mal reichte ihm das Wasser nur noch bis zur Schulter. Er schien auf einen besonders ebenen und festen Untergrund gestoßen zu sein. Das Gehen fiel deutlich leichter. Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich anhand des Höhenzuges und seiner Erinnerungen zu orientieren. Es mochte sein, dass er sich auf der ehemaligen Bundesstraße befand, die jenseits der Stadt auf ziemlich gerader Strecke direkt in die Hügelkette geführt hatte. Wenn es so war, dann kam es darauf an, den Weg nicht wieder zu verlieren, denn nun kam er merklich schneller vorwärts. 


Zugleich wurden die Abstände zwischen seinen lebensmüden Gedanken immer kürzer. Er versuchte sich damit zu trösten, dass er vor seinem Tod womöglich noch eine heilige Pflicht zu erfüllen hatte. Ob dem aber wirklich so war, musste er erst herausfinden – und dafür weiterleben. 


Weitere Stunden verstrichen und Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu. Ihr Licht blendete seine Augen und es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Mittlerweile konnte er seinen eigenen Schweiß riechen, lüften oder sogar ausziehen durfte er den Anzug nicht. Was auch immer geschehen war, er bildete den einzigen Schutz vor einer vielleicht tödlichen Umwelt. 

 

 

Es wurde Abend und die Insel lag als dunkler Schatten vor dem dämmerigen Hintergrund des Himmels. Gregor war eine lange Zeit der Straße gefolgt und hatte ihre Spur erst vor kurzem verloren. Seither schleppte er sich durch kniehohes Wasser und war zum Umfallen müde. Entgegen seiner Annahme würde es ihm doch gelingen, trockenen Boden zu erreichen, bevor es gänzlich dunkel war. 


Er hatte den ganzen Tag weder getrunken noch gegessen und war am Ende seiner Kräfte. Seine Blase war bis zum Rand gefüllt, doch er mochte dem Drang nicht nachgeben und in seinen Anzug nässen. Als er erkannte, dass sich der Boden weiter hob und er nur noch bis zu den Waden durch Wasser lief, mobilisierte er letzte Energiereserven und beschleunigte seine Schritte. 


Da durchfuhr ihn ein dumpfer Schmerz, der im rechten Fuß ansetzte und im Kopf pulsierte. Sein Bein zuckte zurück. Er war in etwas Spitzes getreten, vielleicht in einen Nagel. Mühsam atmete er den Schmerz weg und doch blieb eine Empfindlichkeit gegen jede weitere Berührung, gegen jeden weiteren Schritt, und Gregor wusste, dass mit einer solchen Wunde nicht zu spaßen war. Wasser, Dreck und verseuchte Atmosphäre konnten aus ihr schnell eine tödliche Verletzung machen. Vergeblich versuchte er, sich an seine letzte Tetanusimpfung zu erinnern.Dann spürte er, wie Wasser durch das Loch in der Sohle in seinen Anzug sickerte, und eilte weiter. 


Eine halbe Stunde später hatte er endlich trockenen Boden unter den Füßen und sank auf die Knie.»Geschafft«, murmelte er. 


Vor ihm lagen eine Wiese, die sich sachte aufwärts erstreckte, und dahinter die ersten Bäume. Gregor rappelte sich auf und ging das letzte Stück, bis er Schutz im Wald fand. Vor wem er sich hier geschützt fühlte, vermochte er nicht zu sagen. 


Sein Fuß begann wieder zu schmerzen, zwar nicht übermäßig, aber lästig. Im Augenblick konnte er allerdings nichts dagegen unternehmen. Zuerst musste er den Geigerzähler aus dem Rucksack fischen und einige grobe Strahlungsmessungen durchführen, bevor er es wagen konnte, den Anzug auszuziehen. Womöglich war die Gegend hoffnungslos verstrahlt, und er musste im Anzug bleiben. 


Angesichts des quälenden Harndrangs erledigte er die Messungen sofort. Der Geigerzähler befand sich in einem Seitenfach des Rucksacks. Er schaltete das Gerät an und schritt seine Umgebung ab, den Sensor stets dicht am Boden oder den Bäumen. 


Zu seiner Überraschung war kaum eine Strahlung feststellbar. Um sicher zu gehen, vergrößerte er den Radius, doch nirgends schlug der Zeiger nennenswert aus. Gregor überlegte, ob der stundenlange Kontakt mit Wasser oder zumindest mit Feuchtigkeit dem Gerät zugesetzt hatte. Die Elektronik des Gerätes schien immerhin einwandfrei zu funktionieren. 


Dies war nun ein Augenblick, der über Leben und Tod entschied. Setzte er sich der Strahlung aus, die der Geigerzähler womöglich nicht mehr korrekt maß, würde er in den kommenden Tagen einen qualvollen Tod sterben. Blieb er im Anzug, konnte er seinen Fuß nicht versorgen, musste bewusst einnässen und würde weiterhin seinen schweißigen Geruch ertragen müssen. Die Antwort kam von seiner Blase, die plötzlich unerträglich puckerte. Gregor öffnete hastig die Schnallen und wasserdichten Membranen, zerrte an Reißverschlüssen sowie Knöpfen und stand alsbald halbnackt vor einem Baum und verrichtete seine Notdurft. Die Erleichterung war unbeschreiblich. Nach einem anstrengenden Tag traf er es besser an, als zu erwarten gewesen war. 


Sein Magen knurrte. Aus den Tiefen seines Rucksacks kramte er ein eingeschweißtes Bohnengericht und eine Flasche Wasser. Beide schmeckten furchtbar, doch sie stillten seine vorrangigen Bedürfnisse. Morgen würde er die Höhenzüge erklimmen und ein Tier schießen. Ihn verlangte nach Fleisch. Abrupt hielt er inne und lauschte. Doch es war kein Geräusch zu vernehmen, das auf Leben schließen ließ. Vielleicht lag es aber auch an der Nacht, dass nicht einmal ein Vogel zu hören war. 


Nach seiner Mahlzeit versorgte er die Wunde im Fuß. Es sah danach aus, als hätte er Glück, sie schien sich nicht zu entzünden. Dennoch musste er insgesamt höchst vorsichtig sein, denn er war allein und konnte sich nicht auf die Hilfe von Sanitätern und Stabsärzten verlassen. 


Schließlich ließ er sich auf den Rücken fallen und genoss die frische Luft. Er würde nun einfach schlafen und morgen weitersehen. Seine Hand tastete nach dem Rucksack und zog ihn heran. Träge zog er eine Decke heraus und legte sie über sich. Den Kopf bettete er auf einige Pullover. Dann löste er sein Maschinengewehr vom Rucksack, nahm ein Magazin und ließ es einrasten. Ein wohliges Gefühl der Sicherheit übermannte ihn. Ganz gleich, ob er am nächsten Tag an Fleisch kam oder nicht, er würde einen Höhenzug der Insel erklimmen und dort die Flagge der Allianz hissen. Und dann würde sich vielleicht auch die Frage klären, die ihm förmlich unter den Nägeln brannte. Es dauerte, bis er einschlafen konnte. 

 

 

Am nächsten Morgen begann Gregor den Aufstieg ins Innere der Insel. Er kannte die Gegend aus unzähligen Ausflügen der Vergangenheit. Für ihn, seine Familie und tausende andere war dieser Höhenzug ein Naherholungsgebiet gewesen. Dass er ihn nun als Insel betrachtete und mit ganz anderen Augen sah, irritierte ihn. Alles schien fremd zu sein, obgleich er bald eine Straße fand, die er früher oft gefahren war. Er folgte ihr und kam immer höher. Schon bald erreichte er einen Parkplatz, der verlassen da lag. Gregor legte den Rucksack auf einer Bank ab und wandte sich um. 


Von hier aus hatte man bis vor kurzem einen wunderbaren Blick auf die Stadt, ihre alten Kirchen und die bescheidene Skyline gehabt. Stattdessen hingen nun dichte, graue Wolken über einer schier unendlichen Wassermasse. Gregor war beeindruckt. Der Mensch hatte das Angesicht der Welt verändert. Blieb die Frage, wie es anderswo aussah. 


Gerade wollte er sich den Rucksack wieder aufbürden, als er das Zwitschern eines Vogels hörte. Dankbar sog er das Geräusch auf. Es gab noch Leben außer ihm. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren, vielleicht hatte der Krieg am Ende einen Sinn gehabt und auch seine Kämpfe waren womöglich wichtig gewesen. 


Sein Magen begann zu knurren. Ihn verlangte nach Fleisch. Den Vogel würde er nicht jagen können, und die Ausbeute wäre auch lächerlich, aber er nahm sein Maschinengewehr zur Hand, entsicherte es, und hoffte auf einen guten Schuss. 


Nach einem längeren Marsch gelangte er an die ersten Kuppen des Höhenzuges und suchte nach einer lichten, möglichst weithin sichtbaren Stelle, um die Flagge zu hissen. Er wollte die Insel für sein Volk in Besitz nehmen und verteidigen, wenn es darauf ankam. 


Schräg links vor ihm schien ein geeigneter Ort zu sein. Offenbar hatte ein Sturm zwischen den Bäumen gewütet und eine Art Lichtung geschaffen. Gregor musste lediglich den Wald durchqueren. 


Die Waffe in beiden Händen machte er sich auf den Weg, schlug sich ins Unterholz und versuchte dabei, möglichst leise zu sein, um das Wild, das hier vielleicht noch lebte, nicht zu verscheuchen.Vorsichtig schob er sich Schritt für Schritt durch Bäume und Büsche, konnte jedoch keinerlei Anzeichen eines Tieres entdeckten. Im Wald war es noch düsterer und Gregor nahm zur Kenntnis, dass die Bäume nach wie vor Laub trugen. Was auch immer geschehen war, es hatte den Wald nicht vernichtet. 


Kurz darauf sah er den Himmel zwischen den Bäumen und wusste, dass er sich der Lichtung näherte. Mit ein wenig Glück aste dort ein Reh. Vorsichtig zwängte er einige tief hängende Äste zur Seite und schob sich ins Freie. Tatsächlich musste hier irgendeine Naturgewalt getobt haben, denn mehrere große Bäume lagen wirr am Boden. Zwischen ihnen gab es einige Stellen, die für die kommende Nacht ein gutes Versteck und Schutz vor Wind boten. 


Gregor suchte den Platz nach einem geeigneten Ort ab, an dem er die Flagge hissen konnte, und erstarrte. 

Auf der anderen Seite stand ein Mensch. 


Gregor ließ sich auf die Knie fallen und hatte sofort das Gewehr im Anschlag. Unter ihm knackte ein Ast und der Mensch fuhr herum. Mit weit aufgerissenen Augen erkannte dieser den Ernst der Lage und verschwand hinter einem der umgestürzten Bäume. Sekunden später sah Gregor den Lauf eines Gewehres, das sich über die Stämme schob. Ein Schuss fiel nicht. Tief in seiner Deckung versteckt, suchte Gregor den Waldessaum nach weiteren Personen ab. Doch außer einem Uniformmantel, der an einem Ast hing, war nichts dergleichen zu sehen. Dieser aber ließ keinen Zweifel. 


Der Mann dort drüben war sein Feind. 


Gregor überlegte, wie er ihm möglichst ungefährdet den tödlichen Schuss verpassen konnte. Er war ein gut ausgebildeter Infanterist, eine tödliche Maschine, wenn es darauf ankam. Den Mann dort hinten fürchtete er nicht. 


Doch da überkam ihn ein ungewohnter Gedanke: Was wäre, wenn sie beide die einzigen Menschen auf der Insel wären, die beiden einzigen Überlebenden? Wäre es dann klug, ihn zu erschießen? 


Im selben Augenblick winkte eine Hand von drüben. Das Gewehr bewegte sich. Der Mann stand auf, das Gewehr lässig in der linken Hand. 


Lächle!, dachte Gregor, dann weiß ich, dass du eine Chance hast. 


Der Mann lächelte. 


Gregor erhob sich. 


Beide erkannten sich als Gegner, beide sahen einander unsicher an. 


»You don’t shoot me?«, fragte der Soldat. 


Als Antwort streckte Gregor seine Waffe weit von sich und lehnte sie gegen einen der Baumstämme. 


»You obviously fight for the alliance«, stellte der andere fest. »Where are you from?« 


»I’m German I defend my country.« 


»Ah, du bist ein Deutscher.« Der Mann hatte einen fremden Akzent. »Ich habe früher einige Jahre in Deutschland gearbeitet, in Bremen.« 


»Bremen war eine schöne Stadt. Dein Deutsch ist übrigens gut.« 


»Es fällt mir leichter als Englisch.« 


»Ich heiße Gregor.« 


»Mein Name ist Jyrki.« 


»Was tust du hier?« 


»Überleben. Meine Einheit wurde aufgerieben. Viele sind in der Welle ertrunken. Ich bin der einzige Überlebende.« 


»Ich hatte Zuflucht in einem Bunker gefunden, aber das Wasser drang ein. Also habe ich mich hierher gerettet.« 


Jyrki stopfte sich eine kleine Frucht in den Mund. Beide schwiegen. 


»Was ist geschehen?« Vielleicht war dies die einzige Gelegenheit, eine Antwort auf seine Frage zu bekommen. Gregor nahm sich vor, diplomatisch vorzugehen, denn falls ... Er wollte Jyrki nicht unnötig aufbringen. 


»Ich weiß es auch nicht genau. Aber sie haben die Bomben geworfen. Viele. Nicht alle haben ihr Ziel erreicht. Nicht alle hatten die beabsichtigte Wirkung.« Mit einem süffisanten Grinsen wies Jyrki auf das endlose Wasser am Horizont. »Möchtest du ein paar Beeren?« 


Gregor zögerte. 


»Ich esse das Zeug schon seit Wochen. Sie sind okay. Man wird nicht krank davon.« 


Gregor wagte einen Schritt auf seinen Feind zu, stieg über einen Baum und nahm seine Waffe nicht mit. Jyrki kam ihm entgegen und streckte ihm eine Handvoll Heidelbeeren entgegen. Dann standen sich beide gegenüber. Jyrki war kleiner als Gregor und stämmiger. 


Gregor nahm ein paar der Beeren. »Danke.« Er steckte sie sich in den Mund und genoss den fruchtigen Geschmack. Der gewaltige Hunger auf Fleisch holte ihn wieder ein. »Hast du Tiere hier auf der Insel gesehen?« 


Jyrki lachte. »Du nennst das hier eine Insel? Seltsam, mir kam der gleiche Gedanke. Aber nein, Tiere habe ich nicht gesehen. Du willst doch nicht etwa Fleisch ...?« 


Gregor winkte ab. »Von den Beeren werde ich nicht satt.« 


»Du gewöhnst dich daran.« 


Gregor wollte ja eigentlich seine Frage loswerden. 


»Was wirst du tun?«, fragte Jyrki. 


»Ich suche meine Armee.« 


»Wo willst du suchen? Hier auf der Insel sind deine Leute nicht. Ich habe in den letzten Tagen alles durchforstet. Du bist der erste Mensch, der mir begegnet.« 


Gregors Mimik entgleiste. Das war genau die Nachricht, die er nicht hören wollte. Es sah offenbar schlecht aus für seine Armee. »Und was wirst du tun?« 


»Abwarten. Ich komme hier nicht weg und wüsste auch nicht, wohin ich mich wenden sollte. Also bleibe ich einfach hier und hoffe darauf, dass sich die Dinge wieder zum Guten wenden.« 


Diese Vorstellung machte Gregor nervös. Er wollte handeln. Kämpfen. 


»Schließen wir einen Waffenstillstand für die Übergangszeit?«, fragte Jyrki. 


»Einverstanden.« 


Jyrki machte eine einladende Geste und die beiden Männer nahmen Platz auf dem Boden, lehnten sich gegen einen Baumstamm und aßen Beeren. 


»Hast du Familie?«, fragte Gregor. 


»Ich weiß nicht, vielleicht habe ich noch eine. Und du?« 


»Ich hatte Frau und zwei Kinder.« 


»Was ist aus ihnen geworden?« Jyrki blickte, als wüsste er die Antwort bereits. 


»Mein Bruder hat sie gegessen.« 


Jyrki sah ihn mit großen Augen an. »Und was ist mit deinem Bruder ...?« 


»Ich habe ihn gegessen.« 


Jyrki rückte entsetzt von ihm ab. »Bist du wahnsinnig?« 


Gregor bedauerte plötzlich, dass er seine Waffe dort hinten hatte liegen lassen. 


Jyrki war fassungslos. »Du kannst doch kein Fleisch essen. Wie kannst du nur Fleisch essen! Die Strahlung! Das ganze Gift setzt sich im Gewebe fest. Womöglich wirst du sterben.« 


Gregor machte eine gelassene Handbewegung. »Es ist schon Wochen her. Es hat mir nicht geschadet.« 


Jyrki schien nicht davon überzeugt, dass Gregor überleben würde. Dann zuckte er mit den Schultern. »Na gut, es ist auch dein Problem, nicht meines.« 


»Was ich ... Was ich eigentlich fragen wollte«, setzte Gregor unsicher an. 


Jyrki sah ihn erwartungsvoll an. 


»Versteh mich bitte nicht falsch, ich will dich nicht verletzen.« 


»Nun sag schon.« 


»Haben wir den Krieg gewonnen?« 


Diesmal lachte Jyrki lauthals los. »Du weißt nicht, wer gewonnen hat, aber du gehst insgeheim davon aus, dass wir verloren haben?« Er wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Mal im Ernst, Gregor: Was interessiert dich das noch? Sieh dich um. Es ist vorbei.« 


Ärgerlich schüttelte Gregor den Kopf. »Es muss nicht überall so sein.« 


»Vielleicht. Aber meinst du wirklich, dass es irgendwo noch eine Rolle spielt, wer gewonnen hat? Wir können froh sein, dass wir leben. Wir können froh sein, dass wir anständige, gesunde Männer geblieben sind, keine Schweine, keine Krüppel. Ab sofort gelten wieder andere Maßstäbe.« 


Gregor schüttelte den Kopf. »Du irrst. Ja, wir sind Mensch geblieben. Und umso wichtiger ist es zu wissen, wer gewinnt.« 


Jyrki sah ihm forschend ins Gesicht. »Ich verstehe. Du willst wissen, ob ich vor dir auf die Knie gehen muss, oder du vor mir.« 


 

Es wurde Abend, und Gregor hatte ein Feuer entfacht. Die besten Stücke röstete er zuerst und genoss jeden Bissen. Sorgsam achtete er darauf, dass ihm nichts verbrannte, denn bis auf weitereswürde er davon leben müssen. Er hörte sich selbst genüsslich schnaufen und schmatzen. 


Heute Nacht würde er gut schlafen. Er nagte den Knochen säuberlich ab und warf ihn weg. Neben ihm flatterte die Flagge der Allianz im Wind. Satt und zufrieden. 

Da knackte es hinter ihm und eine Stimme sagte: »Täällä se nuotio on!« 


Gregor warf sich zur Seite und riss die Waffe an sich. 


Aus dem Wald traten Soldaten. Die anderen. 


Gregor ging auf die Knie, doch noch bevor er den ersten Schuss abgeben konnte, traf ihn die Kugel. Sie riss ein Loch in seine Brust und Gregor sackte zu Boden. 


Der Schmerz war ungeheuerlich. Gregor begann zu schreien. Sein ganzer Körper, sein ganzes Sein war plötzlich Schmerz, gellender Schmerz. 


»Tuo on hullu. Se syö sitä lihaa.« 


Gregor wälzte sich im Moos und brüllte. Er wollte nur eins: dass der Schmerz aufhörte. Sofort. 


»Yhden meistä.« 


Dann begann sein Leib zu zittern. Ein heftiges Schütteln entzog ihm die Kontrolle über seinen Körper. Der Schmerz ließ nicht nach. Gregor schrie. 


»Ei tähän voi jäädä. Mennään eteenpäin, ennen kun tulee pimeä.« 


Wie durch einen Schleier sah Gregor, dass sich einer der Soldaten neben ihn kniete und ihm sanft mit der Hand über die Stirn strich: »Lepää rauhassa. Lähdetään. Et tartte meitä enää.« 


Gregor kreischte ihn an und streckte eine blutige Hand nach ihm aus. 


Dann waren die Soldaten weg und Gregor wünschte sich den Tod. 


Er brüllte. 


Er brüllte. 


Er brüllte, bis das Blut seine Stimme erstickte. 


Plötzlich war es vorbei. Er fühlte sich wie im Rausch. Warum nur hatte er den Soldaten nicht gefragt, wer den Krieg gewonnen hatte. Er musste es wissen. Er musste einfach wissen, ob er als Verlierer oder als Sieger starb. 


Da fiel sein Blick auf die Flagge. Der Feind hatte sie offenbar keines Blickes gewürdigt. Friede durchflutete ihn. Er hatte gewonnen. Hier hatte er einen Triumph für die Allianz errungen. Die Insel blieb unter ihrer Flagge. Sieg! 

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Guten Morgen

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An jenem Morgen blieb ich länger im Bett. Obgleich mir bewusst war, dass ich bereits um acht Uhr einen wichtigen Termin hatte, war ich erstaunlich gleichgültig, als wenn Zeit plötzlich keine Rolle mehr spielte. Ein ungutes Gefühl ganz im Untergrund meiner Seele konnte ich dennoch nicht leugnen. Dass es absolut nichts mit meinem glorreichen Job zu tun hatte, verstärkte es. Ich lag im Bett, regungslos, verwirrt, und beobachtete das Funkeln der Morgensonne in den Jalousien. 


Bis mir bewusst wurde, dass ich über Nacht verstorben war. Plötzlich und unerwartet. Unbemerkt. Schlagartig schrillten in mir alle Alarmglocken. Der unmittelbar folgende Drang, mich zu bewegen, bestätigte die überraschende Erkenntnis. Arme, Beine, Kopf und Rumpf. Da tat sich nichts mehr. Ich war tot. 


Für einen Augenblick war ich perplex. Dann stieg Ärger in mir auf. Ich hatte meinen eigenen Tod verschlafen. Eingemummelt in die Laken, vermutlich schnarchend, hatte ich das Leben lauthals ausgehaucht und nichts mitbekommen. Bescheuert. Dabei hatte ich stets die Ansicht vertreten, dass man bei besonderen und insbesondere bei einmaligen Anlässen möglichst voll präsent sein sollte, um den Augenblick zu zelebrieren. 

Dann aber erinnerte ich mich, wie viel Alkohol und Nikotin ich am gestrigen Abend konsumiert hatte, und die Wut verebbte. Ich sollte dem Tod dankbar sein für seinen unspektakulären Auftritt. Das Ganze hätte auch viel unerfreulicher verlaufen können. Es war, als konnte ich noch spüren, wie die L-Organe in einen ungewohnten Entspannungszustand verfielen und jede Sekunde des unerwarteten Friedens vor der einsetzenden Zersetzung genossen. 


Ich jedoch wurde über diese Gedanken zunehmend nervöser. Mich verlangte nach einer Kanne Kaffee und einigen Zigaretten. Ging nicht. Über Nacht hatte ich nicht nur das Leben, sondern auch das Rauchen aufgegeben. Ganz schlechter Einstand, lieber Tod, so würden wir keine Freunde werden. 


Ziemlich genervt blieb ich regungslos liegen und tat gar nichts. Außer den schwirrenden Gedanken in meinem Kopf zu folgen. Wieso dachte mein Hirn noch? Hätte ich nicht längst außer mir sein müssen? Über mir selbst schweben? 


Vorsichtig versuchte ich, jenen Teil der Seele, der im rechten kleinen Zeh verortet war, aus Fleisch und Knorpel zu lösen. Uah, was für gruseliges Gefühl. Ich konnte tatsächlich meinen Körper verlassen. Aber wollte ich das? Und überhaupt: Wohin sollte ich mich wenden? Weder Dämon noch Engel saß über dem Bett, um mich abzuholen. Hatte ich womöglich eine Wahl? Oder würde ich desorientiert durch mein kleines Universum geistern und fiesen Mitmenschen eine Gänsehaut über den Rücken jagen? Womöglich gab es dann kein Zurück mehr ... 

Natürlich gab es kein Zurück mehr, Doofie. 


Ich verschob die Entscheidung und Lösung von meinem Körper auf einen späteren Zeitpunkt, wenn sich hoffentlich neue Erkenntnisse einstellten oder der Engel sich für seine Verspätung entschuldigte, weil er beim Leichentransfer in die Rushhour geraten war. 


Es folgte, was unweigerlich folgen musste. Fragen. Wie lange würde es dauern, bis man mich vermisste? Würde der Zeitpunkt überhaupt jemals kommen? Meine Todesnacht war ausgerechnet auf einen Tag gefallen, an dem meine Freundin und ich getrennt schliefen. Wie würde sie reagieren? Würde ich es jemals erfahren? Wollte ich es wirklich wissen? Würde irgendwer länger als einen Tag trauern? Wer würde zuerst an meinem Bett stehen? Der Arzt, die Polizei, die Putzfrau oder der Hausmeister? Je nach dem, wie lange sich niemand ernsthaft um mich sorgte, würde man mich in bereits unrühmlichem Zustand finden, die Nase rümpfen und eventuell auf mein Bett kotzen. Ich fand den Tod mit einem Mal erniedrigend und wandte mich schmollend anderen Gedanken zu. 


Doch es gab nichts Erheiterndes und nichts Ermutigendes darunter. Ich war weg und nun begann - mit geringfügiger Verzögerung - überall der Prozess, mit mir fertig zu werden. Der Prozess, mich zu vergessen und es sich ohne mich schön zu machen. Ich war enttäuscht, und schon fuhr der zweite Zeh aus der Haut. 


Mein Tod war eine absolute Fehlplanung. Eine schlechte Laune der Ewigkeit. Ein geruchsloser Furz der Menschheitsblähungen. Ich atmete tief durch, also im übertragenen Sinne, und versuchte meditativ in einen schlafähnlichen Dämmerzustand zu verfallen. Die Ewigkeit begann und vermutlich hatte ich fortan wieder mehr Zeit. 


Da wurde ein Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür gesteckt und herumgedreht. Jemand kam ... 

Night-Flight To The Stars

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In Erinnerung an Rory Gallagher (1948-1995)

 

Der Wind zog eisig durch die nächtlichen Gassen und wirbelte die Schneeflocken bis in die letzten Straßenwinkel. Ich hatte mein dick gepolstertes Leather-Case bis oben hin zugezogen und hoffte, dass es wenigstens die Feuchtigkeit abhielt. Durchfroren war ich bereits und musste befürchten, dass sich mein Hals verzog. Es war das erste Mal seit Jahren, dass der Schnee liegen blieb und Dublin unter einem zarten, weißen Tuch begrub. Bei dieser Witterung unterwegs zu sein, war ein riskantes Spiel mit meinem historischen Restwert. Ging etwas schief, waren Ahorn und Palisander allenfalls noch Brennholz. Niemand nahm mich zur Kenntnis. Die wenigen Gestalten, die unterwegs waren, wollten auch nur ins Warme, und stapften mit gesenkten Köpfen an mir vorüber. Nach den vielen einsamen Jahren hätte ich auch blind zu der alten Bar gefunden, die jeden Samstagabend mein Ziel war. Well, it’s Saturday night and I wanna be played. Unwillkürlich entfuhr mir ein Akkord, der zum Glück durch die Polsterung vollständig verschluckt wurde. Well … Niemand hatte es so cool und selbstironisch gesungen wie der King. Rip me up.


Ich bog in eine der Kneipengassen abseits der Touristenmeilen und suchte vergeblich das ausgeblichene Blechschild des ›Old Bartender‹. Es war so verdammt düster hier. Kaum eine Laterne. Und der viele Schnee. Fast wäre ich dran vorbei gelaufen, doch die schiere Gewohnheit stoppte meine Schritte genau vor dem Eingang. Ich klopfte mir den Schnee vom Leder und drückte die schwere Holztür auf. Die Scharniere quietschten. Feuchte, warme Luft schlug mir entgegen. Ich ging hinein, blieb aber erst einmal unweit der Tür stehen und sog den schweren Dunst von Alkohol und Zigaretten ein. Ein Gewirr aus Stimmen und Musik umfing mich. Dazu der Geruch von altem Holz. Das ›Old Bartender‹ hatte mich wieder.


Während ich aus dem Leder stieg, schweifte mein Blick durch den Raum und taxierte die Bar. Es gab noch leere Plätze.


Ganz rechts war ein Hocker frei, aber aus jener Ecke ertönten schon wieder die Klänge von Old Shep-pie – einem schmachtenden Kinderlied, stümperhaft geklimpert von dieser Möchtegerngitarre. Sicher, für die Musikgeschichte war sie von Bedeutung, hatte es aber zu keiner einzigen Aufnahme gebracht. Der King bekam sie an jenem Tag zum Geburtstag, als David Bowie das Licht der Welt erblickte. Und das war einfach zu früh. Als Elvis endlich begann, sich seine Erektion aus der Hüfte zu schütteln, lag sie längst im Kamin. Klar, ich liebte diese Legenden. War ja selbst eine. Trotzdem konnte ich das selbstmitleidige Getue dieser No-Name-Klampfe aus nassem Mississippi-Treibholz keine fünf Minuten ertragen.


An der gegenüberliegenden Seite der Theke war es nicht besser, wenngleich sich auch dort noch ein Platz gefunden hätte. Die Pianos hatten sich da breit gemacht, und es dauerte nur Sekunden, bis ich aus der Geräuschkulisse der Bar das unsägliche Arrangement von Imagine all the people heraushören konnte. Der typische Sound versuchte erneut darüber hinwegzutäuschen, wie einfallslos die Tastenfolge war.


Ich hängte mein Case an den Nagel und suchte mir einen Platz in der Mitte der Theke. Die stickig warme Luft kroch mir über die Saiten und ich spürte, wie verstimmt ich war. Right now the blues want to surround me. Der Old Bartender zwinkerte freundlich und schob mir einen Doppelten hin. Wortlos schwenkte ich das Glas, setzte es an, witterte das heilbringende Karma und nippte bedächtig. Ganz langsam brannte sich das Feuer durch meine Kehle bis ins Svādhisthāna. Den Rest stürzte ich hinunter.


Endlich wurde mir warm und ich entspannte mich, betrachtete die Typen, die links und rechts von mir standen und von den guten alten Zeiten quatschten. Kaum jemand, den ich kannte oder jetzt kennen wollte.


Der Barkeeper tauschte das leere Glas gegen ein volles. »Howdy Cradle, wie geht’s dir?«


Ich zuckte die Schultern und fragte: »Wie sieht’s denn für dich aus?«


»Als bekäme deine Leber heute noch schwer zu tun.«


Ich nickte. »Also?«


Kommentarlos stellte er die volle Flasche vor mich hin. »Sieh zu, dass du rechtzeitig wieder landest. It’s a long lonely highway und der Absturz gefährlich.«


Ich hob beschwichtigend die Hand. Alle waren längst abgestürzt, aber wir hatten überlebt und würden auch den nächsten Crash überstehen. Mit ruhiger Hand goss ich mir einen Dreifachen ein. Der Old Bartender spendierte das Eis. Ich spürte, dass ich schon bald bereit sein würde für den nächsten Flug.


Es war tragisch, dass sich die meisten einen Weltraumbahnhof nur im All vorstellen konnten. Denn er war nicht da draußen. Science Fiction begann in dir. Für den Night-Flight to the Stars, für den Flug zum ewigen Acker der Verblichenen musste das Spaceship in dich hinein, musste es durch den engen Hals kriechen und sich in dir breit machen. Bis der Flug von selbst begann.


Goldgelb sickerte der Shuttle gemächlich in jede Pore und löste mich von der Erdschwere. Weiß der Geier, warum ausgerechnet Dublin. Aber wir kamen alle her, um der Vergangenheit zu huldigen. Auch wenn viele unserer Wurzeln in den sumpfigsten Südstaaten lagen, nur in Dublin konnte die hölzerne Seele ihren Halt verlieren und sich auf eine melancholische Reise begeben.


Als sich hinter mir die Tür öffnete und der kalte Luftzug über meinen Corpus schwappte, ahnte ich sogleich, wer da kam. Mit leicht getrübtem Blick sah ich über die Schulter und erwartete das Schicksal. Ohne Case und schutzlos dem Unbill des Winters ausgeliefert, waren sie hergekommen. Sie traten ein und lächelten mir traurig zu. Little Wing war frisch flambiert, und der Schnee dampfte auf seinem erhitzten Lack. Dezent kokelnd lehnte er sich an den langen Statesboro, der gut betankt und abflugbereit war.


»Hallo Jungs«, sagte ich und winkte sie zu mir.


Sie antworteten nicht, schleppten sich aber rüber zu mir. Träge drängten sie ihre ausladenden Hüften zwischen meine Nachbarn und mich. Little Wing suchte Halt an der Theke. Als er ihn gefunden hatte, klopfte er mir auf die Schulter und ließ ein kehliges Vibrato hören. Statesboro atmete tief ein und gab einen jaulenden Ton von sich. Ich sah, wie der Bartender die Augen zusammenkniff, doch ein hohes ›e‹ meinerseits war unvermeidlich.


»Leute«, brummte der Wirt, »macht bitte langsam. Ich kann hier keinen Rock ‘n‘ Roll Suicide gebrauchen. Nicht schon wieder, nicht heute.«

»Mann ey«, nuschelte Little Wing, »nur keinen Stress.«

Statesboro kam jetzt in hörbar gute Stimmung. Er kicherte leise und jaulte noch höher. »Wir wollen doch nur spielen.«

Little Wing goss ein paar Akkorde aus, die sich über unsere Kehlen legten wie Sirup auf ein Südstaatenfrühstück. Ich setzte mit einem zähen Rhythmus ein, der kaugummigleich unter den Sohlen klebte. Statesboro zerrte an seiner E-Saite und trieb mir die Tränen zwischen die Tonabnehmer. I woke up this evening and had them Statesboro Blues. In irgendeiner gottverlassenen Ecke setzte sich ein völlig zerstörtes Schlagzeug mühsam zusammen. Neben ihm stand stocksteif Boris the Spider und schnarrte einen Basslauf.

Im selben Moment spürte ich die Ekstase, die wie eine Welle durch den Raum zog. Die Luft knisterte. Sekunden später hob der Mystery Spacetrain ab, und wir waren auf dem Weg. Zeit und Raum ließen wir hinter uns und stießen vor in das Paralleluniversum unserer Sehnsüchte. 

Da warst du wieder. Jahrelang hattest du mich am Hals und beklagtest dich nie. Ich war die Last auf deiner Schulter und du hast mich gewiegt. Als wäre ich glühendes Eisen auf einem Amboss, hast du einen wahren Funkenflug auf mir veranstaltet. Und ich wusste, auch heute Abend würdest du gut zu mir sein. Wie sehr hatte ich dich vermisst. Ich spürte deinen festen Griff um meinen Hals, als du mich mit dir zerrtest. Endlich wieder auf der Bühne, glitten deine Finger zärtlich über mich und Tausende sahen begeistert, wie du mich liebtest. Dann schlugst du zu und nahmst mich hart. Deine Hand war so schnell und geschickt, dass ich raste vor Begehren. Und dann, kurz vor dem Höhepunkt, nahmst du das Tempo raus und drehtest mir die Wirbel um. Ich verlor jeden Halt und war ein Teil von dir, verschmolz mit deiner Seele. Langsam, unerträglich langsam wurdest du wieder schneller – und triebst mich zur Klimax.

Irgendetwas stieß hart gegen meinen Kopf und ich fiel zu Boden. Um mich herum johlten und sprangen sie auf ihrem Flug in die Vergangenheit. Doch ich war schon zurück und blinzelte. Mir war nicht übel, der Kopf tat nicht weh. Ich war nur müde. Unendlich müde und traurig.

Mühsam kam ich wieder auf die Beine. Dem Old Bartender legte ich ein paar Scheine auf den Tresen, dann stieg ich in mein Leder und trat hinaus in die Nacht.

Die Kälte ernüchterte mich nicht. Sie verstärkte nur meine Einsamkeit. Ich schlich durch die Straßen, ließ die Saiten hängen und hielt mich im Schatten. 

Mein Weg führte mich direkt zum Hafen. Reglos stand ich da, spürte die Kälte nicht mehr, vergaß die Welt um mich herum. Letzten Endes war auch ich nichts anderes mehr als ein Stück nasses Treibholz, hin und her gestoßen vom Wind auf den Wellen des Schicksals. Lange starrte ich in die dunkle Bucht. Das Schneetreiben verhinderte jeden Blick auf die Sterne. Und ich wusste, dass ich Millionen Meilen von dir entfernt war.

trotz alledem

der pflegenotstand

ist kein problem

es liegt sich prima

trotz all ödem


idusse

kaktus. kakteen.

krokus. krokussse.

kaktusse. krokeen.

idusse. 



rat·los

er setzt eine grenze im garten

und der mensch überschreitet sie

er schickt eine flut über die welt

und das übel ertrinkt nicht

er schafft gesetze zu aller wohl

und sie werden missachtet

er schenkt ihnen das gelobte Land

und sie murren

er ruft auf zur umkehr

und die boten verhallen

er sendet seinen sohn

und man schlägt ihn ans kreuz

er sucht nach einer lösung

eis·kr·ist·alle

keine geschlossene fläche

geschweige denn 

tragende decke

kein eis

 

nur hier und da noch

einzelne kristalle

treibende anker

für sorge

 

der klimawandel des lebens

schleichend und gründlich

wasser atmen

kein halt


frag·lich·t·e·mo·mente

k·am·leben·s·k·lang

et·was·ist·was·bleibt·nicht

kind·s·kopf·gesc·heit·er·keit

er·wach·sen·oder·traum

glück·lich·im·ver·unglück·en

lieb·te·es·dich·toll·wut

kom·muni·ka·tion 

ex·ko·itu·meta·s·tase

pech·ha·haar·und·schwefel·strähne

alt·ers·grau·e·f·v·err·l·ecken

sterben·aus·v·arsen

unter·welt·brot·auf·m·strich·en

frag·lich·t·e·mo·mente

l·eben!

aufbruch

konturen im nebel

kurskorrektur

segel setzen 


fern·weh

knie fall auf knall

es brand wunde

ruck zuckt bein

zerr das fetzt

bruder bluts du

schwester heer zersetzt

kind ende zweit

vater vereins dammt

mutter weinet sehr

stille toten

friede in ruh

da nach richten

 

*switch*

 

hier auf richten

bleibe weh fern

lebe mein kind


ab·hängen

jesus hängt

seinen job

an den nagel

Liebe

Wuchtbrummi

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Juli 2018, es war heiß. Bei Emden hatte Mika wie immer am Autohof angehalten, um sich mit Kaffee, Wasser, belegten Brötchen und Zigaretten zu versorgen. Der Lastzug musste heute noch bis Koblenz runter. Reiseverkehr war in diese Richtung nicht zu erwarten, nur um Düsseldorf und Köln herum würde er in die Rushhour geraten. Aber egal, Zuhause wartete niemand auf ihn und dem Kunden war es ohnehin lieber, wenn er die Ware nach Feierabend lieferte. 


Die Straße war wie das Leben, dachte Mika, als er die Tür zum Fahrerhaus öffnete. Überall konnte man links und rechts rausfahren, aber meistens folgte man der vorgegebenen Route. Man war ständig von anderen Autos und Lastwagen umgeben, doch letztendlich saß man allein im Führerhaus, die Zeit und den Chef im Nacken. 


Mika stieg ein, setzte sich und steckte den Kaffeebecher in die Halterung. Alles andere legte er auf den Mittelsitz. Er startete die Maschine und die Klimaautomatik sprang an. Dann schloss er die Tür. Für einen Augenblick war es fast unerträglich heiß auf dem Sitz. Er ließ die Fenster ein Stück herunter. Der Fahrtwind würde die schlimmste Hitze vertreiben, bevor die Klimaautomatik ihre Aufgabe erfüllte.Als er sich anschnallte, schlug etwas gegen die Fahrertür. 


»Hallo! Entschuldigung!« 


Mika blickte aus dem Fenster und sah eine Frau in seinem Alter, etwa Mitte zwanzig.»Was gibt’s?«, fragte er und taxierte sie mit einigen schnellen Blicken, die sie hoffentlich nicht bemerkte. Hübsch war sie. Es sah nett aus, wie sie ihre dunklen Haare in einen Pferdeschwanz gebunden hatte. 


»Fahren Sie zufällig in Richtung Köln?« 


Sie hatte eine angenehme Stimme und trug eine kurze Hose mit einer lockeren Bluse, die ziemlich weit aufgeknöpft war. Schnell sah er ihr in die Augen. »Ich muss nach Koblenz. Da komme ich an Köln vorbei.« Warum sagte er das? Es war doch klar, was jetzt kam. 


»Würden Sie mich bis Köln mitnehmen?« Sie sah ihn mit kindlichen Augen an. Offenbar machte sie sich keine Gedanken darüber, was sie ausstrahlte. 


Wollte er sie mitnehmen? Oder doch lieber in Ruhe seine Strecke abjuckeln? Er warf einen kurzen Blick aus der Frontscheibe. Vor ihm lagen die übliche Route und die üblichen ungenutzten Möglichkeiten, links oder rechts abzufahren und andere Wege einzuschlagen.»Steig ein«, sagte Mika. Irgendwie konnte er der bezaubernden Kleinen dann doch nicht widerstehen. 


»Danke!«, rief sie erfreut, hüpfte einmal und lief um den Lastzug herum. 


Die Beifahrertür öffnete sich und die junge Frau stieg so behände ein, als würde sie tagtäglich in großen Trucks sitzen. 


»Danke«, wiederholte sie und strahlte ihn an. »Ich heiße Anika.« 


»Mika.« Im selben Augenblick ärgerte er sich, dass er nicht abgelehnt hatte. Sie war so ein hübsches Ding und hatte ganz sicher nichts anderes im Kopf, als möglichst schnell und unbehelligt nach Köln zu kommen. Es war völlig abwegig, dass sie mehr wollte als eine kostenlose Beförderung. Erst recht nicht von irgendeinem Lastwagenfahrer. 


»Wohin?«, fragte sie und zeigte auf ihren Rucksack. 


»Leg ihn nach hinten.« 


Sie wuchtete ihr Gepäck über die Rücklehne, und Mika konnte eindeutig erkennen, dass sie keinen BH trug. 


»Ist das heiß heute«, meinte sie, als sie sich anschnallte. 


»Wird gleich besser.« Mika wies auf die Klimaautomatik und drückte die Fensterheber. 


Sie schwiegen, als der Lastzug vom Parkplatz rollte und sich in den Verkehr einfädelte. 

Anika rutschte ungeniert auf ihrem Sitz hin und her, bis sie es bequem fand. »Das ist ja ein richtiger Wuchtbrummi. Da habe ich schon deutlich schlechter gesessen!« 


»Ja, die Zugmaschine ist noch ziemlich neu.« Irgendwie war Mika stolz, dass sie seine Maschine gut fand. Verstohlen betrachtete er ihre Beine, die sie lässig gegen die Ablagefläche stützte. Eine Traumfrau. »Trampst du öfters?«, fragte er unbeholfen, um das Gespräch in Gang zu halten. 


»Nur gelegentlich. Ich war auf Norderney und wollte eigentlich mit der Bahn zurückfahren. Aber in den Zügen soll es ja zurzeit unerträglich heiß sein.« 


Mika lag die Frage auf der Zunge, ob sie keine Angst habe, mit einem fremden Mann zu fahren. Aber er befürchtete zugleich, dass er genau damit bei ihr Befürchtungen schüren würde. Wenn sie sich wohl fühlte, umso besser. Er würde nicht daran rühren. 


»Und du?«, fragte sie. »Fährst du diese Strecke oft?« 


»Ja, ziemlich oft.« Mika wollte es bei schon bei dieser Antwort belassen, doch ein Gespräch würde er so nicht führen können. »Es gibt einige Kunden, die Wert darauf legen, dass ich für sie fahre.« 


»Und das können die bestimmen?« 


»Kommt darauf an, ob es gute Kunden sind. Die Konkurrenz ist hart in der Branche. Und solch ein Entgegenkommen kostet nichts.« 


Darauf sagte sie nichts, als ob sie über seine Worte nachdachte. Dann fragte sie: »Wird es nicht langweilig, immer dieselbe Strecke zu fahren?« 


»Es geht.« Wieder musste er sich zwingen, mehr zu sagen: »Eine gewisse Routine ist nicht schlecht. Man kann einfach drauf los fahren und seinen Gedanken nachhängen.« 


»Ja, du hast sicher viel Zeit zum Nachdenken.« In den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie ihn ansah. »Worüber denkst du denn nach?« 


Mika war unangenehm überrascht. Was sollte er jetzt antworten? Dass er davon träumte, die eingefahrenen Wege zu verlassen und was ganz anderes zu tun? Aber er konnte ihr nicht einmal sagen, was ihm da vorschwebte. Und dass er sich ziemlich häufig fragte, wie es wohl wäre, mal eine Frau wie sie neben sich zu haben, behielt er auch besser für sich. »Na ja, irgendwie ist die Straße wie das Leben. Irgendwer schickt einen los und damit steht alles andere fest.« Er blickte kurz zu ihr hinüber. Sie sah ihn immer noch an. Hielt sie ihn jetzt für dumm? 


»Ich glaube, du bist ein richtig netter Kerl«, sagte sie. 


Mika spürte ein Kribbeln im Nacken. Er fand Anika auch klasse, aber das musste er für sich behalten. Sonst wäre sie vielleicht doch noch auf die Idee gekommen, er könnte sich Freiheiten herausnehmen. Und sie selbst klang so aufrichtig und arglos, dass sich hinter ihrer Aussage ganz sicher nichts verbarg, das diese Freiheiten zuließ. 


»Aber wenn das Leben wie die Straße ist, warum nimmst du nicht mal einen anderen Weg?«, schlug sie vor. 


»Welchen denn?« Sie hatte tatsächlich die Frage gestellt, die ihn auch bewegte. Was würde sie sagen? 


»Ich weiß nicht so recht«, sagte sie. »Aber für mein Leben ist der Weg nicht klar vorgegeben.« 


Sie hatte also auch keine Antwort. Mika blickte versonnen auf die Straße. Dann fiel ihm ein, auf welche Frage sie nun sicher wartete: »Was machst du denn so?« 


»Ich habe gerade mein Studium abgeschlossen. Germanistik.« 


Sie hat studiert. Das sah schlecht aus für einen Lastwagenfahrer. 


Anika strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Und da war ich ein paar Tage auf der Insel, um mich zu erholen.« 


»Allein?« Mika hätte sich auf die Zunge beißen können. Hoffentlich dachte sie jetzt nicht, dass er sie nach ihrem Freund befragen wollte. 


»Nein, nicht allein«, sagte sie, ohne dass sich ihre Tonlage änderte. 


Klar. Natürlich war sie nicht allein gewesen. Wie hatte er das auch nur annehmen können. 


»Meine Freundin muss nach Hamburg. Sie hat schon vor einer Stunde eine Mitfahrgelegenheit gefunden.« 


Mika war irritiert. Hatte sie nun einen Freund oder nicht? 


Anika beugte sich vor und zog ihre Schuhe aus. »Es ist immer noch ziemlich warm hier. Kannst du die Klimaanlage nicht noch weiter aufdrehen?« 


»Doch, schon. Aber man muss aufpassen, dass man sich nicht erkältet.« Dennoch stellte er die Automatik zwei Grad tiefer ein. Die Achterbahnfahrt seiner heimlichen Gefühle, Wünsche und Selbstbeschränkungen machte ihm zu schaffen. »Stört es dich, wenn ich rauche?« 


»Ich bin hier nur Gast«, antwortete sie unverbindlich. 


Mika steckte sich eine Zigarette an und ließ das Fenster herunter. Sofort schlug ihm der heiße Fahrtwind ins Gesicht. 


»Gibst du mir auch eine?«, fragte Anika. 


»Du rauchst?« 


»Manchmal. Und jetzt habe ich Lust.« 


Er reichte ihr die Schachtel hinüber und dachte an seine Lust. 


Als sie den Rauch ausblies, ließ sie ihr Fenster ebenfalls herunter. »So heiß war es seit Jahren nicht mehr. Ich schwitze.« Mit der freien Hand fasste sie ihre Bluse und wedelte sich Luft darunter. 


Da! Jetzt hatte er ihren Busen gesehen. Unwillkürlich machte Mika den Rücken krumm und stützte sich auf das Lenkrad. Reiß dich am Riemen. Eine von der Uni will nichts von dir. Er sah die nächste Ausfahrt vor sich und fuhr vorbei. Immer schön gerade aus. 


Kurz darauf warfen sie beide ihre Kippen aus dem Fenster. 


Mika schwieg und auch Anika sagte eine Weile nichts. Er spürte aber, dass sie immer wieder zu ihm herüber sah. 


Dann fragte sie unvermittelt: »Hast du Familie?« 


»Nein.« 


»Hast du eine Freundin?« 


»Zurzeit nicht.« Sie durfte sich diese Fragen erlauben, weil sie eine Frau war und von ihr keine Gefahr ausging. Er sah den Autos nach, die ihn überholten. 


»Mich fragst du aber nicht viel?« 


Mika räusperte sich. »Ich will nicht, dass du dich bedrängt fühlst. Es ist ja nicht ungefährlich für eine junge Frau, bei einem fremden Mann mitzufahren.« 


Sie lachte. »Keine Sorge. Ich habe keine Angst vor dir. Du bist okay.« 


Mika konnte darin kein Kompliment erkennen. »Okay sein« klang wie »harmlos« oder »nichtssagend«. Je länger desto mehr war er frustriert. 


Wieder schwiegen sie und Mika ließ sich und den Lastzug vom Verkehr treiben. 


Irgendwann fiel ihm auf, dass seit der Zigarette die Fenster offen standen. Gerade wollte er fragen, ob er sie nicht schließen sollte, da sah er, dass sie die Augen zu hatte. Ihr Kopf war zur Seite gerutscht und wackelte leicht im Rhythmus der Straße. Ihr Gesicht war wunderschön, wenn sie schlief. Doch dann wurde sein Blick magisch von ihrer Bluse angezogen. Der Fahrtwind zerrte am Stoff und gab immer wieder den Blick auf ihren Busen frei. Ihm schien, dass ein Knopf mehr offen stand als vorher. Der Wind musste ihn gelöst haben. Es war undenkbar, dass sie ihn geöffnet hatte. Er sah sich ihre Beine und ihre Füße an und spürte, dass sie ihn erregte. Immer wieder kehrte sein Blick zurück und heftete sich in den Ausschnitt ihres Hemdes. 


Plötzlich schlug Anika die Augen auf. Mika zuckte zusammen. Sie lächelte ihn an. Er lächelte verkrampft zurück und sah eilends auf die Fahrbahn. 


»Und?«, fragte sie mit verschlafener Stimme. »Gefallen sie dir?« 


Mika lief rot an. »Was meinst du?« Es war ihm unendlich peinlich. 


»Meine Brüste. Weil du sie angesehen hast.« 


»Entschuldige. Tut mir leid.« Hatte sie etwa gar nicht geschlafen? 


»Kein Problem.« 


Mika wunderte sich, dass ihre Stimme immer noch freundlich klang. 


»Was ist nun? Gefallen sie dir?« 


Mika nickte und starrte geradeaus. »Ja.« 


Sie zog ein Bein auf die Sitzfläche und wandte sich ihm zu. Er schaute kurz hinüber. Sie kniff die Augen zusammen und sah ihn unentwegt an. 


»Du machst mich nervös«, sagte er. 


»Schön!« 


Einmal mehr wurde es still. 


Dann sagte sie: »Vielleicht war es ja Absicht?« 


»Ganz bestimmt.« Mikas Stimmung war plötzlich mies. 


»Warum nicht? Vielleicht wollte ich ja, dass du sie siehst?« 


»Frauen machen so etwas nicht.« Mika glaubte an das, was er sagte. Wieder zog eine Ausfahrt an ihm vorbei, wieder eine verpasste Gelegenheit auf neue Wege. 


»Wenn du meinst.« Anika holte ihren Rucksack hervor und kramte darin herum, bis sie eine Flasche Wasser fand. Sie trank etwas, legte den Rucksack zurück und behielt die Flasche in den Händen. Ihre Bluse schloss sie nicht. 


Erneut stockte das Gespräch. 


Als sie sich dem Ruhrgebiet näherten, meinte Anika. »Irgendwie bist du ein bisschen seltsam.« 


»Ja, kann sein.« Mika dachte, dass der Tag eine ziemlich unangenehme Wendung nahm und fühlte sich noch elender. 


»Vielleicht ist es gar nicht gut, dass du so viel nachdenkst«, mutmaßte sie. 


Mika zuckte die Schultern. »Es ist, wie es ist.« 


»Du musst nicht ärgerlich sein. Es ist wirklich nicht schlimm, dass du mir in die Bluse geguckt hast. Männer interessiert das nun mal. Ich fände es schrecklich, wenn Männer nicht neugierig auf mich wären.« 


»Es kommt immer darauf an, wer es ist.« 


»Genau. Und bei dir fand ich es nicht schlimm. Im Gegenteil.« 


Mika wagte es nicht, sie anzusehen. Der Lastzug rauschte an einem Autobahnkreuz vorbei und er dachte, dass Anika viel zu selbstbewusst für ihn war. Anstatt zu verlangen, dass er an der nächsten Raststätte hielt und sie aussteigen ließ, weil er sich Freiheiten genommen hatte, ließ sie sich einfach weiter von ihm fahren. Sie wusste, dass sie anziehend war, und sie wusste ebenso, dass er sie niemals berühren würde. 


Am späten Nachmittag fuhren sie an Düsseldorf vorbei und näherten sich ohne nennenswerte Staus ihrem Ziel. 


»Gleich kommt Köln«, sagte Mika. »Wo soll ich dich raus lassen?« Er war furchtbar enttäuscht darüber, wie belanglos die Fahrt mit ihr letztendlich geblieben war. 


»Am besten gleich die nächste Raststätte. Ich lass mich abholen.« 


»Von deinem Freund?« Er musste es einfach wissen. 


»Ich habe keinen Freund.« 


Nun wusste er es. Aber machte es einen Unterschied? 


Als Mika auf die Abbiegerspur ausscherte, knöpfte sie ihr Hemd zu und schnappte sich den Rucksack. Er suchte einen Parkplatz und hielt an, ohne den Motor auszuschalten. 


»Vielen Dank, dass du mich mitgenommen hast.« Sie öffnete die Tür. 


»Alles klar«, erwiderte er. »Mach’s gut.« 


Sie stieg aus und zog das Gepäck aus der Kabine. Noch einmal sah er ihren dunklen Schopf, als sie sich den Rucksack aufsetzte, und wurde wehmütig. 


Die Tür war schon fast zu, als sie plötzlich wieder aufschwang. Anikas Gesicht tauchte auf und sie fixierte ihn mit den Augen. »Ich sage so etwas ja normalerweise nicht, aber du bist wie dein Auto: ein echter Wuchtbrummi.« 


Mika war überrascht. 


»Und es war doch Absicht!« Ihre Stimme klang trotzig.»Du solltest sie sehen!« Diesmal war sie es, die errötete. »Ich finde dich nett und ich hätte es schön gefunden, wenn du mich auf irgendeinen verschlafenen Parkplatz entführt hättest.« Sie holte tief Luft. »Und damit du es ganz genau weißt: Ich hätte mich sogar von dir verführen lassen. So richtig schön in deiner großen Kabine. Und wer weiß, was sonst noch alles hätte werden können. Heute, oder vielleicht sogar auf Dauer. Schade.« Schnell schlug sie die Tür zu. 


Für Sekunden saß Mika regungslos hinter dem Steuer. Dann hatte er es plötzlich eilig. Er schaltete den Motor aus und sprang aus dem Führerhaus. Sie war weg. Er lief um den Wagen herum und suchte sie, doch vergeblich. Voller Verzweiflung stampfte er mit dem Fuß auf. Er hatte eindeutig eine Ausfahrt zu viel verpasst. 


Fluchend stieg er wieder ein und fuhr los. Im Rückspiegel sah er sie. Sie telefonierte. Hinter ihm fuhr der nächste LKW an. Mika konnte nicht mehr anhalten. 


Er lenkte den Wagen zurück auf die Autobahn. Das Leben ist wie die Straße, dachte er, du kehrst immer wieder auf die Spur zurück. 

Raubritter

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Manchmal werde ich nachdenklich. Immer dann, wenn ich nicht raus will in die Welt, raus aus diesen Mauern, raus aus dem Schutz dieser Mauern. So wie heute, weil heute eine Entscheidung zu erwarten ist.


Mein Sohn Leonhard kommt in die Küche und murmelt müde: »Guten Morgen«.


Über die Zeitung hinweg erwidere ich seinen Gruß. Ein Gespräch beginnt nicht. Mir ist klar, weswegen auch er in Gedanken ist. Er hat seine neue Freundin im Sinn, sonst nichts und niemanden. Gestern Abend hat er sie getroffen. Um zehn Uhr musste er zu Hause sein. Ganz sicher hat er danach noch mit ihr gechattet. Stundenlang. Das gibt wieder eine schlechte Note in der Schule. Neue Freundin, schlechte Note. Manche Automatismen sind erschreckend einfach.


Während Leonhard versonnen an einem Toast herum kaut, kommt meine Tochter Hellen herein und nimmt mir die Zeitung weg, auf die ich mich ohnehin nicht konzentrieren kann.


»Guten Morgen, Papa.«


»Guten Morgen, Liebes.«


Sie füllt sich die Müslischale und isst schweigend, blättert ziellos in der Zeitung. Demnächst macht sie Abitur. Man merkt ihr die Anspannung an. Sie will es unbedingt gut machen, hat Pläne für die Zukunft.


Vera steht gerade unter der Dusche. Sie findet keinen Job, war zu lange raus aus dem Geschäft. Der Kinder wegen, auf eigenen Wunsch. Ihre Versuche, sich auf das eine oder andere Stellenangebot einzulassen, führten ins Nichts. Nur Langeweile und schlechte Stimmung. Ich darf nicht denken, dass da draußen nichts mehr auf sie wartet. Irgendwo muss noch ein Schatz liegen, der gehoben sein will. Sie darf auf Dauer einfach nicht unterfordert sein.


Die kleinen Probleme, Klagen aus der Sicherheit heraus, dass es uns allen alles in allem gut geht. Wir sind gesund, ich verdiene nicht schlecht, die Kinder kommen in Schule und Freundeskreis klar. Und wir haben diese Mauern, unsere Burg.


Das kleine Haus, das fast schon abbezahlt ist, kommt mir heute Morgen vor wie eine Festung. Es ist wie ein Bollwerk, in das wir immer wieder zurückkehren. Des Morgens ziehen wir los, gehen auf Raubzug, versuchen dem Tag Beute abzujagen. Und am Abend kehren wir heim. Mal haben wir uns bereichert, mal haben wir verloren. Wir sind Raubritter, die Raubritter unserer Zeit.


Rückzug. Wahrscheinlich ist es nicht allein das Haus, das uns Schutz und Geborgenheit bietet. Es ist vielmehr das, was in seinen Mauern stattfindet: wir vier.


Sie ist ein kostbares Gut, unsere Gemeinschaft. Vera liebe ich immer noch wie beim ersten Kuss. Sie liebt mich auch, daran glaube ich. Wir lieben uns alle, selbst wenn es nicht immer danach aussieht. Für Vera und mich bedeuten das Haus und die Kinder ein unschätzbares Glück. Leonhard und Hellen werden allmählich flügge. Hellen wird uns diesen Sommer verlassen, um zu studieren. Leonhard gibt sich des Öfteren genervt wegen dieses Haushalts, wäre gerne schon eigenständig. So ist das Leben. Und dennoch kommen sie wieder. Auch als Studentin wird Hellen zurückkehren, am Wochenende ab und zu oder in den Semesterferien. Und Leonhard bleibt uns ganz sicher noch länger erhalten als nur bis zum achtzehnten Geburtstag, wie er gerne androht. Eben weil hier mehr passiert als Haushalt.


Wir gehen auf Raubzug, Tag für Tag, versuchen, dem Leben etwas abzugewinnen. Doch hier ist der Ort, an dem wir nicht gewinnen müssen. Hier ist die Gemeinschaft, die auch die Verluste trägt und übersteht.


Kurz darauf klingelt das Telefon. Ich sitze im Büro und habe es geahnt. Wir haben den Auftrag nicht erhalten. Die Frage wird kommen, ob unsere Bewerbung an der Ausschreibung gut genug vorbereitet war. Die Frage wird in erster Linie mir gelten, denn dies war mein Projekt. Man kann nicht immer gewinnen, aber es betrübt mich dennoch. Schon ertappe ich mich bei der Sehnsucht nach dem Feierabend. Heute werde ich keine reiche Beute machen. Aber wenn Vera neben mir auf dem Sofa sitzt und sich an mich lehnt, dann spielt das keine Rolle mehr.


Ich ziehe sie noch näher zu mir heran und gebe ihr einen Kuss aufs Ohr. Sie seufzt und nimmt meine Hände. Leonhard kommt vom Sport. Ganz kurz schaut er bei uns im Wohnzimmer vorbei, bevor er auf direktem Weg ins Bad geht.


»Wie war die Klassenarbeit?«


»Ging so. War beim Training schneller als Jens! Der hat vielleicht Augen gemacht!«


»Glückwunsch! Das Essen steht in der Küche.«


»Später.«


»Heute gehst du früher schlafen.«


Hellen sitzt oben mit ihrer Freundin und büffelt für die Matheklausur. Nicht ihr stärkstes Fach. Aber sie will ihm einen Achtungserfolg abringen. Ich traue ihr das zu.

Was ist die Beute dieses Tages? 


Einmal schneller sein als der härteste Konkurrent. Imagegewinn. Ein Kuss von seiner Flamme.


Ein bisschen mehr Verständnis für einen Wust an Formeln und Zahlen.


Vera erzählt mir von Schnäppchen und der Schlange an der Kasse.


Und ich? Habe einen Auftrag verloren. Aber trotz alledem habe ich gerade heute die Erkenntnis gewonnen, dass diese Burg die fetteste Beute ist, die ich jemals machen werde. Die fetteste Beute, weil sie dich reich macht, auch wenn dein Raubzug erfolglos blieb. Als Ausbeute eines Lebens ist das vielleicht bescheiden, aber ich bin Realist. Es ist gut, ein Raubritter zu sein, solange deine Burg steht.

Der letzte Raub

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Der Schuh flog quer durch den Raum direkt auf ihn zu. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, so sehr die Fassung zu verlieren. Aber er trieb mich zur Weißglut, wie er da stand. Packpapier in der Hand. Den Fuß linkisch auf einer Plastiktüte. Mit dem unsicheren Blick des Ertappten.


Der Absatz traf ihn unter dem linken Auge. Erschrocken sah er mich an, der Schuh purzelte zu Boden, reflexartig fasste er sich ins Gesicht.


»Was tust du?«, fragte er perplex. Damit hatte er nicht gerechnet. Ebenso wenig wie ich.


»Was ich tue?«, keifte ich. »Ich verliere die Nerven!« Wutentbrannt stampfte ich mit dem Fuß auf und zuckte vor Schmerz zusammen.


Kaum zu glauben, dass ich in diesen Mann verliebt war. Mein Herz. Das war das erste, was er mir stahl. Er war anders als die anderen Männer, deren ich mich ständig erwehren musste. Ich wurde im Sturm erobert, weil er einfühlsam, bescheiden und unaufgeregt war.


»Es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich hatte dich nicht …«


»Nein, das hast du nie«, fauchte ich. »Du hast mich nie im Blick, erwartest mich nicht. Du tust und machst, was immer dir in den Sinn kommt. Und du tust und machst es immer falsch. Immer auf meine Kosten. Du bist eine Zumutung für jede Frau!«


Was nicht hundertprozentig stimmte. Ich fühlte mich lange Zeit wohl in seinen Armen. Er war zärtlich. Auch fordernd, für meinen Geschmack manchmal über die Grenzen des Anstands hinaus, aber immer zärtlich. Das war sein zweiter Raub. Meine Unschuld.


»Ich wollte …«, begann er.


Ein wütender Schrei von mir unterbrach ihn. »Ich weiß sehr wohl, was du wolltest, du Dieb.«


Ich hätte nicht mit ihm zusammenziehen sollen. Die Einrichtung unserer gemeinsamen Wohnung kostete mich damals meine gesamten Ersparnisse. Er hatte keine und steuerte kaum etwas bei. Zum Dritten nahm er also mein Geld. Auch weil er weiterhin ohne Beschäftigung blieb und angeblich fleißig studierte. Während ich im Büro Überstunden schob, um wenigstens zum Jahresende eine Sonderzahlung rauszuschlagen.


Aber ich hörte nie auf zu träumen, dass es eines Tages besser würde. Wie blind ich war! Es wurde nicht besser. Im Gegenteil. Als ich verstand, dass Wertgegenstände spurlos verschwanden und manchmal fremde Düfte in der Luft hingen, verflog mein Vertrauen in ihn. Er versprach mir, mich nie wieder zu hintergehen. Aber ich wurde das Misstrauen nicht los.


Eines Tages war es dann soweit. Ich suchte meine Uhr und fand ein schlüpfriges Spielzeug. Es gab keine Ausflüchte mehr. Ich gestand mir ein, dass meine Träume geplatzt waren. Die Träume von einer kleinen, heilen Welt.


Der Kassensturz meiner Beziehung mit ihm wies ein fettes, rotes Minus aus. Ich stellte ihn zur Rede und warnte ihn eindringlich. Vor dem inneren Auge tanzte wütend die kleine Liste seiner Raubzüge in meinem Leben. Das Herz, die Unschuld. Das Geld, die Dinge, die Treue. Ganz zu schweigen von Vertrauen und Träumen. Das war mehr als genug. Ich stellte ihm in Aussicht, dass er gehen würde, wenn sich nicht sofort grundlegend etwas änderte. Er sah mich forschend an, als wollte er herausfinden, wie ernst es mir war.


Ich sagte: »Du hast dich frei an mir und meinem Leben bedient. Und jetzt fühle ich mich bestohlen, ausgenutzt, innerlich verarmt. Aber du wirst nicht länger rauben, sondern einzahlen, ab jetzt.«


Eine Woche war das her. Dass ich trotz alledem bei ihm blieb und ihm diese letzte Chance einräumte, kostete mich meine Selbstachtung. Zugegeben, er gab sich Mühe seitdem. Jedoch nagte der Zweifel an mir, ob dieser Zustand von Dauer sein würde.


Und heute Abend kam ich von der Arbeit, schloss die Wohnung auf und öffnete die Tür. Sie stieß gegen ihn, ein furchtbares Klirren ertönte, Glas spritzte mir entgegen. Ich prallte zurück in den Flur, knickte mit dem Fuß um und landete auf dem Hosenboden. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich, als ich aufstand und erkannte, dass die kostbare Vase meiner Großmutter in Scherben vor mir lag.


Rasend vor Wut humpelte ich in die Wohnung, setzte mich auf einen Stuhl und zog den Schuh vom malträtierten Fuß.


»Mist«, sagte er, »das tut mir leid.«


Da warf ich ihm den Schuh an den Kopf.


»Geh«, sagte ich und wies ins Schlafzimmer. »Pack deine Sachen und komm nur noch einmal wieder, um den Rest zu holen.«


»Aber wieso?«, fragte er. »Habe ich mich nicht gebessert?«


»Vielleicht, aber du hast dennoch einen Raub zu viel begangen.«


»Welchen denn?« Das Packpapier raschelte in seinen Händen.


»Du raubst mir den letzten Nerv.«

Ein Morgen mit Nofretete

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Fünf Uhr morgens. Feiertag. Ich habe vergessen, den Wecker auszustellen, und ärgere mich. Einschlafen kann ich nicht mehr. Die Unruhe des Lebens setzt ein, sobald ich die Augen öffne.

Du schläfst. Meine Augen verfangen sich in deinem Antlitz. Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich liebe. Ich hauche dir einen Kuss auf die Wange und fahre zärtlich über deinen Arm. Dann stehe ich auf.

Vogelgezwitscher, Kaffeemaschine. Die ersten Geräusche des Tages sind vielversprechend. Sonnenaufgang, Zigarettenrauch. Ich ziehe die Beine aufs Sofa, das Leder quietscht. Zu viel Liebe, zu wenig Schlaf. Überdehnung der Sinne. In mir wird es mulmig.

Ich hänge zwischen Himmel und Hölle. Der Krater in meiner Seele ist riesig. Zu groß, um sich jemals wieder zu schließen. Du aber hast einfach angefangen, ihn zuzuschütten. Ohne zu eilen und ohne zu zögern. Jede Geste von dir schafft neue Substanz, wo zuvor gähnendes Nichts war. Gesten sind deine Stärke, eine von überraschend vielen. Du kannst das richtig gut und merkst es nicht einmal. Du bringst neue Horizonte in mein Leben, öffnest den Blick auf die schöne, verheißungsvolle Weite der Welt.

Es ist jedoch nicht gut, wenn ein Mensch zu wichtig wird. Du bist mir jetzt schon viel zu wichtig. Die Erfahrung meiner Jahrzehnte lehrt, dass man sich nicht allzu sehr auf Menschen einlassen darf, sich nicht auf sie verlassen sollte. Du hörst dir an, wie mein Leben war. Doch du scherst dich nicht darum, welche Schlüsse ich aus der Vergangenheit ziehe. Du bist einfach da und schaffst Perspektiven, schaffst einen Neuanfang.

Als wir zusammensaßen und vor der Frage standen, ob wir es miteinander versuchen wollen, hatte ich mir einen Kompromiss zurechtgelegt. Er lautete: Wir haben keine Zukunft, aber wir haben eine Gegenwart. Vielleicht. Wenn wir es wagen. Du hörtest dir geduldig an, was ich grob gezimmert hatte, um deiner und meiner Situation gerecht zu werden. Und dann wischtest du mit einem Satz alles vom Tisch. Ich sehe eine Zukunft für uns, sagtest du, für dich und mich.

Seither wage ich wieder einen Blick nach vorne, nehme das Leben als Chance wahr, lasse etwas Gutes zu. Und das Loch in mir füllt sich mit deinen Gesten.

Darüber ist Zeit vergangen, die Sonne steht am Himmel, der Kaffee ist kalt, ich habe mich gefangen. Vorsichtig schleiche ich ins Schlafzimmer und versuche dich zu wecken.

Es vergehen Minuten, bis du meine Nähe wahrnimmst. Du öffnest die Augen, dein Blick bleibt verschwommen. Gestern noch schmiegtest du dich an mich, heute bleibt jede Regung aus. Mir tut unendlich weh, was mit dir geschieht. Wehe, du wirst nicht gesund. Einen Augenblick noch halte ich dich in den Armen. Dann stehe ich auf. Vogelgezwitscher, Kaffeemaschine.

Auftritt Ihrer Majestät. Wie eine Göttin schreitest du an mir vorüber, erhaben, wunderschön, unnahbar. Die Sonne erstrahlt in deinem Haar, der Rauch verhüllt deine Züge. Den ersten gemeinsamen Kaffee genießen wir in abgrundtiefer Stille. Du blickst in die Leere, ich ringe um Fassung.

Und dann, plötzlich, ein Lächeln. Ich fixiere deine Lippen, schaue in deine Augen. In mir löst sich ein Knoten. Es ist wahrhaftig ein Lächeln, liebevoll, offen, es ist dein Lächeln. Die Tiefe der Nacht entlässt dich in den Tag. Du bist noch da. Dank sei Koffein, Dank sei Nikotin.

Als du eine Viertelstunde später aus dem Bad kommst, legt sich das Handtuch wie ein Turm um dein Haar. Nofretete ist auferstanden und lässt sich zur Audienz herab. In deinen Augen glitzert es. Und dann höre ich Worte aus deinem Mund, dass mir der Atem stockt, dass sich der Krater zum Berg erhebt, dass der Horizont sich schier in die Unendlichkeit weitet. Du lächelst. Eine gemeinsame Wohnung?

Du manipulierst mich und sagst mir die Dinge, die ich gerne höre. Ich lasse es zu, bis ich verstehe, welche Absicht du verfolgst. Du hast zwei Gesichter, bist uneins mit dir selbst, du starke, kämpferische, lebenshungrige Frau. Was ist wahr? Was ist vorübergehende Gnade im Zwiespalt?

Die Zeit mit dir ist wunderschön. Die Impulse, die du in mein Leben bringst, sind unschätzbar wertvoll. Deine Gegenwart ist Reichtum. Nofretete, die Göttliche, hat entschieden, das Leben möge heute gnädig sein. Ihre Hände legen sich segnend über unser kleines Universum.

Vogelgezwitscher, Kaffeemaschine. Die Geräusche des hohen Tages sind verheißungsvoll.

Dirk Röse Frau
Dirk Röse Mann

un·will·voll·kommen

liebe

ist der willkommene

kompromiss

mit der unvollkommenheit

 

hass

ist die vollkommene

kompromisslosigkeit

mit dem unwillkommenen


strand

zwei gestrandete seelen

stürme des lebens

 

zwei gestrandete seelen

einander zugeworfen

 

zwei gestrandete seelen

fremde bekannte welt

 

zwei gestrandete seelen

eins nicht am

 

gestrandet

wichtig jetzt

tut gut

es zu sagen

du bist es wert

schön dass du da bist

hübsch siehst du aus

danke für alles

ich bin für dich da

du riechst so gut

das hast du gut gemacht

dein lächeln verzaubert mich

lass uns das gemeinsam machen

komm in meine arme

du tust mir gut

ich habe dich lieb

es zu hören

tut gut


 

antwort

deine zeilen verschwimmen

papier und augen blinzeln

ich sehe dich

ich sehe

dich

nein

ich sage ja

du sagst nein

nein ist stärker

 

ja kann gut kann schlecht

nein kann gut kann schlecht

nein ist stärker

 

gewalt macht geld

hierarchie demokratie

kompromiss

wege zum ja

 

auf augenhöhe

bleibt nein stärker


gang

und als sie
gegangen war
verschwand auch er
aus seinem leben

Hyänen

Hamster

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Das Telefon klingelte und Bergmann sah auf das Display. Der Vorstand. Mit dem zweiten Klingeln kam schlagartig das mulmige Gefühl. »Bergmann?« Seine Stimme blieb fest.

     
»Ins Konferenzzimmer.« Keine unnötigen Floskeln. In sieben Jahren kaum ein persönliches Wort, aber im Jahresgespräch die wiederkehrende Aner­kennung, wie zufrieden der Vorstand mit Bergmanns Arbeit sei.

     
»Gleich«, sagte Bergmann.

      
»Nicht gleich. Sofort!« Reine Funktionalität, hochdosierter Druck.

     
»Das meine ich ja.« Bergmann legte auf, schnappte sich das Notizbuch und eilte aus dem Büro. Während er dem Vorstandszimmer näher kam, fragte er sich, was schief gegangen war. Er hatte die Sitzung akribisch vorbereitet und mit dem Vorstandsvorsitzenden abgestimmt. Mit ein bisschen Glück kam er glimpflich davon. Im Innersten wusste er aber, dass es nicht so laufen würde.

     
Er klopfte an die Tür und trat ein.

     
»Der Bremen-3-Vorgang fehlt in der Sitzungsvorlage.« Der Vorsitzende sah ihn mit starrem Gesichtsausdruck an. Auch die Blicke der anderen Vorstände und Bereichsleiter waren auf ihn geheftet.

     
Bergmann spürte, dass seine Augen flackerten und ihn dieses völlig hilflose Gefühl übermannte. Ein ertapptes Kind. »Bremen 3 stand nicht auf der Tagesordnung«, entschuldigte er sich.

    
»So was muss man immer in der Hinterhand haben«, entgegnete der Vorsitzende.

    
»Geben Sie mir eine Minute, ich organisiere ein Handout.«

    
»Ich habe die Unterlage zufällig auf dem Stick.« Eine Hand erhob sich über die Köpfe der Männerriege, ein kleines Stück Plastik zwischen Daumen und Zeigefinger.

     
Czerkowicz, natürlich. Bergmann fing einen blitzschnellen Seitenblick seines Kollegen auf. Sein kleiner Triumph. Wahrscheinlich hatte der verdammte Kerl das Gespräch absichtlich auf Bremen 3 gelenkt, um punkten zu können.


»Gut«, meinte der Vorsitzende. »Bergmann, Sie sind raus. Danke.«

 

     

Bergmann schloss die schwere Tür hinter sich und schlich zurück über den Flur. Am Automaten zog er sich einen Kaffee, holte seinen Mantel aus dem Büro und begab sich auf eine Zigarette nach draußen. Der Anspruch auf Perfektion und die Erfahrung, sie nie zu erreichen, waren erdrückend.


Unter dem Abdach stand bereits ein Kollege. Mist, ausgerechnet der Lücke. Bergmann spürte, wie sich seine Lust auf Koffein und Nikotin eintrübte. Lücke war keiner mehr, mit dem man sich unterhalten musste. Er war vor zwei Jahren hart ausgebremst worden, hatte sich in eine psychosomatische Klinik verdrückt und arbeitete seit seiner Rückkehr deutlich weniger, spielte im Aufstiegskampf aber auch keine Rolle mehr.


»Hallo Bergmann.« Lücke nippte am Kaffee und sog an seiner Zigarette.


»Hallo Lücke.« Bergmann zündete sich auch eine an und testete seinen Kaffee. Schon trinkbar, nicht zu heiß.


»Wer hat Ihnen diesmal das Bein gestellt?«


»Woher …« Wieso wusste der Kerl Bescheid? Nach nur fünf Minuten? Der Flurfunk funktionierte beängstigend gut. Immerhin: In Lückes Gesicht war keine Gehässigkeit auszumachen, eher Interesse.


»Czerkowicz oder Westerhoff?«, hakte Lücke nach.


»Czerkowicz.« Bergmann blies den Dampf über seinem Becher sachte weg und nahm den nächsten Schluck.


»Der ist scharf zurzeit«, bestätigte Lücke.


»Und wie läuft’s bei Ihnen?«, fragte Bergmann.


»Ich habe einen autoritären Chef und eine tyrannische Frau.« Lücke zuckte die Schultern. »Wie soll’s mir da gehen?«


Bergmann sah seinen Kollegen befremdet an. Auf keinen Fall wollte er sich mit Lücke auf persönlicher Ebene austauschen.


»Nun gucken Sie nicht so, als würde ich Ihnen etwas völlig Abwegiges kundtun.« Lücke lächelte milde. »Ihnen geht’s doch ähnlich.«


Bergmann spürte, wie das Nikotin ihn übermannte. Eine bleierne Schwere legte sich auf seine Schultern. Er war hart am Limit. Lücke konnte sich sein deprimierendes Resümee sparen.


»Wissen Sie, warum so viele Menschen einen Burnout erleiden?« Gelassen schlürfte Lücke seinen Kaffee.


Bergmann reagierte nicht.


»Weil es nicht aufwärts geht.« Lücke nahm einen tiefen Lungenzug. »Nur für wenige geht es aufwärts. Den meisten aber wird schnell klar, dass sie nicht zu den Auserwählten zählen. Sie wissen, dass es für den Rest ihres Lebens nur darum gehen wird, nicht abzusteigen.«


Bergmann nippte am Kaffee und schwieg.


Lücke hustete. »Bis zur Rente werden wir uns tagtäglich mörderisch ab­strampeln, nur um den Status Quo zu erhalten. Wir zahlen die Raten für unser Haus, fahren zweimal im Jahr in Urlaub, bringen unsere Kinder auf dieselbe miese Spur und verrecken eines Tages in irgendeinem personell unterbesetzten Seniorenheim. Oder kippen tot vom Bürostuhl und jeder sagt, dass es am Rauchen lag. Das ist nicht gerade eine lebensfreundliche Perspektive. Wir sind wie die Hamster im Rad.«


Bergmann zog an der Zigarette.


»Gilt auch für gescheiterte Ehen«, ergänzte Lücke. »Burnout der Partnerschaft. Keine Liebe, kein Sex, keine emotionale Perspektive.«


Bergmann war jetzt genervt und sah ihm direkt in die Augen. »Warum tun Sie es sich dann an? Diesen ganzen beschissenen Dreck?«


Lücke drückte seine Zigarette aus und zündete sich noch eine an.


Es klingelte. Bergmann fingerte nach seinem Smartphone und sah auf das Display. Der Vorstand. Plötzlich sackte sein Kreislauf weg. Stehen bleiben, ganz ruhig, einfach nur stehen bleiben. Er nahm das Gespräch an. »Bergmann?« Seine Stimme zitterte.


»Wo stecken Sie denn, Bergmann? Ins Konferenzzimmer.«


Bergmann schob das Telefon ins Jackett, schnipste die Kippe weg und lief zurück ins Gebäude.


»Warum tun Sie sich das an?«, rief Lücke ihm nach.


Bergmann nahm den Aufzug, schmiss den Mantel in sein Büro und den halbleeren Kaffeebecher in einen Papierkorb am Kopierer. Warum tun Sie sich das an? Die Frage hallte in seinem Kopf, während er zum Vorstandszimmer hetzte. Warum tun Sie sich das an? Ja, warum? Vor der Tür blieb Bergmann stehen und atmete durch.


Bietet denn irgendwer eine Alternative? Eine wirkliche Alternative und nicht nur so ein ökogesülztes Aussteigerblabla mit veganen Werkverträgen aus freiberuflicher Magerkost? Gibt es irgendwo einen garantiert heilbringenden Masterplan für ein wohlstandsgetriebenes Leben?


Bergmann öffnete die Tür zum Vorstandszimmer und fand die hohen Herren in muntere Konversation vertieft.


»Kommen Sie rein, Bergmann, nehmen Sie Platz.« Der Vorsitzende war sichtlich guter Laune. »Kaffee?«


»Danke, gerne.« Bergmann setzte sich.


»Wir sind ein gutes Stück voran gekommen«, meinte der Vorsitzende. »Ihre Ausarbeitung zu Bremen 3 war eine geeignete Entscheidungshilfe. Zum Glück hatte Czerkowicz sie griffbereit.«


Bergmann fing ein säuerliches Lächeln seitens des Kollegen auf.


»Gute Arbeit, Bergmann.« Der Vorsitzende zeigte sein wohlwollendes Lächeln und schob ihm einen prall gefüllten Ordner zu. »Morgen früh um acht brauche ich dann eine Vertragsvorlage für unsere Juristen.«


Bergmann nickte. Er klemmte sich den Ordner unter den Arm, ließ den Kaffee stehen und machte sich auf den Weg ins Büro. Das drohende Gewitter war einem vereinzelten Sonnenstrahl gewichen. Motivation genug für einen langen, innigen Abend mit Bremen 3.


Warum tue ich mir das an?


Das Hamsterrad dreht sich weiter. Wer bei dem Tempo aussteigt, landet auf der Nase. Ich habe keine Wahl.

Lemminge

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Der Schreck saß tief. Früher oder später hatte so etwas ja passieren müssen. Vielleicht war es eine Zäsur. Nicht nur für ihn. Für das ganze Unternehmen. Wenn es denn überhaupt etwas Sinnvolles gab, das daraus entstand. 


Bergmann riss die Tür auf und trat nach draußen. Noch immer regnete es in Strömen. Zum Glück waren es nur wenige Schritte. Er marschierte los. Der Kaffee schwappte über den Rand des Bechers und der Regen füllte ihn wieder auf. Ein Schirm wäre hilfreich gewesen. 


Gleichzeitig musste er sich der Situation stellen. Jetzt. Womöglich gab es kurzfristig eine Entscheidung zu treffen. Die freie Stelle. Seine Chance zum Aufstieg. Bergmann konnte es schon spüren. Noch mehr Stress, noch mehr Verantwortung, aber auch mehr Geld und Ansehen. Wie viel konnte er tragen und wann war besser Schluss für ihn? 


Die Schultern hochgezogen erkannte Bergmann über den Brillenrand hinweg, dass Kollege Lücke unter dem Abdach stand und rauchte. War klar. Nicht mal zehn Minuten hatte man hier Ruhe. 


Und noch jemand stand dort. Bergmann kniff die Augen zusammen und erkannte Czerkowicz, ebenfalls in Rauch gehüllt. Seit wann ...? Hatte die Nachricht sogar diesen geölten Karrieremasturbanden getroffen? Dann wurde ihm bewusst, dass auch Czerkowicz sich für die Stelle interessieren könnte. Für ihn wäre sie kein Aufstieg, aber eine willkommene Abwechslung und ein Ausgangspunkt für weitere Karrierestufen. 

Bergmann rettete sich ins Trockene und fegte die Wasserperlen vom Jackett. Für Regenbeulen war der Anzug einfach zu teuer gewesen. 


»Eigentlich stehe ich ja nicht so auf materialermüdete Brüste«, sagte Lücke und wandte den Kopf. »Ach. Hallo Bergmann.« 


»Hallo Lücke. Czerkowicz ...« Bergmann deutete ein Nicken an. 


Czerkowicz erwiderte das Nicken und schwieg. 


»Wir sprechen gerade über ...« Lücke warf Bergmann einen bedeutungs­vollen Blick zu. 


»Natürlich«, antwortete Bergmann. Frauen. Unmerklich schüttelte er den Kopf und nahm den ersten Schluck Kaffee. 


»Aber sie hatte natürlich viel erotische Nutzfläche.« Lücke zwinkerte Czerkowicz zu. 


Bergmann verzog die Lippen. Er zündete sich eine Zigarette an und zog tief durch. Lücke war ein kaputter Typ. Vor seinem Absturz hatte der Kerl selbst einen derart kalorienkathedralen Wanst gehabt, dass sein Schwanz in der Sonne ein einsames Schattendasein führte. Seither war er ausgemergelt und bestimmt kein Aufreißer. 


»Und Frauen in ihrem Alter wollen es unbedingt, weil sie denken, es könnte das letzte Mal sein.« Lücke schnipste die Asche weg. »Da wäre ich ja gerne noch zum Zug gekommen. Aber leider ...« 


Schlagartig wurde Bergmann bewusst, um wen es ging. »Sagt mal, spinnt Ihr?« Sein Puls ging durch die Decke. »Sie ist noch nicht mal vierundzwanzig Stunden tot und Ihr redet über sie, als wäre sie Freiwild gewesen?« 


Czerkowicz nahm einen Zug und hielt den Atem an. 


Lücke zuckte die Schultern. »Reg dich ab, Bergmann. Ihr tut’s nicht mehr weh. Aber uns entgeht was.« 


Bergmann machte eine ungehaltene Bewegung und wieder schwappte der Kaffee aus dem Becher. »Ach Scheiße.« 


Für einen Augenblick schwiegen sie und zogen an ihren Zigaretten. 


Bergmann räusperte sich. »Was ist eigentlich passiert? Weiß das schon jemand?« 


»Angeblich mit Vollgas gegen einen Baum«, sagte Lücke. »Mehr Alkohol als Blut im Körper. Dafür kein Sicherheitsgurt. ‘n Freund von mir ist Chirurg in der Ambulanz. Sagte, es hätte ausgesehen, als wäre ein Panzer drüber gefahren.« 


Czerkowicz trat seinen Stummel aus und zündete sich die nächste Zigarette an. Lücke ließ die Kippe fallen und nahm auch noch eine. Der Regen pladderte vor sich hin. Autos zogen einen Nebel aus Gischt hinter sich her. 


»Oh Mann.« Bergmann seufzte. »Sie war so ein netter Mensch. Freundlich. Gut gelaunt. Ich glaube, alle mochten sie irgendwie. Wisst Ihr noch, wie sie den Bremen-3-Auftrag an Land gezogen hat? Sie hatte es drauf und saß so fest im Sattel. Ich hätte das nie von ihr gedacht.« 


»Ts«, machte Lücke. »Man muss sich ja nicht gleich umbringen. Sie hätte nur mal etwas sagen müssen.« 


»Was denn?« Czerkowicz‘ Stimme war leise und rau. 


Bergmann verkniff sich eine voreilige Antwort. 


»Was soll man in ihrer Situation sagen?«, fragte Czerkowicz. »In einem Unternehmen wie diesem? In einer Gesellschaft wie dieser?« Er sah erst Lücke, dann Bergmann an. »Mir geht’s nicht gut? Mir wächst der Job über den Kopf und mein Privatleben ist auch am Ende?« 


Bergmann spürte seine Eingeweide. »Klar, das geht nicht, nicht hier. Du kommst sofort auf die Streichliste, wenn du Schwäche zeigst.« 


»Und hinterher sind alle entsetzt.« Czerkowicz sah hilflos aus. »Tun so, als gäbe es unter Kollegen Raum für persönliche Befindlichkeiten, als hätte jeder Verständnis für ihre Sorgen aufgebracht, wenn sie nur etwas gesagt hätte. Aber Ihr wisst selbst, wie das läuft. Ist die Seele angeschlagen, will niemand mit dir zu tun haben. Deshalb schweigen Menschen wie sie und deshalb wird es wieder passieren. Es gibt keinen Ausweg aus solch einer Falle.« 


Bergmann sah ihn verwundert an. Czerkowicz hatte nur seine Karriere im Blick. Menschliche Regungen traute er ihm nicht zu. 


»Trotzdem.« Lücke blieb stur. »Dann sucht man Hilfe bei Freunden, in der Familie, geht zum Arzt. Oder lässt sich vögeln.« 


Czerkowicz atmete tief durch. Es klang gereizt. »Als wenn all das immer verfügbar, hilfreich und ausreichend wäre. Glaubt Ihr wirklich, dass wir die Hoheit über unser Leben haben? Dass es einem nie entgleiten kann?« 


Bergmann fixierte Czerkowicz. »Wieso nimmst du das ...?« 


»Ich hatte was mit ihr.« 


Bergmann starrte ihn an. 


»Was?« Lücke war perplex. »Du hast es mit meiner Chefin getrieben?« 


»Ist schon länger her. Es ging ihr nicht gut und es war nicht leicht mit ihr. Ich weiß also, wovon ich rede.« 


»Erzähl!« 


»Mensch, Lücke, jetzt ist aber gut.« Bergmann wandte sich an Czerkowicz: »Wie kommst du damit klar?« 


»Lücke ist mir völlig egal, soll er reden.« 


»Autsch.« Doch Lücke war nicht verletzt. 


»Heute sind alle geschockt«, meinte Czerkowicz. »Sie nehmen Anteil und wissen genau, dass es ihnen lästig gewesen wäre, solange sie noch da war. Wer hätte freiwillig Rücksicht auf eine verstörte Kollegin genommen? Der Vorstand etwa? Oder du, Lücke?« 

Lücke setzte zu einer Antwort an, doch Czerkowicz ließ ihn nicht. 


»Bereits morgen, spätestens übermorgen wird es heißen, dass sie ja schon ein bisschen merkwürdig war, irgendwie schräg und immer ein wenig abseits. Dann beginnt der Zersetzungsprozess. Mitgefühl hat eine kurze Halbwertzeit.« Czerkowicz zog an der Zigarette und atmete geräuschvoll aus. »Jetzt schaut mich nicht so an. Ich habe sie nicht geliebt. Es tut mir nur leid um sie.« 


Bergmann stellte fest, dass seine Zigarette ausgegangen war, und zündete sich eine neue an. Der Kaffee war nurmehr lauwarm, er setzte den Becher am Boden ab. 


»Was soll’s. Irgendwie stehen wir alle am Abgrund und werden gefickt.« Lücke blieb bissig. »Nur leider von hinten. Wir stehen mit dem Rücken zur Klippe. Sobald wir anfangen, uns zurückzuziehen, kann es ein Schritt zu viel sein.« 


»Für die meisten geht es zum Glück gut«, konterte Bergmann. 


Czerkowicz sah ihn spöttisch an. 


Bergmann war verwirrt. Er spürte selbst, wie nah er an die Klippe gedrängt wurde. Sogar Czerkowicz hatte den Abgrund gesehen, auch wenn es nicht sein eigener war. 


»So, Ihr Lemminge«, sagte Lücke. »Ich gehe wieder rein. Da wartet noch Arbeit auf mich.« Lücke schlug den Kragen hoch und zuckelte zurück ins Gebäude. 


Czerkowicz nickte Bergmann zu. »Du kannst ihren Job haben. Kein Interesse.« Dann schloss er sich Lücke an. 


Bergmann blieb zurück. Ein Mann zerrte einen Hund hinter sich her, ein Kind plärrte, irgendwo war ein Krankenwagen zu hören. 


Hatte es nichts zu bedeuten? War nur wichtig, dass man die Sonnenseite erwischte? Am Ende kam niemand lebend hier raus. Aber vielleicht fröhlicher. 


Das Handy summte. Bergmann sah auf das Display und sein Bauch schmerzte. Der Vorstand. »Bergmann?« Seine Stimme blieb fest. 


»Wo sind Sie, Bergmann? Sie verpassen unser Meeting.« Der Vorsitzende klang verärgert. »Der Vertrag wartet. Wir sind nicht zum Spaß hier.« 

Frösche

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»Nein, danke. Ich weiß, wie man hier ‘rauskommt.« 

Bergmann verstand den doppelten Sinn ihrer Aussage, blieb stehen und sah seiner Kollegin nach. Ihr hektischer Gang verriet, wie verletzt und aufgebracht sie war. Mit Recht. Für einen Augenblick bekam er Angst, sie könne etwas Unüberlegtes tun. Er hatte keine Lust darauf, am Abend einen langen Kratzer an seinem Wagen zu entdecken. Doch dann sah er ihren kugelrunden Bauch und beruhigte sich. 

»Sie ist schwanger.« Zwei Tage zuvor hatte er in der Chefetage gesessen. 

Die Aussage perlte am Vorstand ab. »Bergmann, unser Unternehmen hat nach wie vor eine kritische Größe. Es ist unabdingbar, dass wir eine schlanke, schlagkräftige Truppe bleiben. Da brauchen wir Vollzeitkräfte mit vollem Einsatz für unser Wachstum und keine halbtagstätigen Mütter, die mit einem Ohr bei den Kindern zuhause sind.« 

»Ich verstehe, was Sie meinen«, wandte Bergmann ein und spürte seinen inneren Widerstand. »Doch als Schwangere genießt sie einen besonders hohen Kündigungsschutz.« 


»Regeln Sie das.« 


Czerkowicz begleitete ihn zu dem Gespräch am späten Nachmittag. 


»Ich mach das«, sagte Bergmann. »Sie können sich ja im weiteren Verlauf einschalten, falls es zu juristischen Fragen kommt.« 


Czerkowicz nickte. 


Dann saß sie da, seine Mitarbeiterin. Er hatte sie selbst eingestellt und ihre Arbeit geschätzt. Sie war sichtlich verwundert, dass Czerkowicz ebenfalls am Tisch saß, und rutschte unruhig im Sessel hin und her. Bergmann ertappte sich dabei, dass er mit höflichem Geschwafel über ihre Schwangerschaft, ihren Mann und den Kauf einer Eigentumswohnung begann. Doch dann ließ sich der Augenblick der Wahrheit nicht mehr herauszögern, ohne dass Czerkowicz ihn spöttisch angesehen hätte. 


Das zurückliegende Wochenende war furchtbar gewesen. Bergmann hatte versucht, sich auf das Gespräch vorzubereiten. Einige Formulierungen hatte er sich zwar zurechtgelegt, doch seine Seele signalisierte, dass er in keiner Weise bereit war. Er hasste sich für das, was er tun musste. Ihm war, als verkaufte er seine Seele dem Vorstand, der ihn starr angesehen hatte wie die Schlange den Frosch. 


»Also. Worüber wir eigentlich mit dir sprechen wollten …« Bergmann war überrascht, wie fest seine Stimme klang. 


Seine Kollegin legte den Kopf leicht zur Seite und zeigte ein gewinnendes Lächeln. Nur ihre Finger spielten nervös weiter. 


»Du weißt ja, dass wir zwei Jahre hinter uns haben, in denen wir unsere Ziele nur teilweise erreicht haben. Wenn uns der Durchbruch in China nicht gelingt, werden wir längerfristig auf der Stelle treten.« 


Sie nickte. 


»Um zu gewährleisten, dass unser Unternehmen auf jeden Fall profitabel bleibt, müssen wir in jeder Hinsicht unsere Strukturkosten im Griff behalten.« 


Ihr Blick ging ins Leere, als versuchte sie, auf die Schnelle alle weiteren Schlüsse vorauszudenken. 


Jetzt. 


»Vor diesem Hintergrund haben wir uns entschlossen, das Arbeitsverhältnis mit dir zu beenden.« 


Das Lächeln blieb. Schwebezustand. 


Bergmann hatte es getan, er hatte es tatsächlich gesagt. Ihn durchlief es eiskalt. Das war also der Moment, in dem auch er zur Schlange mutierte und seinen ersten Frosch verschlang. 


Dann sank sie in sich zusammen. »Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.« 


»Es tut mir leid.« Bergmann meinte es aufrichtig und dennoch war jede weitere Aussage von ihm nun blanke Heuchelei. 


Ihr Mund verzog sich. »Einfach so?« 


Bergmann sah ihr in die Augen und schwieg. 


»Und es gibt keine andere Möglichkeit?« Für ein paar Sekunden kämpfte sie mit den Tränen, behielt sich aber unter Kontrolle. 


»Das Unternehmen hat sich für diesen Weg entschieden.« Bergmann hielt den Blickkontakt. 


»Ich meine, ich gehe sowieso bald in Mutterschutz und Elternzeit und komme danach nur in Teilzeit wieder.« 


Bergmann nickte. »Wir haben diese Kriterien berücksichtigt.« 


»Das wirft unsere ganze Finanzplanung über den Haufen.« Sie blinzelte. 


Bergmann biss sich auf die Lippe, andernfalls hätte er nur wieder »Tut mir leid« gesagt. 


»Warum ich? Warum nicht ein anderer aus dem Team?« 


»Wir brauchen auch weiterhin Leute, die hier jeden Tag Vollgas geben.« 


Sie versteifte sich. »Das ist ein bisschen frech, findest du nicht?« 


Im Augenwinkel sah Bergmann, dass Czerkowicz sich im Sessel aufrichtete und mit einer unschönen Auseinandersetzung rechnete. 


Sie beugte sich vor. »Du hast aber schon im Blick, dass ich schwanger bin und Ihr mir nicht einfach so kündigen dürft?« 


»Wir finden eine Lösung.« 


»Eine andere Lösung als Kündigung.« 


»Es tut mir leid. Ich habe da keinen Verhandlungsspielraum.« 


An diesem Punkt schaltete sich Czerkowicz ein und für Bergmann versank die kommende Viertelstunde im Nebel. 


Und jetzt eilte sie mit übergroßen Schritten dem Ausgang zu. Bergmann mochte sie und sie hätte ihren Weg im Unternehmen gemacht. Dummerweise war sie zum falschen Zeitpunkt schwanger geworden. Manchmal fragte er sich, warum Frauen um jeden Preis berufstätig sein wollten und wie die Rolle als Hausfrau und Mutter derart in Verruf geraten konnte. War das hier wirklich besser? 


Eine Bürotür öffnete sich. Kollege Lücke eilte mit der Zigarette im Mund auf den Ausgang zu, durch den die Kollegin gerade verschwand. 


»Na, Bergmann, wirklich großer Wurf!«, rief Lücke quer durchs Foyer. »Du bist Gesprächsthema Nr. 1. Hast es dir mit allen jungen Frauen verdorben. Gratuliere!« 


Bergmann atmete tief durch und beachtete ihn nicht. Czerkowicz würde jetzt dafür sorgen, dass seine Mitarbeiterin keinen unnötigen Lärm schlug und der Betriebsrat die Füße stillhielt. Wir sind eine große Familie und regeln auch solche Angelegenheiten unaufgeregt auf unsere Weise. Der Frosch wurde bereits verdaut und für den Augenblick war die Schlange satt. 

Hasen

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Fünfzehn Uhr. In einer Stunde wollte Bergmann den PC ausschalten und nach Hause fahren. Die Kernarbeitszeit von acht bis sechzehn Uhr gab den Rahmen vor, für wie lange er sich heute mit unterschwelliger Vorfreude in die Arbeit stürzte und ab wann er endlich den Abend einläuten konnte. Seine Frau und er hatten Karten für ein besonderes Konzert und da sollte alles möglichst perfekt sein und ohne Hektik laufen. 


Bergmann wandte sich dem Bremen-3-Vorgang zu, der nur zäh vorankam und allmählich nervte. Immerhin würde die Feasibility Study bis morgen Mittag vorliegen, er selbst war mit seinem Part gut vorangekommen und konnte den Rest morgen Vormittag erledigen, bevor ab zwölf Uhr die letzte Abstimmung erfolgte und das Gesamtpaket an den Vorstand ging. 


Eine E-Mail ploppte auf. Betreff »Bremen 3«. Absender Czerkowicz. Bergmann verdrehte die Augen und öffnete sie. 


»Hallo zusammen, dringende Änderung im Ablauf: Die Unterlagen für Bremen 3 müssen heute schon fertig gestellt und dem Vorstand übergeben werden. Wir treffen uns um 18:00 Uhr im großen Sitzungssaal. Es wird also wieder mal später.« 


Bergmann starrte auf die Nachricht, klickte auf »Antworten« und schrieb: »Hallo Czerkowicz, ist nicht dein Ernst. Muss um 4h weg.« 


Drei Minuten später kam die nächste Mail, wieder an den großen Verteiler: »Sorry Leute, es geht nicht anders. Anscheinend droht Ärger mit dem Umweltschutz und der Vorstand trifft morgen früh den Bürgermeister. Da müssen wir zeigen, dass wir an alles gedacht haben.« 


Bergmann verstand. Nicht nur er, sondern auch weitere Kolleginnen und Kollegen hatten sich beschwert. Wahrscheinlich brauchte der eine oder die andere noch dringend Zeit und hatte den Abend bereits eingeplant. Jetzt machte sich Panik in den Köpfen breit. 


Bergmann schüttelte den Kopf. Seine Frau würde ihm den Kopf abreißen, wenn er das Konzert ausfallen ließ. Beide freuten sich seit Tagen auf diesen Abend. 


Kurz darauf kam die nächste Nachricht an alle. »Es reicht, Leute. Der neue Terminplan für heute und morgen früh ist fix. Wir müssen jetzt zeigen, dass wir dieses Projekt wirklich wollen und können. Gebt Gas, dann sind wir um 20:00 Uhr durch.« 


Bergmann sah auf die Uhr. Fünfzehn Uhr dreißig. Zweieinhalb Stunden bis zur Abgabe und zur Konferenz. Das war machbar, wenn er sich jetzt richtig ranhielt und sich nicht mit den Details der Nebenschauplätze aufhielt. Danach zwei Stunden Meeting mit dem Vorstand, bei dem allerdings nichts schief gehen durfte, sonst saß er im Anschluss noch stundenlang an Nacharbeiten. 


Doch die Luft war raus, komplett. Gleich als erstes musste er seine Frau anrufen und absagen. Ihm graute vor dem Gespräch. Einmal mehr war es sein Job, der einen gemeinsamen Abend vermasselte und diesmal sogar das Konzert. Bei dem Gedanken begann sein Herz zu pochen. War er bereit, das hinzunehmen? Dass der Job sein Leben diktierte? Dass die Arbeit an seiner Ehe nagte? Dass er im Büro immer bis ans Limit ging? 


Ja. Es ging nicht anders. Er hatte einen Vertrag unterschrieben. Sollte er sich jetzt über die Anweisung hinwegsetzen, gäbe es morgen früh ein feines Wiedersehen in der Eingangshalle – der Vorstand auf dem Weg zum Bürgermeister, er selbst mit dem Karton unter dem Arm auf dem Weg zum Jobcenter und Czerkowicz auf dem Weg zu Bergmanns Nachfolger. 


Mit klammen Fingern drückte Bergmann die Telefontaste, die ihn direkt mit seiner Frau verband. 


»Hallo Schatz, schön, dass du noch anrufst.« Sie klang entspannt. »Wie läuft es denn?« 


»Hallo mein Liebling, nicht gut.« Bergmanns Stimme war unsicher. 


Ihre Tonlage verdüsterte sich sofort. »Was ist los? Sag nicht, dass etwas dazwischen kommt.« 


»Doch.« Bergmann rang nach Worten. »Der Vorstand hat den Terminplan für Bremen 3 abgekürzt. Die Konferenz findet gleich um sechs statt.« 


Für Sekunden herrschte Schweigen am anderen Ende. »Das kannst du nicht machen. Das Konzert ist …« 


»Ich weiß es doch«, unterbrach er sie. »Meinst du, mir passt das? Ich habe mich mindestens genauso wie du auf den Abend gefreut.« 


»Du sagst tatsächlich ab …«, murmelte sie. 


»Was soll ich denn machen?« Bergmann war verzweifelt, weil er wusste, dass sie jedes Recht hatte, um verärgert zu sein. 


»Ts, lass es einen deiner Jungs machen. Oder die Neue, die könnte mal zeigen, was sie drauf hat.« 


»Die haben alle ihren Teil erledigt. Jetzt muss ich noch mal ran.« 


»Klar, der Chef ist gefragt. Sehr wichtig. Das alte Spiel: Arbeit vor Liebe.« 


»Jetzt komm mir bitte nicht so!« 


»Ich bin so froh, dass ich meinen Job nicht für ein Kind auf halbe Tage reduziert habe. Da wären zwei oder irgendwann sogar drei Familienmitglieder ziemlich oft enttäuscht von dir gewesen.« 


»Das ist unfair. Du weißt doch gar nicht, wie das ist.« 


»Stimmt. Ich arbeite nämlich nicht für solch einen patriarchalischen Haufen, wie Ihr einer seid.« 


»Der zahlt aber gut, der Männerhaufen.« 


»Das hatte ich tatsächlich vergessen. Arbeit und Geld vor Liebe.« 


»Tu nicht so. Du warst doch auch irre stolz, als du Teamleiterin wurdest.« 


»Arbeit, Geld und Karriere vor Liebe«, sinnierte sie. »Nein, bei mir nicht. Hier ist man ein bisschen fortschrittlicher und legt Wert darauf, dass Arbeit und Privates im Gleichgewicht bleiben. Kompromisse beim Gehalt nehmen wir in Kauf. Das nennt man Lebensqualität. Auch im Job.« 


Bergmann zwang sich zur Ruhe. »Wie wäre es, wenn du schon mal allein vorgehst und ich komme nach?« 


»Hat noch nie geklappt.« 


»Herrgott! Ich muss mich jetzt wirklich ranhalten, sonst schaffe ich das nicht bis um sechs. Geh doch mit deiner Freundin, die war sowieso neidisch auf die Karten.« 


»Okay, mach ich.« Sie legte auf. 


Bergmann knallte den Hörer hin. 


Die Tür öffnete sich und Lücke sah neugierig um die Ecke. »Ah! Auch hier gibt‘s dicke Luft. Seit Czerkowicz‘ Mail herrscht überall Bombenstimmung.« 


»Zisch ab.« 


»Wer musste dran glauben?« Lücke warf sich in Denkerpose. »Fußball? Pokern? Kinder? Frau?« Lücke grinste schäbig. »Die Frau mal wieder.« 


Bergmann öffnete die Dokumentation am Bildschirm und rief sich zur Ordnung. »Ich hab‘ zu tun, wir seh’n uns.« 


»Klare Prioritäten. Der Vorstand darf alles mit dir machen und du denkst, dass du mit deiner Frau auch alles machen kannst. Aber Respekt: Dass du dich heute Abend nach Hause traust, ist nichts für Angsthasen.« 


Bergmann sah zu, wie Lücke leise die Tür schloss. Die Symbolik war unverkennbar. Seine Frau würde sich einen schönen Abend mit ihrer Freundin machen und ihn tagelang gleichgültig behandeln. Wie weit hatte sich ihre Tür schon geschlossen? Keine Ahnung, aber für Bremen 3 war es jetzt höchste Zeit. 

Sauropoden

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Fünf Uhr morgens.


Musik erfüllte den Raum. Mit verzaubernden Klängen löste das Smartphone Bergmann aus dem Tiefschlaf. Gnadenlos wischte seine Hand über das Display und schnippste das teure Teil quer durch den Raum. Er hörte, wie es über die Fliesen schlidderte. Immerhin. Einer war schon mal aufgestanden. Jetzt er. Mühsam schälte Bergmann sich aus der Decke, zerrte seine lahmen Gehhilfen über den Rand der Matratze und streckte sich, bis die Knochen knackten. Irgendwie schaffte er es bis zur Kaffeemaschine. Der Rest ging wie im Schlaf. Als das Gurgeln einsetzte und der betörende Duft durch den Raum zog, suchte er das Handy. Es lag unter dem Sofa. Die Versuchung war groß. Aber er beherrschte sich und warf stattdessen einen Blick auf den Messenger. War klar. Eine Nachricht des jungen Kollegen, einer dieser respektlosen Nachwuchskräfte, die keine Achtung vor dem Alter haben.


»Na? Schon wach?« Gähnend erinnerte Bergmann sich an das gestrige Gespräch. Um diese Tageszeit joggte der Jungspund bereits durch die Wälder. »Anschließend bist du fit für den Tag, egal was kommt«, behauptete er mit missionarischem Eifer. Bergmann nickte. Bergmann schüttelte den Kopf. »Du könntest auch mit dem Rad zur Arbeit kommen.« Bergmann nickte. Bergmann schüttelte den Kopf: »Das ist lieb gemeint, aber ...«


Die Botschaft kam trotzdem an. Bergmann musste mehr Sport treiben. Tat er aber nicht. Und damit passte er nicht mehr in diese Zeit.

Acht Uhr vormittags.


Bergmann saß in seinem Einzelbüro. Alle anderen auf diesem Flur standen an ihren Tischen. Die Rückkehr zu den Vorzügen des 19. Jahrhunderts. Wenn er mal länger als eine Stunde vor dem Bildschirm stand, bekam er Rückenschmerzen und begann mit absonderlichen Verrenkungen, bis er halbwegs auf dem Tisch lag. Ihm war bewusst, dass er hier mit Abstand der Älteste war. Sogar der Vorstand nuckelte noch am Fläschchen, als Bergmann längst zur Schule ging und sich auf eine Karriere in seinem Unternehmen vorbereitete. Bergmanns weiße Haarpracht veranlasste den Vorsitzenden einmal dazu, ihm freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen: »Beizeiten müssen wir auch an eine Nachfolgeregelung für Sie denken.« Bergmann klärte ihn darüber auf, dass die Firma noch weitere zwölf Jahre auf seine geschätzte Gegenwart zählen durfte. Der Vorstand kräuselte die Lippen.


Die Botschaft kam trotzdem an. Bergmann musste etwas an meinem Alter ändern – in die eine oder in die andere Richtung. Ganzkörperlifting, Egoimplantate und Seelenstraffung. Konnte er aber nicht. Und deshalb passte er nicht mehr in diese Zeit.

Acht Uhr fünf vormittags.


Bergmann schoss die Szene durch den Kopf, als er seinen Sohn von der Grundschule abholte. Gemeinsam mit einer Schulkameradin sprang der Lütte aus dem Gebäude und sie sagte: »Schau mal, dein Opa holt dich ab.« Noch verstörender war die Aussage eines Kleinkindes, das im Supermarkt auf ihn zeigte und laut rief: »Oma!« Die Mutter entschuldigte sich und sagte: »Sie hält jeden mit langen Haaren für eine Frau.« 

Bergmann sah sich auf dem Flur um. Die Jungs hier waren sämtlich frisch durchrasiert – wahrscheinlich bis zum Schritt – und brauchten eigentlich kein öliges Gel, um ihre Restfrisur gegen die Sturmböen des Erfolgs zu wappnen. Außer Bergmann trug auch niemand einen Bart, dafür aber alle dunkle Anzüge. Bergmann verstand das. Als Pimpf musste man mangelndes Standing durch eine Uniform wettmachen.


Die Botschaft kam trotzdem an. Bergmann musste seinen Style ändern – im Büro geschniegelt, im Privaten lässig. Wollte er aber nicht. Und somit passte er nicht mehr in diese Zeit.

Elf Uhr vormittags.


Czerkowicz schickte eine Mail und bot ihm eine Fortbildung an: »Komplexe Themen einfach kommunizieren«. Bergmann starrte auf den Bildschirm. Was, bitte schön, sollte ihm das sagen? »Lieber Herr Bergmann, wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie zu der herausgehobenen Klasse der Belegschaft zählen, denen wir schwer zu verstehende Sachverhalte anvertrauen.« Oder: »Verdammt noch mal, Bergmann, drücken Sie sich klar aus!«


Er hatte schon seit Jahren kein Seminar mehr besucht. Für das lebenslange Lernen sorgte ja die Schule des Lebens. Die jungen Kolleginnen und Kollegen aber waren ständig auf Fortbildung. Klar, die brauchten das noch. Er hingegen hatte in jahrzehntelangen Überdehnungsübungen seine schnelle Auffassungsgabe, eine nach allen Seiten poröse Offenheit für Neues und einen flotten Schritthalteschritt perfektioniert.


Die Botschaft kam trotzdem an. Das unerschöpfliche Potenzial von TikTok, LinkedIn und PowerPoint erforderte ein Upgrade seiner Arbeitsweise, um die nächste #ExpandYourServility-Challenge zu überstehen. Interessierte ihn aber nicht. Und damit passte er nicht mehr in diese Zeit.

Zwölf Uhr mittags.


Bergmann stand in der Schlange am Buffet der Kantine. Die Frauen entschieden sich für einen Salat, die Männer für das vegetarische Menü und die Jungs aus der IT für Currywurst und Pommes. Damit war klar, mit wem er heute die Mittagspause teilen würde. Ihm fiel auf, dass er der Einzige war, der nicht nur ein Tablett, sondern auch einen Bauch vor sich herschob. Nach Abklingen der Schrecksekunde hob er sein greises Haupt und schaute stolz in die Runde. Man musste die Blicke der Menschen vom Makel ablenken.


Die Botschaft kam trotzdem an. Er musste seine Ernährung umstellen. Mochte er aber nicht und sein quasi embryonaler Heißhunger auf Falafel hatte es nie bis zur Zellteilung geschafft. Und deshalb passte er nicht mehr in diese Zeit.

Sechzehn Uhr dreißig nachmittags.


Mit einem Bekannten aus dem Kulturdezernat traf sich Bergmann im Café, um eine Veranstaltung zu besprechen. »Zigarettchen im Auto geraucht?«, fragte sein Gegenüber und Bergmann hielt die Luft an. Nutzte aber nichts. Die Tür öffnete sich und ein junges Pärchen giggelte herein. »Uäh, Rauchercafé.« Und schon waren sie wieder draußen. Die Bedienung schenkte ihm einen vernichtenden Blick. Bergmann nippte an seinem Cappuccino ohne Hafermilch und lächelte. »Sehr lecker.«


Die Botschaft kam trotzdem an. Bergmann musste seine Süchte in den Griff bekommen. Nikotin, Koffein, Sex, Currywurst. Schaffte er aber nicht, wer wollte schon ernsthaft auf Currywurst verzichten. Und darum passte er nicht mehr in diese Zeit.

Zwanzig Uhr abends.


Bergmann und eine alte Freundin trafen sich zum Videochat. Er erzählte ihr von seinem mental herausfordernden Tag.


»Wo immer du kannst, stemmst du dich gegen die Welt«, meinte sie entnervt.


Bergmann murmelte etwas von Individualität.


»Nix da, du bist ein einziger Energiestau, da fließt überhaupt nichts mehr.« 


Unwillkürlich blickte Bergmann auf seinen gut isolierten Bauch.


»Du müsstest dringend an dir arbeiten und deine Defizite angehen.«


Bergmann verwies auf seine fortgeschrittene biologische Uhr.


Ließ sie nicht gelten: »Du willst doch nicht den Rest deines Lebens auf der Stelle treten.«


Treten klang gut.


»Menschen, die sich nicht mehr weiterentwickeln, verkümmern und altern schnell.«


Dann war es für ihn ohnehin zu spät.


»Quatsch. Es steckt so viel Potenzial in dir, das freigesetzt werden will.«


Bergmann erinnerte sie an frühere Jahrhunderte, in denen Menschen seines Alters meist schon tot waren. Und er sollte sich weiterhin tagtäglich umkrempeln. Wofür?


»Vielleicht läuft es dann in deiner Ehe endlich besser.«


Na toll, er musste erst ein anderer Mensch werden, um liebenswert zu sein.


»Nein, du sollst du selbst werden.«


Dann fragte sich, wer er heute war.


»Auf halbem Weg stehengeblieben.«


Ah, immerhin. Das Glas war halbvoll.


»Erst wenn du dich selbst liebst, kannst du auch andere lieben.«


Mit Schaudern dachte Bergmann an all jene selbstverliebten DIY-Gurus, die sich und anderen das Leben schwer machten.


Aber die Botschaft kam trotzdem an. Er sollte sich perfektionieren. War ihm aber zu mühsam. Diese Zeit passte einfach nicht zu ihm.

Zwölf Uhr nachts.


Bergmann konnte nicht schlafen. Die Last des Unvollkommenen lag schwer auf seiner Seele. In vergangenen Zeiten ging es darum, irgendwie die eigene Existenz zu sichern, um nicht zu verhungern. Der widerborstige Gegenpart war die ungerechte Welt. In den letzten Jahrzehnten ging es darum, Wohlstand anzuhäufen. Der widerborstige Gegenpart waren die Grenzen der eigenen Möglichkeiten. Und heute ging es um Selbstoptimierung, gekleidet in das eng anliegende Korsett eines bewussten Lebensstils. Die Menschen um ihn herum brauchten offenbar irgendeine Aufgabe, um ihr Dasein mit Sinn zu erfüllen und das hartnäckige Gefühl von Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit zu bekämpfen. Der widerborstige Gegenpart war nun er selbst. 

Die Botschaft kam an. Er war ein Dinosaurier, ein tonnenschwerer Sauropode, vom Aussterben bedroht und ohne Artenschutz. Es war ihm aber gleichgültig. Und deshalb passte er nicht mehr in diese Zeit.

episode

was bleibt. nichts bei vielen. wenig bei einigen. viel bei einzelnen. der mensch ist episode. 

kündigung, trennung, umzug, tod. eher üble nachrede denn wohlwollen. ist man erst einmal weg, zersetzt sich die erinnerung. 

und heute. vorzeitig gleichgültigkeit entwickeln. nach dem abgang darf ich egal sein.



präzise

wenn hoffnung stirbt
bleibt mensch
er geht zuletzt

bedeutung

nichts im leben, nichts in dieser welt, nichts im universum ist aus sich von bedeutung. alles unterliegt zeit und raum, materie und instinkt, den gesetzen der natur.

 

bedeutung wird gegeben, empfangen. bedeutung überwindet das selbst, gibt sich hin. bedeutung beseelt, wer und was ist. 

 

bedeutung fordert, schmerzt. bedeutung wird geliehen, genommen, bleibt einseitig. unterscheiden hindert leid, wer und was, wem etwas bedeutet.

 
bedeutung ist groß, sie umfängt. vergewisserung ist gut, wem diese welt etwas bedeutet, wissen tut gut, für wen das universum von bedeutung ist. 

sieben

wenn es stimmt

dass wir über sieben brücken gehen

und sieben mal die asche sind

um einmal der helle schein zu sein

dann stimmt etwas nicht

mit dem preisleistungsverhältnis


heute?

gestern war heute noch
morgen ist heute schon

gestern war heute noch
morgen ist heute schon  

gestern war heute noch
morgen ist heute schon 
... 

2015-2017

Wellenschlag

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Die Welle rollt an. Sie reckt sich, prahlt mit ihrer Wucht. Bedrohlich hoch schlägt sie lässig gegen die Bordwand. Das marode Boot erzittert, knirscht. Gischt sprüht über das Deck, auf dem wir zu Dutzenden kauern. Die vor Angst geweiteten Augen, die aufgerissenen Münder, sie alle schreien dieselbe Botschaft in die brüllende Nacht hinaus: »Helft!«

Der Sturm ist laut, man hört sie nicht. Das völlig überladene Boot, rostig und alt und nicht auf die hohe See ausgelegt, schlingert. Ich versuche Halt zu finden und kann nur versuchen, mich an meinem Nachbarn festzukrallen. Einen festen Griff hat allein die Angst. Es geht um mein Leben.


Und es ging immer um mein Leben. Ihr wisst nichts von meinem Dasein, das trostloser nicht sein konnte. Nein, wir sitzen nicht alle im selben Boot.


Ich musste einfach dort weg. Dabei hatte man mich gewarnt. Die Überfahrt sei gefährlich, ein gutes Geschäft für die, die nicht einsteigen mussten, viele Schiffe seien gesunken, unzählige Menschen hätten den Tod gefunden. Ich schob die Warnungen beiseite. Es war genug Unglück über mich gekommen, nun wollte ich auf einer Welle des Glücks reiten.


»Helft!«


Eine Woge peitscht über uns hinweg, mächtig, tyrannisch, vernichtend. Wassermassen erfassen Flüchtlinge, die nicht entfliehen können, manch einer wird gleich ins tosende Meer gerissen und für immer verschlungen. 


Die nächste Welle, gigantisch, zerstörerisch, tödlich, spült meinen Nachbar über Bord. Er reißt mich mit. Ich stürze ins Meer und versinke. Panisch trete ich nach ihm, damit er loslässt, kämpfe mich frei, dränge an die Oberfläche zurück, ringe um Luft, sehe Wellen, Wellen, Wellen, aber kein Boot, kein Land, keine Erlösung. Es ertränkt mich. In den wenigen Augenblicken über Wasser schnappe ich nach Luft, suche Rettung, und jede Faser meines Körpers, jeder Gedanke schreit euch zu: »Helft!«


Dann schlägt das Wasser über mir zusammen und gibt mich nicht wieder frei. Ich atme ein, meine Lunge füllt sich mit eisigem, brennendem Nass. Das ist das Ende. Und ich überlasse dem Sturm meine Not, mein Schicksal, kapere seine Stimme: »Helft!« Ihr Wellen, unnachgiebig und grausam, tragt meinen Hilferuf an die Küste.


Meine Sinne schwinden, ich werde Teil des Meeres, bin eine Welle, sehe den Strand schon vor mir.


Die Sonne scheint, eine wohltuende Brise weht vom Meer ins Landesinnere. Männer und Frauen lieben ihr Leben. Kinder spielen am Strand. Sie bauen Burgen, Burgen aus Sand mit Mauern gegen die Wellen, die über das Meer kommen. Eltern zeigen ihren Kindern, wie die Mauern stark werden, wie sie möglichst lange der aufkommenden Flut standhalten.


Der Wellenschlag meiner Not zieht auf die Küste zu.


Er grollt im Sturm.


Er rollt im aufklarenden Wetter.


Er tollt malerisch in der Flut der Gezeiten.


Und wenn der Wellenschlag auf die Küste trifft, ist seine Kraft längst gebro­chen, platscht er harmlos auf die kindlichen Mauern am Strand, versandet.


Und irgendwo weit draußen auf dem Meer zieht die Marine eine Leiche an Bord.

Herbst

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Das Wetter war herrlich. Der Sommer legte sich noch einmal ins Zeug, prahlte mit Sonnenschein, angenehm warmen Temperaturen und einer milden Brise. Dass die ersten Blätter verblassten und die Tage schon deutlich kürzer geworden waren, störte nicht. 

Schröder schlenderte durch den Stadtpark und atmete die Luft ein, die nach Freiheit schmeckte. Für ihn zumindest. Er fragte sich, wonach sie für all die anderen Menschen schmeckte, die ebenfalls hier unterwegs waren. 

Stets zum späten Vormittag füllte sich der Park. Er selbst war auf dem Weg ins Café. Dort traf er sich mit Dorothee, einer sehr geschätzten Freundin aus Studienzeiten. Es war schön, dass es auch in seinem Alter eine Art von Liebe gab, die das Leben bereicherte. Da verlor der Gehstock den Beigeschmack von Krücke, wurde wieder zum Accessoire. 

Wohin die anderen wollten, konnte er nur erahnen. Bald würden die jungen Geschäftsleute in ihren dunklen Anzügen auftauchen und zu den Imbisswagen am gegenüberliegenden Ende des Parks eilen. Mütter mit Kinderwagen waren bereits jetzt auf dem Heimweg, um das Mittagessen vorzubereiten. Da vorne ging – wie erwartet und wohltuend verlässlich – der alte Westenberg, mit dem war Schröder zur Grundschule gegangen. Sie grüßten sich immer noch, tauschten hin und wieder ein paar Höflichkeiten aus, mehr nicht. Ihre Biografien waren in unterschiedlichen Bahnen verlaufen. Westenbergs Schulabschluss hatte zu einem bescheidenen Leben geführt, er war der kleine Mann geblieben, ein Stammwähler der SPD. Schröder selbst war bis zur Pension Studienrat gewesen, Konrektor eines Gymnasiums, das einst in einem der besseren Stadtteile gelegen hatte und nun genauso verfiel wie das Bildungsniveau der Schüler. 

Ihm kam ein Obdachloser entgegen, der sein vollbepacktes Fahrrad tunlichst auf Nebenwege lenkte, um nicht allzu vielen Menschen zu begegnen. Eine Gruppe Männer mit eindeutig afrikanischer Herkunft unterhielt sich lautstark auf Französisch, sicher Asylanten. Dazwischen ein Gewusel aus Kindern, Studenten, Erwachsenen, Säufern, Touristen, Müllmännern, schrägen Typen, Müßiggängern. Und Senioren wie er. 

Der Park war ein Abbild der Stadt, ein Abbild der Gesellschaft. Und der Park steuerte auf den Herbst zu. 

Schröder seufzte. Für ihn hatte der Herbst des Lebens längst begonnen. Geboren in den letzten Monaten des Krieges, hatte er nur wenige undeutliche Erinnerungen an die schweren Jahre danach. Er war im Wirtschaftswunder groß geworden, geprägt durch das Gefühl, dass es immer weiter aufwärtsging. Als Heranwachsender hatte sich seine Identitätsfindung zwischen Miles Davis und Elvis Presley aufgerieben. Und er war noch jung genug gewesen, um die 68er Jahre als weiteren wichtigen Wendepunkt in der innerdeutschen Geschichte zu begreifen und die Vorteile der Antibabypille auszukosten. 


Jetzt war er ein rüstiger Rentner, innerlich und äußerlich beweglich, und genoss einen Lebensabend, der vermutlich die absolute Spitze dessen war, was die deutsche Rentenkasse jemals würden aufbieten können. 


Auch seine Tochter und ihr Mann konnten es noch einigermaßen gut treffen, wenn sie eines Tages in den Ruhestand traten. Aber sein Enkel? Hineingeboren in den anbrechenden Herbst einer Gesellschaft. Welche Zukunft erwartete ihn? Schröder blieb stehen. Gestern noch hatte er mit David telefoniert. 


Er spürte einen Stich im Herzen, denn er wusste, die Enkelgeneration würde es schwer haben. Die Probleme waren schon heute präsent und vielen bewusst, wurden jedoch nicht mit Ernst angegangen. Der Leidensdruck war noch nicht groß genug, das Land genoss den gesellschaftlichen Sommer. Nur wenige Blätter zeigten Spuren von Welke und konnten leichthin übersehen werden. Sein Enkel würde es ausbaden müssen. 


Spätestens wenn David mitten im Berufsleben und in der Blüte seines Lebens stand, wenn die Welt mit ihren Möglichkeiten lockte, würden die Sozialsysteme kollabieren. In Deutschland und woanders auch. Zu viele Alte für zu wenige Junge. Zu viele Kranke für zu wenige Gesunde. Zu viele Opfer der Industrie 4.0 für zu wenige Geldverdiener. Den damit verbundenen Sprengstoff mochte sich Schröder nicht ausmalen. Mit Blick auf sein eigenes politisches Engagement fragte er sich, ob die Parteien im Bundestag den Frieden wirklich mehr liebten als gute Wahlergebnisse. 


Die Europäische Union bröckelte bereits. Großbritannien stieg aus, der Unmut anderer Mitgliedsstaaten wuchs, die zwar den europäischen Goldesel schätzten, nicht aber ein System aus Frieden und Freiheit, Solidarität und Toleranz aufbauen, tragen und verteidigen wollten. Schröder fragte sich, ob er seinen Schülern mit genügend Nachdruck vermittelt hatte, was für ein großartiges, unverzichtbares Projekt diese Staatengemeinschaft war. 


Und dann der religiöse Terrorismus. Der Islam zerfleischte sich selbst und exportierte seinen Unfrieden hierher. Linke, rechte und organisierte Kriminalität bekam man schon nicht in den Griff. Und dies hier war weitaus furchtbarer. Europa wurde schleichend, Bombe um Bombe, zermürbt. Schröder war gewiss, dass der Westen erst am Anfang einer Entwicklung stand, die den Grundfesten des in Jahrhunderten gewachsenen Selbstverständnisses massiv zusetzen würde. Und die Religionsgemeinschaften taten nicht genug, um einen Gegenpol zu schaffen. Jetzt war die Zeit, um allen deutlich zu machen, dass auch der Friede, der aus dem Glauben kam, einen Wert bildete, von dem die Gesellschaft profitierte und auf den sie nicht verzichten konnte. 


Nicht zuletzt angesichts der vielen Flüchtlinge. Und das war erst der Anfang. Der Anfang einer Völkerwanderung. Eine Völkerwanderung der Hungrigen, der Durstigen, der Hoffnungslosen, der Verstümmelten, der Aidskranken, der Kriegsmüden, der Terrorismusgeschädigten, der Klimawandelentwurzelten. Es kam ein Stein ins Rollen, der als Lawine über Europa enden würde. 


In nur wenigen Jahrzehnten, wenn David ein gestandener Mann war, würde ein Winter über ihn und alle anderen hereinbrechen und Europa im Chaos versinken. 


Liebte diese Gesellschaft den Frieden und tat sie alles dafür, um ihn zu erhalten? Langfristig, für die eigenen Kinder und Enkel, für sich selbst. Oder schätzte sie den Frieden nicht, weil sie den Krieg nicht kannte? Vielleicht wiegte sie sich in einer falschen Sicherheit, weil sie die Zerbrechlichkeit dieser Welt nicht durchschaute. Konnte Frieden als solcher überhaupt erkannt und geliebt werden, wenn man sein Gegenteil nicht ermaß? 


Gedankenverloren ging Schröder weiter, stützte sich schwer auf seinen Stock, grüßte Westenberg mit einem halbherzig-freundlichen Nicken. 


Womöglich war das Ganze noch komplizierter. Mit einem Mal war er sich nicht mehr sicher, ob Europa wirklich ein Problem hatte, das erschreckende Ausmaße annehmen würde. Es mochte ebenso gut sein, dass einfach nur der Herbst dieser Gesellschaft bevorstand. Schröder hoffte inständig, dass es ein Problem war, denn gegen Probleme konnte etwas unternommen werden. Gegen den Herbst aber konnte niemand etwas tun. 


Der Blick in die Geschichtsbücher seiner Schulklassen hatte ihn gelehrt, dass es ein ständiges Auf und Ab, ein Werden und Vergehen gab. Nichts war von Ewigkeit. Es war vielleicht von Dauer, mal mehr, mal weniger, aber eines Tages verging alles. Auch Europa würde vergehen und etwas Neues würde entstehen. Die ganze Weltordnung würde eines Tages eine andere sein. Daran war nichts zu ändern. Schröder fröstelte es mit einem Mal, denn der Weg zum Neuen, zu einer neuen stabilen Ordnung, zum neuen Guten, dieser Weg war stets mit dunklen, schrecklichen Zeiten verbunden. 


Deshalb würde er darauf pochen, dass es noch nicht so weit war. Dass Europas Herbst noch nicht bevorstand, sondern nur eine regnerisch-kühle Phase im Sommer. Europa hatte ein Problem, mehr nicht, aber auch nicht weniger. Er würde mit Dorothee darüber sprechen. Und er freute sich darauf, mit ihr gemeinsam ein Thesenpapier zu verfassen, ganz im Stil der 68er, und sie würden es als Leserbrief an die Tageszeitung schicken, sie würden es in den Gesprächskreis ihrer Kirchengemeinde einbringen, und er persönlich würde es bei der nächsten Kreistagssitzung auf die Tagesordnung schmuggeln. 


Es gab immer Möglichkeiten, die richtigen Fragen zu stellen. Lieben wir den Frieden in dieser Stadt, in diesem Land, in Europa? Was wollen wir heute dafür tun, dass er auch morgen und übermorgen noch hält? Denn so unterschiedlich die Menschen im Park auch waren, so fremd sie sich vermutlich für immer blieben, sie konnten immerhin nebeneinander her leben. Das war nicht das Paradies, aber für einen Frieden war es schon sehr liebenswert. 

Der Koran im Supermarkt 

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»Hast du schon gehört, was im Supermarkt los war?«


Nein, das hatte ich natürlich nicht. Ich kam gerade aus Köln zurück. Der Geschäftstermin war zeitiger zu Ende gegangen als erwartet und ich hatte mir die Zeit genommen, ein Straßencafé in der City zu besuchen und in Ruhe Kaffee zu trinken. Die Vielfalt der Menschen dort war faszinierend. Seither hing ich der Frage nach, wie viele verschiedene Sprachen ich in der kurzen Zeit gehört hatte.


Daheim in der Provinz aber war etwas im Supermarkt passiert. Ich spürte, wie aufgebracht meine Frau war.


»Was gab es denn?«, fragte ich.


»Regina erzählte es mir«, begann meine Frau. »Eine Bekannte war einkaufen und stand in der Schlange an der Kasse. Vor ihr hatte eine andere Frau bereits ihre Einkäufe auf das Band gelegt. Da kam ein Ausländer, schob sich an den Wartenden vorbei und drängelte sich vor die Frau, die eigentlich als nächstes dran war. So ein Dunkelhäutiger in diesen komischen Klamotten und mit schwarzem Vollbart. Der legte seine Sachen einfach dahin, als wäre er schon an der Reihe.«


Ich wurde unruhig. Solche Geschichten gingen nicht gut aus.


»Was fällt Ihnen ein!«, beschwerte sich die Frau hinter dem fremden Mann.


Auch unter den wartenden Kunden setzte ein unwilliges Getuschel ein.


»Schweig, Frau!«, fuhr er sie an und wandte sich der Kassiererin zu.


Und tatsächlich hörte das Gemurmel auf.


Die Kassiererin rutschte sichtlich nervös auf ihrem Stuhl hin und her. »Na ja«, sagte sie zögernd. »Sie müssten sich schon hinten anstellen.«


»Bin ich Muslim«, sagte der Mann mit einem drohenden Unterton.


Sichtlich irritiert sah die Kassiererin ihn an. »Aber das gibt Ihnen hier nicht das Recht …«


Da schob der Mann langsam seine Hand in die Jacke, und für einen Augenblick herrschte tödliche Stille. Er zog ein Buch aus der Innentasche und knallte es auf das Band. »Der Koran« prangte in goldenen Lettern auf dem Einband. »Bin ich Muslim, bin ich also zuerst dran.«


Der Widerstand versiegte und die Kassiererin rechnete seine Waren ab.


»Das ist doch unglaublich, oder?«, fragte meine Frau.


Ich war fassungslos und spürte Wut in mir aufsteigen. Das Vorgehen des Mannes im Supermarkt war eine unverschämte Dreistigkeit. Ich fragte: »Und Regina war dabei?«


Meine Frau verdrehte die Augen. »Du hörst auch nicht zu. Regina hat es von einer Bekannten und die kennt die Frau, die da in der Schlange stand.«


Ich horchte auf und erwiderte etwas vorschnell: »Das Ganze klingt aber schon wie ein Gerücht.«


Dafür fing ich mir einen bösen Blick ein. »Wenn das hier die Zukunft ist … Dann können sie die allesamt wieder nach Hause schicken.« Grollend ließ mich meine Frau stehen.


In den Stunden danach ging mir die Geschichte nicht aus dem Kopf. Und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wuchs der Verdacht, dass dies tatsächlich kein Gerücht war, das sich über mehrere Instanzen aufgebauscht hatte. Der dunkelhäutige Muslim mit Vollbart – wie die TV-Ikone des typisch radikalen Muslims. Die in der Jacke verschwindende Hand – als Inbegriff des islamistischen Terroristen, der seine Waffe zückt. Der Koran in der Westentasche – als Symbol der aggressiven Macht, die das Abendland verschlingt. Und demgegenüber die arme deutsche Hausfrau – bei einer alltäglichen Handlung gedemütigt und unterworfen.


Nein, das war zu perfekt für ein Gerücht, es klang nach einer Inszenierung, einer gut durchdachten Lügengeschichte, gezielt gestreut, um Ängste und Hass zu schüren. In den Tagen darauf wartete ich, welche Kreise die Geschichte zog. Ob die Lokalpresse sie aufgriff. Ob meiner Frau irgendwelche weiteren Entwicklungen zu Ohren kamen. Ob der Mann erneut im Supermarkt auftrat, womöglich einen Nachschlag gab. Oder ob die Geschichte auch an ganz anderen Stellen auftauchte. Nichts davon passierte. 


Und deshalb kenne ich die Wahrheit nicht. Aber dass ich die Geschichte auch nach zwei Jahren nicht vergessen habe, zeigt, dass sie ihr Ziel erreicht hat.

Veröffentlichung

Novelle, Roman & Lesebuch

»Der Jeschua-Schrein«, Alternate-History-Novelle

Burgenweltverlag, Bremen

2015

ISBN 978-3-943531-32-9

 

»olo«, Science-Fiction-Novelle

Pseudonym: Robert Gilbers

Eridanus-Verlag, Bremen

2015

ISBN 978-3-946348-06-1

 

»Chrodigildis«, Mittelalterliche Krimi-Novelle

Burgenweltverlag, Bremen

2013

ISBN 978-3-943531-05-3

 

»Mondpräsidentin«, Science-Fiction-Novelle

Textlustverlag, Ettlingen

2012

ISBN 978-3-943295-47-4

 

»Metathesis«, Thriller

Candela-Verlag, Korb

2011

ISBN 978-3-942635-21-9

 

»Die 111 schönsten biblischen Namen«; Lesebuch

Quell-Verlag, Gütersloh

2000

ISBN 978-3-579-03360-3

Anthologie

»Moorgezeiten«, Anthologie mit Kurzgeschichten, Betrachtungen und Lyrik

Herausgebende: Dirk Röse in Zusammenarbeit mit dem Emsland Moormuseum

Geest-Verlag, Vechta

2016

ISBN 978-3-86685-560-1

»frag-lich-t-e-mo-mente«, Erzählband mit Kurzgeschichten und Lyrik

Geest-Verlag, Vechta

2014

ISBN 978-3-86685-460-4

 

»Richter der Nacht«, Anthologie mit mittelalterlichen Kurz-Krimis

Herausgebende: Jana Hoffhenke, Dirk Röse, Juliane Stadler

Burgenweltverlag, Bremen

2013

ISBN 978-3943531046

Kurzgeschichte

»Olafs Drache«

Kurzgeschichte in der Anthologie »Drachenreiten und andere Geschichten«

Herausgebende: Inge Witzlau, Alfred Büngen

Geest-Verlag, Vechta

2020

ISBN 978-3-86685-781-0

 

»Herbst«, Kurzgeschichte in der Anthologie »Und noch immer willst du nicht verweilen«

Herausgeber: Alfred Büngen, Olaf Bröcker

Geest-Verlag, Vechta

2018

ISBN 978-3-86685-710-0

 

»Hamster«, Kurzgeschichte in der Anthologie »Untertan«

Herausgeber: Reinhard Rakow

Geest-Verlag, Vechta

2015

ISBN 978-3-86685-528-1

 

»Z.Z. Voss«, Kurzgeschichte in der Anthologie »Den Worten die Hand hingehalten«

Herausgeber: Olaf Bröcker

Plaggenborg-Verlag, Vechta

2014

ISBN 978-3-929358-90-2

 

»Wieso läuft eigentlich das Meer nicht über?« & »Wieso muss ich nachts schlafen und nicht tagsüber?« Kurzgeschichten in der Anthologie »Wir Kinder aus dem Brigachtal«

Herausgeberin: Grundschule Brigachtal

Geest-Verlag, Vechta

2014

ISBN 978-3-86685-474-1

 

»Ijjenejwa«, Kurzgeschichte in der Anthologie »Und niemand glaubt an mich«

Herausgeberin: Ellen Roemer

Geest-Verlag, Vechta

2014 

ISBN 978-3-86685-480-2

 

»Raubritter«, Kurzgeschichte in der Anthologie »Trotz alledem«

Herausgeber: Reinhard Rakow

Geest-Verlag, Vechta

2013 

ISBN 978-3-86685-434-5

 

»Heute. Morgen. Für immer.«, Kurzgeschichte in der Anthologie »Der Lärm verstummt ...«

Herausgeberin: Ellen Roemer

Geest-Verlag, Vechta

2012 

ISBN 978-3-86685-376-8

 

»Night-Flight to the Stars«, Kurzgeschichte in der Anthologie »Grotesk!«

Herausgeber: Jan-Eike Hornauer

Candela-Verlag, Korb

2011 

ISBN 978-3-942635-22-6

 

»Im Schatten«, Kurzgeschichte in der Anthologie »Winterreise«

Herausgeber: Reinhard Rakow

Geest-Verlag, Vechta

2011

ISBN 978-3-86685-317-1

 

»Der Jeshua-Schrein«, Novelle in der Anthologie »Burgenbrand«

Herausgeberin: Jana Hoffhenke

Burgenweltverlag, Bremen

2011

ISBN 978-3-943531-00-8

 

»Der Prophet«, Kurzgeschichte in der Anthologie »So ein Mensch«

Herausgeberin: Ellen Roemer

Geest-Verlag, Vechta

2010

ISBN 978-3-86685-269-3

 

»Purgatorium«, Kurzgeschichte in der Anthologie »Hinterland«

Herausgeberin: Karla Schmidt

Wurdack-Verlag, Nittendorf

2010 

ISBN 978-3-938065-69-3 

Sachbeitrag

»Hybrid Substrates«

Beitrag in »Peatlands International 1/2021«

Herausgebende: International Peatland Society

https://peatlands.org/

2021


»Nachhaltigkeit als Unternehmensstrategie für die Torf- und Substratbranche«

Beitrag in der »TELMA Band 45«

Herausgebende: Volkmar Rowinsky & Volker Schweikle

Selbstverlag der DGMT, Hannover

2015

ISSN 0340 4927

 

»Wir verkaufen keine Substrate, wir verkaufen Sicherheit« & »Nachhaltig in eine gemeinsame Zukunft«

Beiträge in der Chronik »Von den Heseper Torfwerken zur Klasmann-Deilmann GmbH«

Herausgeber: Dr. Michael Haverkamp unter Mitarbeit von Dieter Ostendorf

Rasch-Verlag, Bramsche

2013

ISBN 978-3-89946-201-2

 

»Konfirmandenunterricht für Erwachsene« in Zusammenarbeit mit Pastor Dieter Grimmsmann

Bände 2.1 & 2.2 der Reihe »Gemeindearbeit mit Aussiedlern«

Herausgebende: Ostkirchen- und Aussiedlerarbeit in der ev.-luth. Landeskirche Hannover

Druckerei des Landeskirchenamtes, Hannover

1997

Außerdem Nachhaltigkeitsberichte, Geschäftsberichte, Pressemitteilungen, Produktinformationen, Positionspapiere, interne Kommunikation